Vorwort für die Taschenbuchausgabe
Als ich die erste Auflage dieses Buches zur Digitalen Ethik in 2018 schrieb, skizzierte ich im ersten Kapitel eine Grafik mit einer Fortschritts- und einer Rückschrittskurve. Ich argumentierte, dass wenn wir nicht die Kurve nach oben kriegen und mehr gesellschaftlichen Wert durch unsere Technologien schaffen, uns die Digitalisierung überrennt und sich nachteilig auf die Gesellschaft auswirkt. Die Entwicklungen in den letzten drei Jahren lassen noch nicht vollständig erahnen, welche Richtung die Fortschrittskurve nimmt. Aber nach meiner Sicht der Dinge haben beide Entwicklungsrichtungen an Fahrt aufgenommen.
Wenn ich mit der positiven Fortschrittskurve beginne, dann möchte ich in den Raum stellen, dass unsere Ökonomien aufgrund der Corona-Krise ohne die digitale Infrastruktur und ohne digitale Arbeitsausweichmöglichkeiten ins Homeoffice weltweit kollabiert wären. Das hätte zumindest mit einer nicht geringen Wahrscheinlichkeit passieren können. Da aber sowohl die Finanzmärkte als auch die globalen Wertschöpfungsketten und weite Teile der Fertigung automatisiert sind, war es nicht so schlimm, dass Leute eine Weile nicht physisch am Arbeitsplatz präsent sein konnten. Die Maschinen laufen weiter; auch ohne uns. Man male sich aus, was sonst passiert wäre: Die Finanzmarkttrader wären zu Hause geblieben, und keiner hätte sich mehr um die Anlagen gekümmert. Schüler und Studenten wären tatsächlich für jetzt knapp ein Jahr gar nicht mehr in die Schule oder Universität gegangen. Die Kleinen hätten vollkommen frei gehabt! Aber die Erwachsenen hätten auch kein Geld mehr am Laptop im Wohnzimmer verdienen können. Wir hätten vor der Wahl gestanden, entweder sehr viel höhere Corona-Todeszahlen zu akzeptieren oder einen Zusammenbruch zu erleben, wie ihn sich die heutigen Generationen der westlich/nördlichen Hemisphäre nicht mehr vorstellen können. Davor hat uns die robuste digitale Infrastruktur bewahrt. Werte wie Gesundheit, Versorgung und relative Stabilität, der enge internationale Austausch zwischen Forschern zur Bereitstellung von Impfstoffen, der schnelle Zugang zu Information, die stetige Kommunikation über das Internet mit Freunden und Verwandten, all das konnte Dank der Digitalisierung geschützt werden. Hinzu kommt, dass sehr viele Menschen, wie z.B. Lehrer, die vorher noch nie das Internet zu Lehr- oder Informationszwecken genutzt haben, sich dieses Wissen zwangsläufig aneignen mussten. Darauf sind viele jetzt stolz. Die Anzahl an qualitativ hochwertigeren Lehrstoffangeboten im Internet hat zugenommen. Ganz wichtig auch: Der wahnwitzige Grad an internationaler Mobilität mit dem Flugzeug konnte zugunsten der Umwelt zurückgefahren werden. Es besteht Hoffnung, dass in Zukunft die Umwelt ebenso wie die eigene Gesundheit profitiert, wenn wir nicht mehr für jedes Meeting in ein Auto oder Flugzeug steigen, sondern uns stattdessen digital zuschalten. Selbst als Digitalisierungsskeptiker muss man also zugeben, dass diese Infrastruktur ihre Vorteile hat. Vielleicht ist sie ein unsichtbarer Stützpfeiler dafür, dass sich viele Bürger – zumindest in den europäischen Ländern – während der Corona-Zeit sogar zufriedener gefühlt haben als vorher. Diese Erkenntnis ist durch internationale Zufriedenheitsstudien belegt.
Ich betone, dass die wachsende Zufriedenheit in europäischen Ländern beobachtet wurde, weil ich mir nicht ausmalen mag, wie es für mich gewesen wäre, diese Zeit in asiatischen Ländern wie China zu verbringen. Dort wurde die Corona-Krise laut Berichten dazu genutzt, die ohnehin schon ungeheure digitale Überwachungsinfrastruktur weiter auszubauen. Viele asiatische Regierungen haben begonnen, die Mobiltelefone ihrer Bürger per Satellit zu verfolgen, und wer sich einmal außerhalb des erlaubten Radius von der eigenen Wohnung bewegt hat, also den unsichtbaren digitalen Überwachungszaun übertreten hat, der bekam es mit der Polizei zu tun. Digital erhielten die Bürger Zeiten zugeteilt, wann sie einkaufen dürfen. Das digitale Medium wurde also geradezu zur Fußfessel ausgebaut. Für einen freiheitsliebenden Europäer eine grauenhafte Vorstellung, die jede orwellsche Schreckensvision in den Schatten stellt.
Aber auch der Westen blieb nicht untätig, was den Ausbau der Negativpotenziale des Digitalen angeht. So hat seit meiner Arbeit an der ersten Auflage dieses Buches 2018 der Überwachungskapitalismus weiter an Fahrt aufgenommen – die westliche Variante des digitalen Machtmissbrauchs. Die Idee, dass persönliche Daten das »Öl der Digitalökonomie« seien und kaum ein Start-up Kapital bekommt, das hierbei nicht mitmacht, hat sich trotz der europäischen Datenschutzgrundverordnung verschärft. Online-User müssen täglich »Unverträge« unterschreiben, um Services nutzen zu können. Unternehmen argumentieren, dass es legitim sei, im großen Stil von Usern persönliche Daten abzugreifen, weil sie sonst im Überwachungskapitalismus geschäftlich nicht mitmischen können.
Viele gute Ideen, die in der europäischen Datenschutzgrundverordnung angedacht waren, wie etwa Privacy by Design oder Datenportabilität, wurden nie umgesetzt, sondern verzögert oder ignoriert. Die wenigsten europäischen oder amerikanischen Firmen haben die Chance genutzt, bessere Technik zu bauen. Und wenn in Deutschland und Österreich tatsächlich von den Regierungen ein vorbildliches Privacy by Design für die Corona-App vorgelebt wurde, dann wurde dieser Aufwand in den Medien, oft aufgrund der blanken Unwissenheit eines zunehmend gekauften und ausgelaugten Journalismus, schlecht geredet. Für alles, was digital nicht funktioniert, wird der Datenschutz als Sündenbock angeführt, um eine Stimmung gegen das Gute und Richtige zu schaffen, die es den unbestechlichen unter den Experten immer schwerer macht, eine faire und freiheitsfördernde Technikgestaltung zu vertreten.
Hinzu kommt die stärker werdende Strömung des Transhumanismus, diese »Ideologie der Lieblosigkeit«, die ich in meinem 5. Kapitel beschreibe. Ich konnte die letzten Jahre nutzen, um mich sehr viel tiefer in die Kognitionswissenschaften und Phänomenologie einzuarbeiten. Und je besser ich den Menschen dadurch verstehen gelernt habe mit seiner permanenten (gar nicht so autonomen!) Eingebundenheit in die Umwelt; gebettet in ein Leibgedächtnis, das mit den Wertqualitäten in seiner Umwelt »resonieren« muss, um gedeihen zu können, desto problematischer finde ich die Transhumanisten, die ein veraltetes Computer-ähnliches Modell vom Menschen haben. Allerdings hat der Transhumanismus durch das Geld der IT-Industrie so viel Macht und Möglichkeiten, dass seine Lobbymaschinerie und die Gehirnwäsche-Universitäten florieren und viele junge Leute und Berufspolitiker mangels besseren Wissens auf den Unsinn hereinfallen.
Interessant ist, dass im Angesicht dieser problematischen Technikgläubigkeit bei Politikern, Jugendlichen und einigen Investoren bei einer breiteren Bevölkerung gleichzeitig eine urtümliche Massenweisheit einzusetzen scheint. Eine Weisheit, die im englischen Sprachraum als »Wisdom of the Crowds« bezeichnet wird. Ohne zu wissen warum, finden viele die Technikentwicklung nicht mehr ganz so sexy wie noch vor drei Jahren. Es scheint, als bekomme die Gruppe der Fortschrittskeptiker Zulauf. Allerding in einer Form, die auch wiederum ein Extrem ist, was sich nicht nur in der Sabotage von 5G-Netzinfrastruktur zeigt, sondern auch in weit verbreiteten Fake-News zu einer »geheimen Agenda« der Technikkonzerne und Regierungen, die uns angeblich mit neuen Geheimtechniken zu versklaven suchen. Die aberwitzigste Geschichte, die mir in diesem Zusammenhang über den Weg gelaufen ist, war die, dass Regierungen im Rahmen von Covid-Tests der Bevölkerung 5G-Chips in die Nase setzen würden, um sie dann aus der Distanz zu manipulieren.
Man mag über solche Geschichten herzlich lachen. Aber dass sie zirkulieren und von nicht wenigen Menschen ernst genommen werden, weist auf einen unterschwelligen Trend hin: die Entmystifizierung der bisher schier unantastbaren Technikfortschrittssaga, die unsere Gesellschaft so lange beseelt hat. Gleichzeitig sind die Geschichten aber auch so absurd, dass sie vom tatsächlich Bösen ablenken, das sich tagtäglich in den sozialen Netzwerken präsentiert. Hier wird unter dem Mantra einer nicht verstandenen Freiheit auf die eigene Meinung ein immer größerer Hass und Neid in maschinell durchperfektionierten Echo-Kammern ausgelebt. Und Fortschrittsgegner können dabei genauso hasserfüllt sein wie die Fortschrittsverfechter. Wobei beide Gruppen in den Fängen des Netzes verstrickt sind und gar nicht merken, dass sie durch ihre vielen Onlinestunden längst zu Borgs geworden und als ausgelaugte Identitäten zum Spielball des Netzes mutiert sind – was sie nicht nur zu Hetze und Überkonsum zu treiben vermag, sondern auch zu den Wahlurnen und Straßenprotesten.
Nach wie vor gibt es aus meiner Sicht nur einen Weg, um aus der Negativdigitalisierung herauszukommen. Er besteht darin, den digitalen Geschäftsmodellen und technischen Innovationen eine positive und ethisch angeleitete Wertorientierung mitzugeben; und zwar genau so, wie ich es 2019 in der ersten Auflage dieses Buches beschrieben habe. Mittlerweile konnte ich mit mehreren Unternehmen die in Kapitel 2 beschriebene wertethische Methode durchspielen, und immer wieder wurde ich darin bestätigt, dass sie funktioniert und es möglich ist, Firmen mit einer Digitalagenda zu versehen, die für Mitarbeiter, Kunden und Gesellschaft positiv ist, sofern man bereit ist, die Kapitalrendite hintanzustellen und auf ein positives Menschenbild zu vertrauen. Ja ich konnte die Methode sogar mit dem größten Ingenieursverband der Erde IEEE standardisieren. Im IEEE 7000 Standard, der jetzt 2021...