Einleitung
Als ich meinen zweiten Fortbildungskurs zur Diagnostik und zur Behandlung von komplextraumatisierten/dissoziativen Kindern und Jugendlichen vorbereitete (der von der ISSTD gesponsert wird), dachte ich mir: »Wunderbar, wir verdoppeln die Anzahl der Kindertherapeuten in British Columbia, Kanada, die auf dissoziative Kinder spezialisiert sind.« Mein zweiter Gedanke war: »Wie armselig – wir kommen von 15 auf 30.« Mittlerweile sind wir bei 60 und in einem weiteren Jahr vielleicht bei 90, und das ist immer noch armselig. Das sind 90 von weit über 1000 Therapeuten in einem kleinen Teil Kanadas. Der Fortbildungskurs wurde 2009 in Schweden, den Niederlanden, England, den USA und Kanada angeboten, eine spannende Entwicklung. Andere Fortbildungskurse werden in so verschiedenen Ländern wie Argentinien, Südafrika, Irland, Neuseeland und Estland angeboten. Trotzdem beläuft sich die Anzahl der Kinder- und Jugendtherapeuten, die auf Trauma und Dissoziation spezialisiert sind, nach wie vor auf Hunderte, während es vermutlich Hunderttausende Therapeuten gibt, die mit traumatisierten und dissoziativen Kindern und Jugendlichen arbeiten. Ich dachte mir, es muss einen Weg geben, wie man Therapeuten erreichen kann, die keine tagelangen Workshops besuchen können. Die gebräuchlichste Methode, um Wissen zu verbreiten, sind Bücher und heute auch das Internet. Ich musste wieder an die Kurse denken, die ich abhielt: Die Therapeuten hatten mit Abstand am häufigsten rückgemeldet, dass es die Fallbeispiele waren, die sie am hilfreichsten fanden. Das anschauliche Erzählen von dem, was in der Therapie zwischen mir und dem Kind oder Jugendlichen geschah und von meinen Gedanken dabei. Konzeptuell zu verstehen, was Dissoziation ist, kann hilfreich und notwendig sein; um sich aber bereit zu fühlen, den Therapieraum zu betreten und mit diesen Kindern und Jugendlichen zu arbeiten, muss man die therapeutische Dynamik erleben. Aus dieser inneren Debatte zwischen meinem entmutigten Selbstanteil und meinem Problemlöse-Selbstanteil ist die Idee zu diesem Buch entstanden, das den Lesern nicht nur die Grundlagen der Dissoziation vermittelt, sondern ihnen auch Einblicke in reale Therapiesitzungen und in die Gedanken der behandelnden Therapeuten ermöglicht.
Der erste dokumentierte Fall eines unverkennbar dissoziativen Kindes (dissoziative Identitätsstörung in der Kindheit) war der eines elfjährigen Mädchens, dessen Behandlung (Hypnotherapie) 1840 von Prosper Despine beschrieben wurde (engl. Übersetzung McKeown & Fine, 2008). Leider erregte dieser Fall keine große Aufmerksamkeit, zudem kann die kindliche Dissoziation leicht mit anderen Diagnosen verwechselt werden (wie es in Kapitel 1 diskutiert wird), und so tauchte das Thema der kindlichen Dissoziation für die nächsten 140 Jahre in der Literatur nicht mehr auf. In den 1970er Jahren suchte Dr. Richard Kluft, einer der frühen Pioniere der Diagnostik und Behandlung von dissoziativen Störungen, nach Fällen von Dissoziation in der Kindheit. Er glaubte, dass man den damals beliebten Vorwurf, dissoziative Anteile seien von Therapeuten hergestellt und nicht die innere Realität eines hochgestressten Individuums, erfolgreich entkräften könne, wenn man die Existenz von Dissoziation bei traumatisierten Kindern belegt (Kluft, persönliche Mitteilung, 2010). Und natürlich gab es diese Fälle. Es zeigte sich bald, dass die Therapie kürzer und einfacher war als bei Erwachsenen, aber es gab deutliche Ähnlichkeiten in der Notwendigkeit, bei Kindern die traumatischen Erfahrungen und die dissoziativen Anteile therapeutisch zu bearbeiten. 1984 veröffentlichte Kluft eine Beschreibung von fünf Fallbeispielen von Kindern mit multipler Persönlichkeitsstörung (Kluft, 1984) und Fagan und McMahon (1984) veröffentlichten eine Beschreibung von vier Kindern mit »beginnender multipler Persönlichkeitsstörung« (heute bekannt unter dem Begriff nicht näher bezeichnete dissoziative Störung1). In beiden Artikeln betonten die Autoren, wie wichtig es sei, die Familie in die Arbeit miteinzubeziehen, sichere Lebensumstände herzustellen sowie die dissoziativen Episoden und das frühe Trauma zu bearbeiten. In den folgenden 25 Jahren wurden zahlreiche Artikel und einige Bücher veröffentlicht: Beschreibungen von Fallbeispielen und Symptomen, diagnostische Checklisten, Konzepte der Dissoziation sowie Forschung zur Inzidenz von Dissoziation in bestimmten Populationsgruppen Kinder und Jugendlicher (Überblick in Silberg, 2009).
In den 1980er Jahren waren es hauptsächlich die Therapeuten, die Erfahrungen mit erwachsenen dissoziativen Patienten hatten, die sich dann der Behandlung dissoziativer Kinder zuwandten (Polly McMahon und Gary Peterson waren erwähnenswerte Ausnahmen). Ende der 80er Jahre fingen endlich auch die Kinder- und Jugendtherapeuten an, das Thema Dissoziation zu beachten und sich darüber zu informieren. Joy Silberg (Baltimore, USA) schreibt in ihrem Buch The Dissociative Child: Diagnosis, Treatment and Management (1996 a), dass ihr erster Gedanke war: Wenn Dissoziation eine Folge von Kindesmisshandlungen ist, musste es sie dann nicht auch schon gegeben haben, als diese Patienten Kinder waren? Nachdem Fran Waters einen Workshop zur Diagnostik der multiplen Persönlichkeitsstörung (MPS) bei Erwachsenen besucht hatte, fragte sie ihre achtjährige Patientin, deren Zustand sich trotz exzellenter therapeutischer Behandlung nicht verbessern wollte, ob sie Stimmen höre. Das Mädchen bejahte dies nicht nur, sondern war auch sofort bereit, ein Bild von den Stimmen in ihrem Kopf zu malen. Ungefähr zur selben Zeit arbeitete ich in der Kinderambulanz des psychiatrischen Krankenhauses in Ottawa, Kanada. George Fraser (1993; 2003), der in der Erwachsenenambulanz mit Patienten mit multipler Persönlichkeitsstörung arbeitete, rief mich an und fragte mich, ob ich die vierjährige Tochter einer seiner MPS-Patientinnen aufnehmen würde. Dank Dr. Fraser hatte ich nun einen Begriff: »Dissoziation«, mit dem ich die Widersprüche im Verhalten dieses Kindes benennen konnte. Tatsächlich waren es Widersprüche, wie ich sie schon bei vielen meiner Patienten beobachtet hatte.
Die Therapeuten begannen allmählich sich zu organisieren und Fallbeispiele und Theorien auszutauschen; die meisten von ihnen kamen aus der Arbeit mit dissoziativen Erwachsenen, aber es waren auch einige wenige Kinder- und Jugendtherapeuten darunter. 1983 veranstaltete die noch sehr junge Gesellschaft International Society for the Study of Multiple Personality & Dissociation (ISSMP&D) ihre erste Konferenz in Chicago, USA (Kluft, 2003). Diese Gesellschaft, die heute unter dem Namen ISSTD (International Society for the Study of Trauma and Dissociation) bekannt ist, wuchs und entwickelte sich. Die Entstehung und Behandlung von Dissoziation bei Kindern und Jugendlichen fand verstärkt Beachtung, und so entstand in den späten 1990er Jahren das Kinder- und Jugendlichenkomitee mit dem Auftrag, die Forschung, die Veröffentlichungen und die Lehre im Bereich kindlicher Dissoziation voranzubringen. 2004 veröffentlichte das Kinder- und Jugendlichenkomitee die Richtlinien für die Evaluation und Behandlung dissoziativer Symptome bei Kindern und Jugendlichen. Diese sind auf der Internetseite der ISSTD abzurufen2 (www.isst-d.org). 2006 wurde der Lehrplan für einen Fortbildungskurs zu Diagnostik und Behandlung von komplextraumatisierten/dissoziativen Kindern und Jugendlichen fertiggestellt, und dieser Fortbildungskurs wird mittlerweile in fünf verschiedenen Ländern und als Online-Kurs im Internet angeboten. In den Jahren 2008 und 2009 entwickelte das Kinder- und Jugendlichenkomitee einen Satz »Frequently Asked Questions« (FAQ’s) für Eltern und für Lehrer. Diese finden sich auch auf der Internetseite der ISSTD. Die europäische Gesellschaft ESTD (European Society for Trauma and Dissociation) wurde 2006 gegründet und etablierte ein Kinder- und Jugendlichenkomitee zur Unterstützung aller europäischen Therapeuten, die mit traumatisierten und dissoziativen Kindern und Jugendlichen arbeiten (www.estd.org).
In dieses Buch haben wir sowohl Theorie als auch klinische Fallbeispiele aufgenommen. Es bietet mehr als die Richtlinien und FAQ’s; es soll Ihnen einen umfassenden Einblick in den praktischen Therapieprozess mit dissoziativen Kindern und Jugendlichen geben, in die Symptomatik dieser Kinder, ihr Auftreten, ihre Bedürfnisse und ihren Heilungsprozess.
Im 1. Kapitel wird beschrieben, wie es zu Dissoziation bei Kindern und Jugendlichen kommt, warum sie entsteht, in welcher Form sie auftreten kann, und die vielen möglichen (Begleit-)Symptome. Unser Verständnis der zugrundeliegenden neurologischen Mechanismen ist zwar immer noch relativ begrenzt, ich werde sie aber zumindest umreißen, weil wir sie in unserer Arbeit mitdenken sollten. Ich werde Ihnen fünf konzeptuelle Modelle der Dissoziation vorstellen, denen sieben klinische Fallbeispiele verschiedener Therapeutinnen folgen. Alle Autorinnen sind Mitglieder des Kinder- und Jugendlichenkomitees der ISSTD. Sie arbeiten in verschiedenen Ländern: Argentinien, Kanada, Großbritannien, Holland und den USA. Sie waren in den unterschiedlichsten Arbeitsbereichen tätig: in Psychiatrie, Tagesklinik und Ambulanz, in traumaspezialisierten Kliniken, für das Jugendamt, in Schulen und in eigener Praxis....