Jenseits vom Jenseits
Das ist die Geschichte eines Menschen, dessen Kraft man mit Worten eigentlich nicht beschreiben kann. Man müsste, um ihm gerecht zu werden, eine neue Kategorie von Superlativen erfinden. Es ist die Geschichte eines Totgeglaubten, der wieder und wieder beweisen musste, dass er nicht nur überlebt hat, sondern dass mit ihm zu rechnen ist.
Ich möchte in diesem Buch das Leben des Nils Jent, Doktor der Ökonomie an der Hochschule St. Gallen, der seit einem schweren Motorradunfall im Jahre 1980 gelähmt, blind und sprechbehindert ist, erzählen. Weil seine Biografie vor mehr als dreißig Jahren nicht nur eine schockierende Wendung nahm, sondern auch höchst erfreuliche, erstaunliche und verblüffende Folgen hatte. Dass dieser Mann aus dem Jenseits, in welchem er sich nach dem Unfall vorübergehend befand, zurückkommen konnte, hat mit etwas zu tun, was bis anhin jenseits meiner Vorstellungskraft lag. Ich spürte, als ich Nils Jent kennen lernte, sofort, dass ich mich auf ihn einlassen und dafür sorgen wollte, dass mehr Menschen von ihm erfahren. Länge, Breite und Höhe definieren die Plastizität eines Körpers. Die Räumlichkeit bedingt drei Dimensionen, an diesem physikalischen Gesetz habe ich mich orientiert und deshalb drei Blickwinkel gewählt, aus welchen diese Geschichte erzählt werden soll.
Ein erster Blickwinkel ist der seiner Mutter Hélène Jent. Sie hat nach dem Unfall anfänglich täglich, später in größeren Zeitabständen minutiös Protokoll geführt über die kleinen und kleinsten Schritte, die ihr Sohn auf dem Weg der Besserung machte. Meist waren es Fortschritte. Aber es ist auch von Rückschlägen die Rede, von Enttäuschungen, Wut, Trauer, Unverständnis und vom ständigen Kampf für ein lebenswertes Leben. Die Mutter hat in ihren Tagebüchern tausend Fragen gestellt, auf die sie zum Teil bis heute keine Antworten gefunden hat.
Der zweite Blickwinkel ist der von Nils Jent. In den Spiegel schauen kann er nicht. Trotzdem hat er eine klare Sicht auf sein Leben und seine Leistungen. Wenn Jent über Jent spricht, nimmt er es sehr genau und leuchtet auch in die dunklen Winkel seiner Seele. Dass ihm die Rückkehr in die Welt der Lebendigen äußerst schwerfiel und dass er auf seinem Weg viele Hindernisse überwinden musste, davon erzählt dieses Buch. In zahlreichen Gesprächen hat mir Nils Jent über sein Leben Auskunft gegeben. Über jenes des Jugendlichen Nils, der in einer wohlbehüteten Umgebung im Aaretal aufwuchs, der viele Pläne hatte und gerade dabei war, sich seinen Platz in der Gesellschaft zu suchen. Über das Leben des fast toten Nils, der nach seinem schweren Unfall gelähmt, blind und unfähig war zu sprechen.
Die meisten Gespräche mit Nils Jent drehten sich um die Zeit nach Pfingsten 1980. Damals begann sein zweites Leben. Das Leben, das ihn bis heute dermaßen fordert, dass er täglich in unbekannte Welten vordringen muss und permanent am Limit läuft. Um dorthin zu gelangen, wo er heute ist, musste er gegen zahlreiche Widerstände ankämpfen. Er musste kreative Lösungen suchen, wo Barrieren unpassierbar erschienen, musste für sich reklamieren, was für andere selbstverständlich ist. Nur durch das wiederholte Sprengen von Grenzen kam Nils Jent seinem erklärten Ziel näher, in der Gesellschaft wieder Fuß zu fassen und sich sowohl als Persönlichkeit als auch durch seine Arbeit Respekt zu verschaffen.
Die dritte Sicht auf Nils Jent ist meine eigene. Als die Idee, dieses Buch zu schreiben, an mich herangetragen wurde, dachte ich, die Aufgabe sei wie maßgeschneidert für mich, denn ich kenne mich mit Behinderten aus und habe keine Berührungsängste. In meiner Fernsehsendung »Quer« habe ich öfters Studiogäste interviewt, die physisch, psychisch oder sensorisch handicapiert waren. Auch habe ich Menschen mit Down-Syndrom oder Rollstuhlfahrer auf speziell für sie konzipierten Ferienreisen begleitet – nicht als journalistischer Beobachter, sondern als Betreuer. Ich hatte also mit gutem Grund das Gefühl, mich mit so einem Projekt auf sicherem Terrain zu bewegen und von selber Erlebtem profitieren zu können. Ich war nicht darauf vorbereitet, dass die Begegnung mit Dr. Nils Jent für mich eine total neue Erfahrung werden würde. Schon bei meinem ersten Besuch im November 2009 merkte ich, dass ich noch nie einen Menschen von ähnlichem Kaliber kennen gelernt hatte. Der Dialog mit meinem Protagonisten war dann tatsächlich eine Herausforderung.
Zuerst musste ich lernen, Nils Jents Sprache zu verstehen. Menschen, die ihn zum ersten Mal reden hören, stufen ihn zuweilen als betrunken oder geistig behindert ein. Wegen der Lähmung seiner Zungen- und Gesichtsmuskeln hat er Mühe, Konsonanten deutlich zu artikulieren. So entstehen Wörter und Sätze, die für den ungeübten Zuhörer nur mit viel Fantasie einen Sinn ergeben. Die Gespräche, die ich mit Nils führte, waren anfänglich stockend und von vielen Rückfragen unterbrochen. Mit zunehmender Routine flossen die Dialoge aber problemloser. Viel wichtiger als die Kommunikation war aber, dass ich Nils’ Vertrauen gewinnen konnte. Denn er gab in unseren Gesprächen viel von sich preis, erzählte offen von Kämpfen und Rückschlägen, von Erfolgen und Niederlagen, Träumen, Visionen, Hoffnungen und Enttäuschungen. Nicht alles, was wir besprochen haben, ist für die Öffentlichkeit bestimmt. Es galt, einen Weg zu finden, seine Privatsphäre zu respektieren.
Kurz nach unserem ersten Zusammentreffen habe ich Dr. Nils Jent zu einer außergewöhnlichen Veranstaltung der Universität St. Gallen begleitet: zur Eröffnungsfeier des Center for Disability and Integration (CDI), einer Forschungsstelle für die Integration von Behinderten, zu welcher der ehemalige US-Präsident Bill Clinton erwartet wurde. Eingefädelt hatte diesen prominenten Besuch Joachim Schoss, ein erfolgreicher deutscher Geschäftsmann, der sich seit einem schweren Unfall, bei dem er einen Arm und ein Bein verloren hat, emotional und finanziell für die Anliegen von Behinderten einsetzt. Schoss, dessen Stiftung MyHandicap das CDI mit einem namhaften Betrag sponsert, kennt Clinton seit längerem und hat es geschafft, ihn als Botschafter für seine Sache zu gewinnen.
Ich erwarte Nils vor der Einfahrt der Tiefgarage. Kurz vor neun Uhr kommt er mit dem Taxi an und steigt in den Rollstuhl um. Wir fahren mit dem Lift nach oben, wo Referenten, Journalisten und Gäste zur Pressekonferenz empfangen werden. Nils ist nervös. Er sagt, er wolle es nicht verbocken. Normalerweise sei er nur für sich selbst verantwortlich. Hier spüre er jetzt eine größere Last auf seinen Schultern. Er sitzt da und schweigt. Kaffee? Nein danke. Auch sonst nichts. Er wird verkabelt. Tonprobe.
Ich stelle mich den Leuten als Nils Jents Biografen vor, was ein bisschen voreilig ist, denn wir haben uns erst vor vier Tagen kennen gelernt und vereinbart, darüber nachzudenken, ob wir das Buchprojekt gemeinsam angehen wollen. Für Nils scheint das bereits entschieden zu sein. Er macht sich einzig lustig darüber, dass sein Biograf in der Öffentlichkeit bekannter sei als er.
Pressekonferenz mit dem Rektor der Universität, den beiden Direktoren des CDI sowie Joachim Schoss, Nils Jent und zwei Vertretern von Firmen, die Integration von Behinderten aktiv fördern. Schoss ist eine beeindruckende Persönlichkeit. Durch seinen Motorradunfall, bei dem ihn ein Betrunkener in Südafrika von der Straße gefegt hat, sei er von einer Sekunde auf die andere in ein anderes Leben katapultiert worden, sagt er. Er habe lernen müssen, seine Defizite zu akzeptieren, in die Zukunft zu schauen und seine – nach wie vor zahlreichen – Chancen zu nutzen.
Nach der Pressekonferenz dislozieren wir in ein anderes Gebäude. Für Bill Clintons Auftritt wurden erhebliche Sicherheitsmaßnahmen getroffen. Am Eingang werden die Gäste abgetastet und mit Metalldetektoren gecheckt. Es ist viel Prominenz zugegen. Ich erkenne einige, mit denen ich im Zusammenhang mit Themen rund um Behinderte schon einmal zu tun hatte: Rita Roos, die Direktorin von Pro Infirmis, die St. Galler Sicherheitsdirektorin Karin Keller-Sutter, der frühere Nationalrat Marc F. Suter, der seit einem Autounfall querschnittgelähmt ist, Nationalrätin Pascale Bruderer, heute in der Funktion als Vizepräsidentin der Bundesversammlung anwesend, Journalisten von Printmedien, vom Schweizer Fernsehen und von Radio DRS. Es gibt Häppchen, und wir müssen uns gedulden. Jene, die einen gelben Punkt auf dem Badge haben, dürfen später zu einer Fotosession und persönlichem Handschlag mit Bill Clinton.
Im Saal vor dem Rednerpult steht ein wunderschönes Blumenbouquet. Kurz vor Beginn der Veranstaltung wird es von Sicherheitsleuten entfernt. Mister Clinton habe eine Blütenstauballergie, heißt es. Der »Blick«-Fotograf schießt sein »Foto des Tages«: zwei Männer, die eine riesengroße Vase wegtragen.
Dann setzen sich die Gäste an runde Tische. Joachim Schoss tritt ans Rednerpult und begrüßt Bill Clinton, der sein Referat mit...