KAPITEL 1
VOM RASEN
AUFS BÖRSENPARKETT
Am 1. August 1989 betrat ich zum ersten Mal das Parkett der Frankfurter Börse. Ich war ein junger Kerl von gerade einmal 21 Jahren. Von Börse und Wirtschaft verstand ich damals so viel wie „en Hahn vom Eier leesche“, wie die Frankfurter gerne sagen. Ich hatte gerade meine kaufmännische Ausbildung erfolgreich absolviert und dazu ein Jahr als professioneller Fußballspieler hinter mir. Nun wollte ich neu durchstarten.
Ehrfürchtig betrat ich an diesem sonnigen Dienstagvormittag das Börsengebäude im Zentrum Frankfurts durch einen Seiteneingang, da der Handelssaal zu dieser Zeit gerade renoviert wurde. Das war auch nötig. Die Aktienbörse hatte in den Jahren zuvor in Deutschland massiv an Aufmerksamkeit hinzugewinnen können. Sowohl Investoren als auch die breite Öffentlichkeit nahmen deutlich reger Anteil an den Ereignissen der Finanzwelt. Die Umsätze waren dadurch deutlich gestiegen. Mehr Umsatz bedeutete damals auch mehr Arbeit, und die musste von immer mehr Menschen erledigt werden. Bis zu 1.500 betraten damals täglich durch diesen Seiteneingang das imposante Gebäude aus dem späten 19. Jahrhundert. Die Frankfurter Industrie- und Handelskammer (IHK) war damals Hausherr und gleichzeitig der Träger der Frankfurter Aktienbörse (nicht wie heute die Deutsche Börse AG) und somit verantwortlich für den Ausbau und die Modernisierung des Frankfurter Parketts. Und dieser Umbau war längst überfällig, denn immer mehr Händler, Makler und deren Assistenten fluteten zu den Öffnungszeiten zwischen 11:30 Uhr und 13:30 Uhr die Börse. Ja, Sie lesen richtig! Der Handel an der Frankfurter Börse dauerte damals lediglich zwei Stunden. Jetzt verstehen Sie auch, weshalb wir „alten Säcke“ immer von den guten alten Zeiten sprechen. Heute sind Wertpapiere weltweit rund um die Uhr handelbar, in Frankfurt von 8 bis 20 Uhr. Immer schneller, höher, weiter heißt es heute. Wann ist damit Schluss? Doch dazu kommen wir später. Jedenfalls war die Börse in jener Zeit vor allem durch zwei Ereignisse stark in das öffentliche Interesse gerückt.
Knapp zwei Jahre zuvor hatte ein Crash die Finanzwelt kräftig durcheinandergewirbelt. Am Schwarzen Montag, dem 19. Oktober 1987, kam es zum ersten großen Börsencrash nach 1929. Der amerikanische Aktienindex Dow Jones (Index = Fieberthermometer für Börsenkurse) fiel innerhalb eines Tages um über 22 Prozent (508 Punkte), was den größten prozentualen Einbruch innerhalb eines Tages in dessen Geschichte darstellt. Alle wichtigen internationalen Börsen gerieten ebenfalls in diesen Abwärtsstrudel. Bis Ende Oktober waren die Kurse fast aller großen Börsen zwischen 25 und 45 Prozent eingebrochen. Es liest sich leicht darüber hinweg, doch machen wir uns noch einmal klar, was das bedeutet: Einige Unternehmen hatten innerhalb weniger Tage fast die Hälfte ihres Wertes an der Börse eingebüßt. Allein in den ersten Handelsminuten der Börsensitzung jenes Tages wurden 800 Milliarden US-Dollar vernichtet. In Deutschland hatten die 80er-Jahre den Aktionären zunächst einen satten Verdienst von bis zu 193 Prozent gebracht. Das schien bis auf die Profis niemanden zu interessieren. Doch nun, da auch deutsche Aktien im Crash kräftig an Wert verloren, gab es nur noch ein Thema in den Gazetten. Über die Gründe für den Crash werden auch heute noch Doktorarbeiten geschrieben, aber nichts und niemand konnte ihn bisher schlüssig erklären. Jedenfalls war dieser Crash „das Thema“ der Medien. Im Vor-Internetzeitalter hieß das: Fernsehen, Radio und Tageszeitungen. Die Presse entdeckte die Börsenberichterstattung als Geschäftsfeld für sich. Erste Radio- und TV-Sendungen wurden live und regelmäßig vom Parkett aus gesendet. Somit führte ein negatives Ereignis dazu, dass die deutsche Öffentlichkeit auf die Börse aufmerksam wurde. Allerdings nahm die breite Masse meist nur die Rolle des Zuschauers ein. Vielen Anlegern versetzte der große Crash von 1987 aber einen schweren Schock, dessen Wirkung erst 15 Monate später wieder nachließ, als sich die Börsenpreise vollständig auf das Vorcrash-Niveau erholt hatten.
Das zweite Ereignis, das durch den Crash erst besonders interessant wurde und für viel Furore sorgte, kam aus einer ganz anderen Richtung. Es galt als das Medienereignis des Jahres 1987, das die Finanzwelt in das Licht der Öffentlichkeit rückte – wenn auch in ein recht schlechtes Licht: „Wall Street“, ein Film über einen skrupellosen Börsenmakler, der die Gier zu seiner Doktrin erhoben hatte. „Die Gier“, so der windige Titelheld Gordon Gekko, „ist gut und gesund!“ Der Film war eine radikale Kritik am Turbo-Kapitalismus der 80er-Jahre, an der von US-Präsident Ronald Reagan geprägten amerikanischen Wirtschaftspolitik. Reagan säte durch seine Politik der geringeren Kontrolle der Finanzmärkte auch die Saat für die „Mutter aller Finanzkrisen“ 30 Jahre später. Der Film mit Michael Douglas und Charlie Sheen in den Hauptrollen setzte damals neue Maßstäbe und Millionen von Menschen wurden auf das Thema „Börse“ aufmerksam. Damit war die Börse „hip“, auch wenn die meisten Menschen nicht verstanden, was dort vor sich geht. So ging es auch mir, der den Film zwar gesehen, aber viele Details dennoch nicht begriffen hatte. Es blieben viele Fragezeichen.
Das war auch kein Wunder. Die Börse war mir gänzlich unbekannt und ich hatte überhaupt keine Ahnung von den Abläufen und Mechanismen. Meine Investmenterfahrungen beschränkten sich auf zwei Lebensversicherungen, die ich bei einem Freund abgeschlossen hatte, weil er meinte, das müsse man haben. Das reichte mir als Begründung völlig aus. An mehr als an etwas Altersvorsorge dachte ich damals nicht. Ich wollte Geld verdienen, um es auszugeben.
Aufgewachsen in einem Vorort von Frankfurt, hatte ich in einer unbeschwerten und glücklichen Jugend das Talent zum Fußballspieler entwickelt. Ich wurde in eine Fußballer-Familie hineingeboren. Mein Vater kickte in der zweiten Mannschaft von Germania Enkheim, meine Oma wusch die Trikots des Teams. Auch mein Bruder spielte Fußball und ging erfolgreich auf Torjagd. Und so erwachte das Interesse an dem Spiel mit dem Ball auch bei mir. Schon früh war mir klar, dass Profifußballer mein Berufsziel war. Damit wollte ich in die Fußstapfen der Idole meiner Zeit treten. Gerd Müller, der „Bomber der Nation“, war mein Vorbild und ich spielte Fußball von früh an mit großer Leidenschaft und Entschlossenheit. Über den FSV Bergen und den FSV Frankfurt verfolgte ich schon in der Jugend mein Ziel mit großer Beharrlichkeit und wurde schließlich im Sommer 1988 von mehreren Profiklubs zum Probetraining eingeladen. Als Kandidaten für ein Engagement waren zum Schluss Fortuna Düsseldorf, der FC Homburg und Borussia Dortmund in der engeren Auswahl verblieben. Ich entschied mich schließlich mit Borussia Dortmund für den größten und bekanntesten der Interessenten und unterschrieb im Mai 1988 einen Zweijahresvertrag bei den Westfalen. Endlich Profifußballer! Doch im Nachhinein kommt es mir ein wenig wie bei den großen Liebesfilmen Hollywoods vor, wenn mit Hochzeit und Happy End der zwei Stunden lange Film in ein romantisches „Grande Finale“ mündet. Leider ist es aber kein Geheimnis, dass oftmals dann erst die wirkliche Herausforderung beginnt und alles in Enttäuschung münden kann. Das traf auch in meinem Fall zu, denn die Frustration folgte auf dem Fuße. Zwar durfte ich mit dem BVB gleich im ersten Jahr meiner Profikarriere den DFB-Pokalsieg in Berlin feiern, aber für mich persönlich blieb der große Durchbruch aus. Dafür gab es verschiedene Ursachen. Zusammengefasst könnte man „Naivität“ als Hauptgrund nennen. Den sportlichen Anforderungen war ich noch am ehesten gewachsen. Auf den immensen psychischen Druck war ich jedoch nicht vorbereitet. Ich hatte Fußball bis dahin als Mannschaftssport verstanden und mit großer Leidenschaft als Teamplayer agiert. Meine Mitspieler waren meine Freunde, der Gegenspieler war mein Feind. Im Profigeschäft musste ich jedoch schnell lernen, dass der Feind sich oft in den eigenen Reihen verbirgt. Es ging den meisten Mitspielern in erster Linie um die Sicherung ihrer Position – den Ausbau der „Ich-AG“, den besten Platz an den Fleischtöpfen, die nächste Prämie, die lukrativsten Autogrammstunden. Und die Pressekontakte mussten so gepflegt werden, dass Bestnoten in der Zeitung standen. Diese Entwicklung folgt nachvollziehbaren Gesetzen, denn im Profifußball steht einfach zu viel auf dem Spiel. So gut wie jeder Fußballer setzt alles auf eine Karte. Die meisten werden direkt nach der Schule Profispieler. Ohne Berufsausbildung und selten mit höherem Schulabschluss sind sie auf Gedeih und Verderb zum Erfolg im Fußballsport verdammt. Jeder, der diesem Ziel im Wege steht, wird „weggegrätscht“. Zumindest in meinem Team verhielt es sich so. Die Folge war, dass ich mit der Zeit die Lust am Fußball verlor und meine Leistungskurve steil nach unten zeigte. Im Winter 1988 war ich so unglücklich in Dortmund, dass sich mir die Frage über meine Zukunft...