Wohlstandszipperlein
Der Kunde war wie ein hungriger Fuchs«, erzählt Michael. »Er ging in einen Hühnerstall und riss, was er nur kriegen konnte. Viel mehr, als er jemals essen konnte.«
Mir kamen die Bilder vom Kampf um die Bananen in den Sinn, als Deutschland wiedervereinigt wurde. Die ausverkauften Gebrauchtwagenhändler, die auf ihren leeren Parkplätzen standen, während im Konvoi unsere alten Pkws den Checkpoint Charlie gen Osten passierten. Aber: Diese Menschen waren wirklich hungrig. Nach fast 40 Jahren Planwirtschaft musste sich der «Wir hatten ja nichts«-Zustand zwangsläufig in konzentriertem Konsum niederschlagen. In unserer westlichen Konsumlandschaft hingegen hatten wir vieles im Übermaß und eines nie: Hunger.
Ich erinnere mich an meinen Großvater. Er vermittelte mir einst sehr eindringlich die Sache mit dem Hunger. Er verlangte stets akribisch, dass ich meinen Teller leer esse, dass ich Lebensmittel durch Verspeisen und einem vorhergehenden »Vaterunser« wertschätze. Nicht weil es uns an Nahrungsmitteln mangelte, sondern weil das Essen wertvoll ist. Weil ein Stück Rauchfleisch Handwerk ist, das man wertschätzen muss. Bis zum letzten Krümel.
Einige Jahre später saß ich auf der Rücksitzbank des uralten, beigen Golf II. Meine Großeltern fuhren mich nach Hause zu meinen Eltern, und mir fiel ein, dass mein Magen gleich knurren könnte. Dies tat ich lautstark kund und fing an zu quengeln. Mein Opa versuchte sich auf den Straßenverkehr zu konzentrieren, was aufgrund meiner Jammer- und Mauldezibel sich nicht einfach gestaltete.
»Opa, ich hab soooo Hunger!«, jammerte ich immer wieder. Mein Großvater hielt eine ganze Weile stoisch das Lenkrad in der Hand und konzentrierte sich voll und ganz auf das Verkehrsgeschehen. Und ich nörgelte und maulte. Kinder können das gut – und ich scheine Meister darin gewesen zu sein. Auf einmal riss mein Großvater wie wild die Handbremse an, hielt am Seitenstreifen, löste mit Schwung den Sicherheitsgurt, stieg aus und öffnete die Tür auf meiner Seite. Er beugte sich hastig zu mir herunter, so dass kein Platt Papier mehr zwischen uns passte.
»Du. Hast. Keinen. Hunger!«, schrie er mir ins Gesicht. Ich erschrak, sagte aber kein Wort. Er sprach lautstark und aufgebracht weiter: »Wenn du überhaupt etwas hast, dann ist es Appetit. Der vergeht – und jetzt still!« Sagte es, setze sich in aller Ruhe wieder ans Steuer und fuhr weiter, als wäre nichts gewesen. Mit diesem Moment verstand ich, was mein Großvater mir sagen wollte. Seine Generation hatte Hunger gelitten. Diesen Hunger vergisst man nie. Meine Generation kannte keine Not, keinen Hunger, sie hatte gerade mal Appetit.
»Siehst du«, sagt Michael. »Dein Opa war ein richtiger Wirtschaftsweiser. Es ist für uns im Handel nicht einfach, Appetit aufrechtzuerhalten! Und schon gar nicht, wenn wir in den Bereichen Preis, Vielfalt und Verfügbarkeit bereits alles ausgereizt haben.«
Überspitzt formuliert könnte man auch behaupten, dass irgendwann der Kunde schlicht überfressen ist, das Völlegefühl drückt ihn. Aber: Völlegefühl ist gleichzeitig das neue positive Stichwort für den Handel! Die Stunde der laktosefreien Milchprodukte und der glutenfreien Kost hat geschlagen.
Sieht man heute in das Brotregal, erweckt es den Eindruck, halb Deutschland leide unter Zöliakie. Derweil sind es die wenigsten, die eine ernste Erkrankung haben, ein Großteil greift zu den Spezialprodukten, weil sie glauben, dass Gluten nicht mehr gut für sie ist. Ohne jemals einen Arzt konsultiert zu haben. Die Werbung von Hersteller und Handel, die in dem neuen Wohlstandszipperlein das nächste Wachstumspotenzial sehen, reicht.
Dasselbe Bild zeichnet sich bei Laktoseintoleranz ab. Unzählige Produkte »laktosefrei« füllen die Regale. In China, wo nahezu jeder diese Unverträglichkeit vorweist (rund 94 Prozent aller Chinesen), wäre dies verständlich. In Deutschland mit geschätzt 15 Prozent laktoseintoleranten Kunden wird dieses Produktsegment zum Verkaufsschlager. Man zelebriert den Verzicht von tierischer Milch dank Soja- und Reisderivaten, Mandel und Dinkel. Und trinkt richtig Asche in die Kassen von Hersteller und Handel. Laktoseintoleranz ist cool. Für die Wirtschaft. Und nur für die Wirtschaft.
Auf der ANUGA 2015 (Nahrungs- und Genussmittelmesse) waren die am schnellsten wachsenden »Frei von«-Marketingtreiber schnell ausgemacht: »laktosefrei«, »glutenfrei«, »eifrei«. Über Geschmack war auf keinem der Werbeplakate etwas zu lesen.
Mangel im Überfluss
Sieht man heute in manche Regalreihen von Supermärkten und Discountern, könnte man sich ebenso gut in einer Apotheke wähnen. Nahrungsergänzungsmittel, so weit das Auge reicht. Vitaminkomplexe für die Frau, 14 Spurenelemente für ihn, die Zwei-Wochen-Vitalkur, Pillen, Tropfen und Pulverchen in enormen Mengen.
Für die grundlegende Entwicklung dieses neuen Sortiments musste die Wirtschaft nichts weiter tun, als agieren wie bisher: immer mehr und immer billiger produzieren und verkaufen. Der gesunde Menschenverstand reicht aus, um zu erkennen, dass die Qualität der Produkte auf Dauer darunter nur leiden kann.
In meiner Branche, der textilen, wurden aus hochwertigen T-Shirts, die nach jahrelangem Tragen noch mindestens ebenso lange als »guter Putzlumpen« ihren Dienst verrichteten, Einmal-wasch-und-weg-Fetzen. Diese Entwicklung ist alles andere als wertschätzend für die Rohstoffe, die in den Kleidungsstücken verwendet werden. Sie ist auch nicht die richtige Strategie, um anzuerkennen, dass das Kleidungsstück von vielen Händen hergestellt wurde. Nijranjan, der Chef der Kooperative in Tansania, die für mich die Biobaumwolle erzeugt, erklärte mir eines Abends bei einem eisgekühlten Serengeti-Bier die Tragik unseres westlichen Konsums, während ich lautstark über meine Rückenschmerzen vom Baumwollpflücken jammerte: »We have to learn again to respect other peoples sweat!«, wir müssen wieder lernen, den Schweiß der anderen zu respektieren.
Wieso aber sollten wir Konsumenten, von Industrie und Handel zum Massenwaren-Schnäppchenjäger ausgebildet, uns darüber Gedanken machen? Schweiß kennen wir in der westlichen Welt nur noch, wenn wir uns abends im Fitnessstudio abstrampeln. Oder beim Griff in den Geldbeutel, wenn uns Produkte »viel zu teuer« erscheinen, wir sie dennoch unbedingt haben müssen.
Ganz anders ist die Situation, wenn es ums Essen und Trinken geht. Denn: Es werden immer mehr Lebensmittel produziert. Zum einen ist dies, ganz nüchtern betrachtet, der wachsenden Weltbevölkerung geschuldet. Dabei aber ist überraschend, dass »die Nachfrage nach Nahrung schneller wächst als die Weltbevölkerung«, stellt Stephen Emott in seinem Buch »10 Milliarden« fest. Er schreibt dies dem wachsenden Wohlstand der Welt zugute.
Zum anderen konsumieren wir in den Industrienationen einfach mehr. Viel mehr. Was soll man bei der Vielfalt und den Preisen auch anderes machen? Fressen ist zur Freizeitbeschäftigung Nummer eins geworden. Durch die fortschreitende industrielle Erzeugung unserer Lebensmittel und die dauernd geforderte Preisreduktion seitens des Handels ist nicht nur der Stellenwert eines Lebensmittels verlorengegangen. Auch der Nährwert blieb in weiten Teilen auf der Strecke. Vergleicht man den Vitamin- und Mineralienhaushalt von konventionellem Obst und Gemüse anno 1985 (Quelle: Geigy, Schweiz) und 1996 (Quelle: Lebensmittellabor Karlsruhe/Sanatorium Oberthal), zeigt es deutlich, was alleine zehn Jahre zu schnelles Wachstum und damit verbundene ausgelaugte Böden, aber auch die zu lange Lagerung von Lebensmitteln aus einem einst »gesunden« Gemüse macht: eine hohle Nummer.
Brokkoli hat in dieser Dekade rund 68 Prozent an Kalziumgehalt eingebüßt, Kartoffeln gar 70 Prozent. Erdbeeren verloren über die Jahre knapp 70 Prozent an Magnesium und fast 60 Prozent an Vitamin C. Dieser enorme Verlust an Mineralien und Vitaminen wird selbstverständlich nicht seitens Erzeuger und Handel kommuniziert, dafür aber sofort, wenn sich der Fettgehalt oder der Brennwert, die Kalorien, verringert haben.
Dennoch ist der Schwund wertvoller Spurenelemente, Mineralstoffe und Vitamine gegeben. »Erkläre das mal einem Kind, dass es heute vier Teller Brokkoli essen muss, um den Nährwert von Mamis Kindheit zu bekommen!«, witzelte meine Freundin Agnes. Mir war nicht nach Witzen. Diese Entwicklung ist alles andere als eine Freude für mich. Ganz im Gegenteil zur Industrie. Denn für sie könnte es besser nicht laufen.
Ein völlig neuer Markt entstand ohne Anstrengung. Ohne dass in Marketingabteilungen die Köpfe rauchten. Es war absolut ausreichend, den Apothekerblättchen und Gesundheitsfibeln, Frauenmagazinen und Familienzeitungen diese furchtbaren Zustände zuzuspielen, wenn sie nicht selbst bereits auf das »Thema« gestoßen waren. Sofort liefen die Produktionsstraßen für Nahrungsergänzungsmittel auf Hochtouren, und Regale wurden freigeräumt für das neue Sortiment. Einige wenige Kunden beäugten diese Entwicklung kritisch und kehrten der konventionellen Produktpalette den Rücken: zurück zur Natur, zurück zu hochwertigen, reichhaltigen Erzeugnissen, hin zu bio. Der Großteil der Konsumenten aber kauft Pillen und Tröpfchen. Und Pulver und Päckchen. Mittlerweile greift jeder dritte Bundesbürger zumindest gelegentlich zu Nahrungsergänzungsmitteln. Ein einträgliches Geschäft für Drogeriediscountmärkte, Supermärkte und Apotheken.
Fairerweise muss man hier erwähnen, dass nicht nur Konsumenten zu sogenannten NEM-Produkten greifen, die damit...