Ein Traum geht in Erfüllung
Kamtschatka, 2004. Der MI-8, ein alter sowjetischer Armeehubschrauber, donnert einem entlegenen Zipfel im Süden der russischen Halbinsel Kamtschatka entgegen. Die Vibrationen der Rotorblätter übertragen sich auf jeden Gegenstand am und im Helikopter, schütteln meine Knochen durch und lassen meine Zähne klappern.
In der Maschine sitzen außer mir nur noch die beiden Piloten und der Bordingenieur. Mit dieser Reise folge ich einer Einladung des großen Charlie Russell. Er hat vor wenigen Wochen vom Direktor des Yuzhno Kamchatsky Zapovednik, eines Naturschutzreservats, fünf durch Wilderei verwaiste Jungbären erhalten und benötigt Hilfe bei deren Auswilderung.
Charlie ist eine Koryphäe unter den Bärenspezialisten dieser Welt. Allerdings muss man wissen, dass da zwei Parallelwelten existieren: diejenige der Akademiker, der studierten Biologen und Zoologen sowie die andere der nichtakademischen »naturalists«. Obschon beide Gruppen unzweifelhaft ihre Stärken haben und sich gegenseitig hervorragend ergänzen würden, finden sie oft nicht zueinander: Die eine lehnt in der Regel die Methoden und Ansichten der jeweils anderen ab.
Charlie Russell also ist einer der »top shots« aus der Welt der Nichtakademiker. Allerdings einer, der sich mit seinen Arbeiten auch in der akademischen Welt Gehör verschafft hat. Seit zehn Jahren lebt er in Kamtschatka und studiert hier das Verhalten des Ursus arctos, des Braunbären. Sein besonderes Interesse gilt dem Verhalten dieser Art gegenüber dem Menschen.
Charlie plädiert für ein friedliches Zusammenleben mit dem Bären, für einen alternativen, weniger dominanten Ansatz des Menschen im Umgang mit ihm. So sieht sich der knorrige Einsiedler selbst auch viel eher als Soziologe denn als Biologe. Charlie hat die sechzig längst überschritten und arbeitet seit über vierzig Jahren mit Bären. Er ist ein großes Vorbild, seine Bücher und Filme waren und sind mir nicht nur Inspiration, sondern auch Bestätigung meiner eigenen Ansichten. Zwar haben wir uns im Laufe der Jahre angefreundet; dass Charlie aber ausgerechnet mich zur Unterstützung nach Kamtschatka holt, ist eine so unerwartete wie ehrenvolle Anerkennung meiner Arbeit.
Ich drücke meine Nase ans Fenster des Hubschraubers und schaue nach unten. Die russische Tundra: Steinbirken- und Zwergpinienwälder wechseln sich ab mit saftiggrünen, blumendurchsetzten Magerwiesen sowie unzähligen Flüssen, Bächen, Seen und Tümpeln.
Riesige Vulkankegel erheben sich aus dieser herrlichen Landschaft, die so sanft und rau zugleich unter mir vorbeizieht. Ich zähle einen, zwei, fünf Vulkane und mache am Horizont immer wieder einen neuen aus.
Die Halbinsel Kamtschatka gehört zum ostasiatischen Teil Russlands. Weiter östlich liegt bereits das benachbarte Alaska, und vom ganz im Süden gelegenen Kap Lopatka aus deutet die Inselkette der Kurilen einem ausgestreckten Zeigefinger gleich in Richtung der japanischen Inseln. Mit über hundertfünfzig teilweise aktiven Vulkanen ist Kamtschatka eine der vulkanreichsten Gegenden der Erde.
Ausgangspunkt der letzten Etappe meiner langen Reise nach Russland war Petropawlowsk. Die einzige Großstadt auf der Halbinsel – die Einheimischen nennen sie liebevoll P. K. – beherbergt knapp 200 000 Einwohner. Das ist mehr als die Hälfte der Gesamtbevölkerung Kamtschatkas: Auf einer Fläche so groß wie die Schweiz, Deutschland und Österreich zusammengenommen leben hier nur gerade 380 000 Menschen.
Vor dem Zusammenbruch der Sowjetunion war die Region während fünfzig Jahren militärisches Sperrgebiet und der Zugang nicht nur Ausländern, sondern auch den Russen verwehrt. Die Wildnis Kamtschatkas war zum Zeitpunkt der Entmilitarisierung deshalb nahezu unberührt und intakt. Sie gehorchte noch den alten Rhythmen der Natur. In Anerkennung ihrer Schönheit und biologischen Vielfalt erklärten die Vereinten Nationen im Jahre 1996 einige Flecken der Halbinsel zum Unesco-Weltnaturerbe.
Die 1500 Kilometer lange Küste Kamtschatkas ist weltweit eines der letzten mächtigen Hoheitsgebiete des pazifischen Lachses. Mehr als ein Viertel seiner noch existierenden Gesamtpopulation belebt die Wasserwege der Halbinsel. Außerdem gedeihen hier rund 1100 Pflanzenarten, ein Zehntel davon endemisch, sie kommen also nirgendwo sonst auf der Erde vor. Gegen hundert Vogelarten werden dieser Region zugeordnet, darunter der Riesenseeadler, Haliaeetus pelagicus. Die erst nach der Öffnung Kamtschatkas entdeckte Population dieser extrem bedrohten Vogelart hat ihren weltweit bekannten Bestand nahezu verdoppelt.
Doch der wahre König dieses Ökosystems ist der Braunbär. Die wilde, naturbelassene Abgeschiedenheit der Gegend und ihr botanischer Artenreichtum bieten ideale Voraussetzungen für Meister Petz. Er erreicht hier mit 15 000 bis 20 000 Exemplaren weltweit eine der höchsten Populationsdichten.
Kurz erhasche ich hinter einer nahen Hügelkuppe einen Blick auf die Ochotskische See. So nahe an der Küste herrscht hier ein raues und starken Schwankungen unterworfenes Klima. Während die Seen im Juli noch zugefroren sein können, vermag es doch dreißig und mehr Grad warm zu werden. Harte, kalte Winde fegen aber von der See her ganzjährig übers Land und sorgen auf einer Höhe von nur 300 Metern über Meer für eine hochalpine Flora.
Und dann erblicke ich sie aus dem Helikopterfenster: dunkle Punkte, die, aus der Höhe klein und käfergleich, umherzukrabbeln scheinen. Meine Augen suchen die Landschaft ab, wandern den Flussläufen entlang, welche die Ebene unter mir in einem tausendfach verzweigten Netz durchziehen. Ich beginne zu zählen, gebe aber rasch auf. Charlie hat mit seiner telefonischen Ankündigung nicht übertrieben: Überall sind Bären, auf der Suche nach Lachs, Blüten und Wurzeln oder einem beerenreichen Busch.
Die Sonne taucht den Horizont in warmes rotes Licht. Das Netz der Flussläufe glitzert in Blautönen. Das Grün der Vegetation leuchtet satt und dunkel und so intensiv, dass ich ihren würzigen Duft zu riechen glaube. In diesem Farbenmeer tauchen immer wieder die Bärenpunkte auf. Bewegen sie sich nicht, könnte man meinen, sie seien Brocken erstarrter Lava, ziellos ausgespuckt von einem Vulkan und seit Ewigkeiten erstarrt. Doch ziellos ist hier nichts, schon gar nicht die Bären: Ich entdecke subtile Nuancen im Bewuchs der Tundra. Von helleren, verzweigten Linien wird sie durchzogen, feinen Adern gleich. Wäre dies nicht eine der menschenleersten Regionen der Welt, man würde die Linien für Wanderwege halten. Trampelpfade sind es tatsächlich, geschaffen von Bärentatzen.
Die einzigen Menschen, die es außer uns im Umkreis von mehreren Tausend Quadratkilometern gibt, leben ganz unten an der Spitze der Halbinsel in einem Leuchtturm am Kap Lopatka. Ihre Aufgabe ist es, das Meer zu beobachten. Nirgends entdecke ich menschliche Spuren: Weder Strom- noch Telefonleitungen zeichnen schwarze Linien in die Landschaft, keine Straße zerschneidet sie, nirgends auch nur ein Ansatz von Urbanisierung oder Landwirtschaft, weder Dorf noch Stadt, weder Haus noch Hütte sind auszumachen. Der einzige Mensch, den ich hier während der nächsten vier Monate sehen werde, ist Charlie Russell.
Der Hubschrauber landet schließlich in der Nähe einer Blockhütte, die sich am Ufer eines kleinen Sees in einen Talkessel schmiegt. Als ich mit eingezogenem Kopf aus dem Helikopter klettere, entdecke ich Charlie, der beim Landeplatz wartet. Ein breites Grinsen und eine kurze Umarmung müssen im Sturm der Rotorblätter genügen, denn mir bleibt kaum Zeit, das Gepäck aus dem Hubschrauber zu zerren, bevor der Pilot die Maschine steil hochzieht und sie dröhnend hinter die nächste Anhöhe entschwindet.
Wir gehen die paar Schritte bis zu Charlies selbst gebauter Hütte. Sie ist etwa fünf auf zehn Meter groß und mit roh gezimmerten Holzmöbeln ausgestattet. Ein paar Solarpaneele und ein Windrad spenden ein wenig Strom für PC und Satellitentelefon. Und für den Elektrozaun, der das Gehege neben dem Haus umgibt, um dessen Bewohner vor hungrigen Bärenmännchen zu schützen. Zum ersten Mal begegne ich meinen Adoptivkindern. Die fünf tapsigen Wollknäuel horchen sofort auf, als sie unsere Stimmen hören. Alle fünf heben gleichzeitig den Kopf, spitzen die Ohren und blicken uns mit großen Augen an.
Wir öffnen das Gatter und treten vorsichtig ins Gehege. Die Bärenwelpen weichen scheu zurück, beäugen vor allem mich misstrauisch und blaffen zaghaft. Wir setzen uns auf den Boden, und die Neugierde treibt die Jungen an, näher zu kommen. Doch auf jeden vorsichtigen Schritt in meine Richtung folgt sogleich ein Zurückweichen um zwei Schritte. Charlie lacht. Er hat dem Quintett bereits Namen gegeben und stellt mir die Kleinen nun vor: »Das da ist Sheena und der Dunkle dort Buck. Die Blonde nenne ich Sky, und dann haben wir noch den forschen Wilder und seine Schwester Gina.«
Wir lassen die Jungen für heute in Frieden und...