Das Digitalexperiment: Ein Blick in die Zukunft
Warum hören wir nicht einfach auf, uns selbst mit den Smartphones auf den Geist zu gehen? Weil das nicht so einfach ist. Entgegen unserer persönlichen Wahrnehmung ist unser exzessives Nutzungsverhalten nämlich in den wenigsten Fällen eine absichtliche Entscheidung. Die Strukturen der Interaktion und die Algorithmen, auf denen die meisten Apps basieren, sprechen bei uns unterbewusste Automatismen an, die uns instinktiv zu einer Handlung verleiten.
Um zu verstehen, was mit uns geschieht, und um unser Verhalten zu unseren Gunsten zu verändern und dem Digitalen Burnout zu entgehen, müssen wir die Mechanismen durchschauen, die in der digitalen Welt auf uns einwirken.
Und zwar jetzt. Die Smartphones sind nur eine Momentaufnahme der technischen Möglichkeiten und ein Vorgeschmack auf die Zukunft der Digitalisierung. Sie sind die ersten Geräte, die Kommunikation jederzeit und an jedem Ort möglich machen, die die Grenzen zwischen Arbeit und Privatleben aufheben und die das unendliche Warenregal und Unterhaltungsangebot des Internets permanent verfügbar machen. Ihre Nachfolger stehen bereits in den Startlöchern: Wearables wie Datenbrillen und Smartwatches sollen uns noch enger mit dem Internet verbinden. Sie werden unsere Aufmerksamkeit noch stärker an sich binden und weiter fragmentieren.
Was das konkret für unser Leben, unsere Gesundheit und unsere Freiheit bedeuten wird, können wir derzeit noch nicht einmal ansatzweise abschätzen. Sicher ist nur, dass wir vor einer Zeit dramatischer Umbrüche stehen, in denen der technische Wandel unser Leben völlig verändern wird. Und das mit rasanter Geschwindigkeit.
Wie Alvin Toffler bereits in den Siebzigerjahren in seinem Buch Der Zukunftsschock beschrieb, hat die Computerevolution einen ständigen, rapiden Wandel mit sich gebracht. Dem Mooreschen Gesetz zufolge, einer Faustformel, die vom Intel-Mitbegründer Gordon Moore geprägt wurde, verdoppelt sich die Rechenleistung unserer Computer etwa alle 18 Monate – bei sinkenden Kosten. Das führt zu einem exponentiellen Wachstum und einem rasanten technischen Fortschritt, der unsere Welt in immer kürzeren Intervallen verändert.
Denken Sie zum Beispiel daran, wie sich die Art verändert hat, wie wir Musik hören – vor allem, in welchem Abstand die jeweiligen Neuerungen aufgetreten sind: Zwischen der Markteinführung von Grammophon und Schallplatte 1889 und der Verbreitung ihres Nachfolgermediums, der Kompaktkassette in den Fünfzigern, vergingen ganze sechzig Jahre. Bis in den Achtzigerjahren dann die Compact Disc ihren Siegeszug antrat, dauerte es nur noch die Hälfte der Zeit, nämlich rund dreißig Jahre. Ihre Ablösung durch die ersten MP3-Player und Musikdownloads fand bereits gute 15 Jahre später statt, Mitte der Neunziger – wobei die meisten Nutzer sich in den Anfangsjahren noch bei illegalen Plattformen wie Napster bedienten. Keine fünf Jahre später machte dann die Kombination aus iPod und iTunes den MP3-Markt endgültig zum Massengeschäft – das allerdings wiederum gerade mal fünf Jahre später von Streamingangeboten wie Spotify wieder in Frage gestellt wird.
Ähnliche Beobachtungen können Sie zum Beispiel im Bereich Film (Video, DVD, Blu-ray, Download, Stream) oder in der Fotografie (Filmrolle und Entwicklung im Labor, Digicam und Print-on-Demand, Handyfotos und Fotostreams) machen. Und natürlich bei Smartphones – die nach ersten, wenig alltagstauglichen Gehversuchen inzwischen die Rechenleistung von Supercomputern aus den Siebziger- oder Achtzigerjahren übertreffen.
Jede dieser Entwicklungen betrifft für sich genommen lediglich einen Teilbereich unseres täglichen Lebens. Doch viele dieser Prozesse treten parallel auf und beschleunigen sich ebenfalls parallel. So wird es immer schwieriger, mit dem raschen Wandel mitzuhalten. Da sich unser Umfeld alle fünf Jahre verändert, müssen wir in kurzen Zeiträumen immer wieder völlig neue Erfahrungen sammeln und Kulturtechniken entwickeln, um uns in der sich wandelnden Welt zu bewegen und mit ihren Möglichkeiten umzugehen. Das setzt uns unter Leistungsdruck und gibt uns das Gefühl, nie den Anforderungen gerecht zu werden.
Wir befinden uns mitten in einem gesamtgesellschaftlichen Experiment mit offenem Ausgang – und wir müssen dringend diskutieren, wie wir in Zukunft leben wollen. Am Beispiel der Smartphones können wir nicht nur überlegen, wie wir uns aktuell vor dem Digitalen Burnout schützen, sondern auch, wie wir in Zukunft negative Nebenwirkungen der technischen Entwicklung verhindern.
Im ersten Teil des Buches geht es deshalb darum, welche unbewussten Prozesse dazu führen, dass wir unser Smartphone öfter einschalten, als uns eigentlich lieb ist. Warum lassen wir zu, dass wir ständig in unserer Aufmerksamkeit und unserer Produktivität gestört werden – und warum üben Handys überhaupt eine so große Anziehungskraft auf uns aus?
Wichtig ist zu sehen, welches Suchtpotenzial Smartphones haben und wie sie uns langfristig krank machen, wie sie unsere Wahrnehmung, unsere Entscheidungen und unser Denken beeinflussen. Ist es zum Beispiel gut, dass wir mit ihnen jede Lücke unseres Tages füllen können – ob an der Bushaltestelle oder im Wartezimmer? Im Grunde haben wir mit den neuen Handys die Langeweile völlig aus unserem Leben verbannt. Aber ist dies wahrhaft wünschenswert, oder erfüllt diese vielleicht einen Zweck?
Zudem wird es darum gehen, wie eine völlig neue Ökonomie um unsere Aufmerksamkeit entstanden ist – und wie Hardwarehersteller und Softwareentwickler gezielt Schwächen in unserem angeborenen Verhalten und in unseren Instinkten ausnutzen, um uns an ihre Produkte zu binden.
Der zweite Teil des Buches dreht sich darum, wie wir des Problems Herr werden könnten. Immerhin spüren viele Menschen unterbewusst, dass etwas nicht stimmt, und suchen nach Lösungen. Diese sehen bisweilen sehr unterschiedlich aus, weil wir meinen, nichts zu haben, an dem wir uns orientieren können. Dabei ist der Prozess, den wir durchmachen, kein neuartiger. Um dies zu demonstrieren, gehen wir zurück in die Zeit der industriellen Revolution, die viele Parallelen zur digitalen Revolution aufweist, und schauen uns an, was wir aus den Fehlern der Vergangenheit lernen können.
Welche Lösung auch für einen selbst in Frage kommen mag, eins ist wohl unbestritten: Der Handykonsum darf nicht unser Leben bestimmen. Die Zahl derer, die dieses Problem erkannt haben, wächst. Als der New Yorker Radiosender WNYC 2014 die Serie Bored and Brilliant startete, eine Smartphone-Diät in sechs Lektionen, konnte sich die Redaktion vor Anfragen kaum retten. Binnen weniger Tage schrieben sich über 18500 Teilnehmer aus den USA und anderen Ländern für das Projekt ein. Aus demselben Grund ist »Digital Detox«, eine digitale Entgiftungskur, bei der man freiwillig auf sein Smartphone und die ständige Verbindung zum Netz verzichtet, im Silicon Valley das Schlagwort der Stunde – die Frage ist nicht mehr, was wir noch alles mit unserem Smartphone anstellen können, sondern ob weniger nicht vielleicht mehr ist. Ein Trend, der längst auch Deutschland erreicht hat. In einer Umfrage von YouGov gaben bereits 13 Prozent der Befragten an, dass sie in der Fastenzeit freiwillig eine Handyabstinenz einlegen – was damit noch beliebter ist als der freiwillige Verzicht auf Fernsehen oder Sex.
Eine andere Chance liegt darin, die Geräte zukünftig stärker dem Leistungs- und Fassungsvermögen ihrer Nutzer anzupassen. Was sollten also die Handys der nächsten Generation können, um uns das Leben wirklich zu erleichtern? Die Frage wäre dann nicht mehr, welche Auflösung die neue eingebaute Kamera hat, wie viel interner Speicher zur Verfügung steht oder ob das Gerät auch noch mit dem Adapter des Vorgängers aufgeladen werden kann. Wesentlicher wäre dann zum Beispiel, ob das Smartphone den Nutzer dabei unterstützt, sich auf seine Aufgaben zu konzentrieren, und ihn vor ungebetenen Unterbrechungen schützt.
Letztlich ist das gesellschaftliche Problem auch eines der Unternehmen: Etliche Firmen arbeiten mit viel Energie an Lösungen, um die Effizienz ihrer Mitarbeiter wieder zu steigern – und es scheint, sie stochern dabei im Dunkeln. Manche Firmen nehmen ihre Angestellten an die kurze Leine und verbieten zum Beispiel die Beantwortung von E-Mails nach Dienstschluss, andere wiederum lassen ihrem Personal völlig freie Hand, wann und wo es arbeiten und kommunizieren will. Zwei Extreme – aber wer hat recht? Wichtig ist hier vor allem die Frage: Worauf sollten Unternehmen ihren Blick noch lenken, wenn sie für die Zukunft der Digitalisierung gerüstet sein wollen?
Vor der größten Herausforderung stehen allerdings in jeder Hinsicht unsere Kinder. Wir erleben schon jetzt eine Generation, die den Zustand offline nicht mehr kennt. Dabei sollten wir uns nicht der Illusion hingeben, dass sie als »Digital Natives«, also als Menschen, die mit allerlei digitalen Geräten aufwachsen, gut für die Zukunft gerüstet seien. Da sich unser technisches Umfeld alle paar Jahre komplett verändert und erneuert – man denke allein daran, dass es auch die Smartphones erst seit wenigen Jahren gibt –, sind ihre heutigen Erfahrungen schon in wenigen Jahren nichts mehr wert. Es gibt also keine »digitalen Ureinwohner«. Ist hier eine ganze Generation geschlossen auf dem Weg in den Digitalen Burnout? Wie sehen adäquate Schulkonzepte aus, wie sollten wir als Eltern und Lehrer unsere Kinder auf die Tücken der neuen...