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Eine neue Geschichte des Lebens

Wie Katastrophen den Lauf der Evolution bestimmt haben

AutorJoe Kirschvink, Peter Ward
VerlagDeutsche Verlags-Anstalt
Erscheinungsjahr2016
Seitenanzahl544 Seiten
ISBN9783641149925
FormatePUB
KopierschutzDRM
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis6,99 EUR
Das neueste Wissen über die Entwicklung des Lebens auf der Erde
Eine neue Geschichte des Lebens vereint erstmals die erst in den letzten Jahrzehnten gewonnenen Erkenntnisse verschiedener Fächer von der Geologie über Paläontologie, Geo- und Astrobiologie, Physik, Chemie bis zur Genetik, Zoologie und Botanik in einer großen, umfassenden Erzählung - und schreibt in entscheidenden Punkten die bisherige Darstellung der Evolution des Lebendigen auf der Erde um. Nach Darwin waren wir davon ausgegangen, dass sich die Veränderungen eher gleichförmig und allmählich vollzogen, aber der jetzt mögliche Blick in die Erdgeschichte zeigt, dass die Entwicklung stärker durch Katastrophen geprägt wurde und zwar nicht nur solche, die Meteoriteneinschläge von außen verursachten. Peter Ward und Joe Kirschvink schildern das spannende Zusammenspiel von Lebewesen und Ökosystemen, von Atmosphäre und Klima, das mehrmals im Lauf der Evolution dazu führte, dass sich die Bedingungen auf der Erde gravierend veränderten und Lebensformen massenhaft ausstarben. Sie geben einen faszinierenden Einblick in die seit 4,6 Milliarden Jahren dauernde Geschichte des Lebens und zeigen zugleich, wie fragil unsere heutige Lebenswelt ist.

Joe Kirschvink, geboren 1953, ist Professor für Geobiologie am Institute of Technology in Kalifornien. Internationale Bekanntheit erlangte er insbesondere mit seiner Hypothese vom 'Schneeball Erde'. Gemeinsam mit Peter Ward betreibt er seit vielen Jahren intensiv Forschung zur Erdzeitgeschichte.

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Leseprobe

Einleitung


Geschichte gehört – in welcher Form auch immer – bei Jugendlichen vermutlich zu den unbeliebtesten Schulfächern. Eine scharfsinnige Analyse dieses Phänomens liefert James Loewen in seinem Buch Lies My Teacher Told Me.1 Seine Erkenntnis lässt sich in einem Wort zusammenfassen: »Bedeutungslosigkeit«. Loewen schreibt: »Die Schilderungen in den Geschichtsbüchern sind vorhersehbar; jedes Problem wurde bereits gelöst oder wird bald gelöst werden … Fast nie bedienen sich Autoren der Gegenwart, um die Vergangenheit zu erhellen – die Gegenwart ist für die Urheber historischer Abhandlungen keine Informationsquelle.«

Was Loewen damit sagen will, ist ganz klar. So, wie amerikanische Geschichte heute an den Highschools gelehrt wird, stehen Vergangenheit und Gegenwart in keinem Zusammenhang. Was früher geschehen ist, bleibt für unser Alltagsleben ohne Auswirkungen und ohne Bedeutung. Aber diese Herangehensweise ist falsch. Das gilt insbesondere für die Geschichte des Lebendigen, die so alt ist, dass sie in Form von Fossilien im Gestein und in jeder unserer Zellen in Molekülen, insbesondere den DNA – Strängen, niedergeschrieben wurde. Ihre Bedeutung liegt darin, dass sie uns einen Platz im »großen Ganzen« zuweist. Und die Geschichte des Lebendigen könnte uns sogar in naher Zukunft vor dem Aussterben retten, wenn wir sie zur Kenntnis nehmen und ihre Warnungen beherzigen.

Anfang der 1960er Jahre schrieb der große amerikanische Autor James Baldwin: »Die Menschen sind in der Geschichte gefangen, und die Geschichte ist in ihnen gefangen.«2 Als er diese Worte zu Papier brachte, ging es um die Rassenfrage. Die Aussage gilt aber ebenso, wenn man das Wort »Menschen« durch »alle heutigen und früheren Lebensformen auf der Erde« ersetzt, denn jeder DNA – Strang in jeder unserer Zellen ist eine uralte Aufzeichnung biologischer Geschichte, die in einem einfachen Code geschrieben und von Generation zu Generation weitergegeben wurde. Man kann sagen, DNA ist nichts anderes als Geschichte, eine Geschichte, die physischen Ausdruck gefunden hat und während unzähliger Erdzeitalter langsam vom erbarmungslosesten aller Phänomene geformt und angehäuft wurde: von der natürlichen Selektion. Die DNA ist einerseits in uns niedergelegte Geschichte, andererseits ist sie unser Herr und Meister, die Blaupause für unseren Körper und der Diktator, der bestimmt, was wir an unsere Kinder weitergeben werden: Geschenke, die ein Segen sein können – oder auch tödliche Zeitbomben. In diesem besonderen Vehikel der Geschichte sind wir tatsächlich ebenso gefangen, wie es in uns gefangen ist.

Die Geschichte des Lebendigen gibt uns Antworten auf viele quälende Fragen, vor denen wir alle stehen: Wie kam es, dass wir Menschen diesen dünnen, spät aufgetauchten, ganz am Rand stehenden Zweig am riesigen Baum des Lebens besetzten? Welche Kämpfe musste unsere Spezies ausfechten? Welche Katastrophen kennzeichnen den Ast der Menschen am vier Milliarden Jahre alten Lebensbaum? Die Vergangenheit kann uns helfen, unseren Platz unter den mindestens 20 Millionen heute lebenden Arten zu verstehen – und unter den ungezählten Milliarden, die mittlerweile ausgestorben sind. Wenn eine Spezies nicht mehr existiert, ist damit auch die zukünftige Evolution unzähliger Arten zunichte gemacht.

Auf den folgenden Seiten betrachten wir den langen Weg zu unserer Gegenwart und die weit zurückliegenden Prüfungen, die unsere Ururahnen bestehen mussten: Feuer, Eis, Kometeneinschläge aus dem Weltraum, Giftgas, die Reißzähne von Raubtieren, erbarmungslosen Wettbewerb, tödliche Strahlung, Hunger, ungeheure Lebensraumveränderungen sowie Episoden von Krieg und Eroberung im Laufe einer rücksichtslosen Besiedelung aller bewohnbaren Winkel dieses Planeten. Jede dieser Episoden hat ihre Spuren in der heute vorhandenen DNA hinterlassen. Jede Krise, jede Eroberung war ein Schmiedefeuer, das die Genome veränderte, weil die verschiedensten Gene hinzukamen oder wegfielen. Jeder von uns ist der Nachkomme von Überlebenden, die in den Katastrophenfeuern gehärtet und von der Zeit abgekühlt wurden.

Einen zweiten, vielleicht noch wichtigeren Grund, warum wir der Geschichte des Lebendigen unsere Aufmerksamkeit schenken sollten, nennt Norman Cousins: »Geschichte ist ein riesiges Frühwarnsystem.«3 Diese Erkenntnis geht auf die Zeit kurz vor dem Ende des Kalten Krieges zurück. Angehörige der jüngeren Generation haben kaum noch ein Gespür dafür, was es hieß, in den 1950er und 1960er Jahren aufzuwachsen – damals erzählten die wöchentlich zur Mittagszeit stattfindenden Sirenenübungen uns Kindern von der dunklen Zeit, als der Weltuntergang nur ein beängstigendes Sirenenheulen weit entfernt war, und jedes schwache Geräusch eines nächtlich vorüberfliegenden Düsenjägers konnte den Anfang vom Ende bedeuten.

Kriege haben immer wieder und scheinbar unaufhörlich einen heimtückischen Tribut von der Menschheit gefordert – und das nicht nur physisch, sondern auch wirtschaftlich und emotional. Die Geschichte des Lebendigen lässt sich in vielerlei Hinsicht mit den Konflikten und Kriegen der Menschen vergleichen. Die Entwicklung von Offensivwaffen durch Raubtiere (bessere Klauen, Zähne, Gasangriffe, ja sogar Stacheln mit vergifteten Spitzen, mit denen man Beutetiere erlegen kann) führten bei der Beute umgehend zu koevolutionären Gegenmaßnahmen wie besserer Körperpanzerung, Schnelligkeit und der Fähigkeit, sich zu verstecken; manchmal entstanden sogar Defensivwaffen – das alles wird auch als »biologisches Wettrüsten« bezeichnet. Viele große Ereignisse der Evolution können sich nicht wiederholen, denn die Evolution hatte viel Zeit, die Biosphäre mit höchst leistungsfähigen, konkurrierenden Lebewesen zu füllen. Deshalb ist es sehr unwahrscheinlich, dass sich beispielsweise die Kambrische Explosion wiederholt, in der alle Grundbaupläne der Tiere entstanden. Etwas anderes aber kann sich durchaus wiederholen: Dinge, die das Gegengewicht zu Leben und Entwicklung bilden, Aussterben beispielsweise oder – wenn es im größeren Umfang stattfindet – Massenaussterben, entsetzliche Katastrophen der fernen Vergangenheit.

Mit jedem Kohlendioxidmolekül, das wir in die Atmosphäre pumpen, verschließen wir die Ohren vor den Frühwarnsirenen, die uns sagen: Ein schneller Anstieg des Kohlendioxidgehalts war das Merkmal, das mindestens zehn Massenaussterben in der fernen Vergangenheit mit der heutigen Entwicklung gemeinsam haben. Diese Massenaussterben wurden nicht von Asteroideneinschlägen ausgelöst, sondern sie gehen auf eine schnelle Zunahme der von Vulkanen produzierten Treibhausgase in der Atmosphäre und die dadurch hervorgerufene globale Erwärmung zurück. Eine beängstigende neue Erkenntnis unseres Jahrhunderts: Es gibt ein durch den Treibhauseffekt verursachtes Massenaussterben (englisch greenhouse mass extinction). Diese Bezeichnung wurde bewusst gewählt, weil man damit die Ursache beschreiben wollte, die während der Massenaussterben in der Vergangenheit für den Tod der überwiegenden Mehrheit aller biologischen Arten verantwortlich war.4

Wann, wo und wie solche vom Treibhauseffekt verursachten Aussterben stattgefunden haben, lässt sich heute anhand verschiedener Daten glasklar erkennen. Für diejenigen, die solche Sirenen hören, ist die Gefahr nur allzu real. Viel zu viele andere jedoch haben die ungeheuren Lehren, die wir aus der Vergangenheit für eine mögliche Zukunft ziehen können, entweder ignoriert oder übersehen. Die Geschichte des Lebendigen bildet ein Frühwarnsystem, und dieses System sagt uns, dass wir die von Menschen verursachten Treibhausgasemissionen vermindern müssen; dagegen sagt uns die Menschheitsgeschichte, dass wir höchstwahrscheinlich die Warnungen nicht beherzigen und den Schaden nicht rückgängig machen werden, bis die Häufung klimabedingter Todesfälle unter Menschen uns keine andere Wahl mehr lässt.

Wissenschaftliche Informationen aus den Tiefen der Vergangenheit – manchmal auch als »Tiefenzeit« (englisch deep time) bezeichnet – sind der am häufigsten übersehene Einzelaspekt in der Debatte über den Klimawandel. George Santanya schrieb einen Aphorismus über die Geschichte, der so häufig wiederholt wurde, dass er mittlerweile abgedroschen ist: »Wer die Geschichte ignoriert, ist dazu verdammt, sie zu wiederholen.«5 Angesichts eindeutiger historischer Erkenntnisse über Massenaussterben, die durch einen atmosphärischen Kohlendioxidgehalt verursacht wurden, an den wir uns schon in naher Zukunft wieder annähern werden, sollten wir uns das wichtigste Wort in Santanyas Prophezeiung besonders zu Herzen nehmen: »verdammt«.

Was ist neu an dieser »neuen Geschichte des Lebens«?


Der Geschichte des Lebens kann kein einzelnes Buch jemals gerecht werden. Wir mussten eine Auswahl treffen, und diese Auswahl war im Wesentlichen durch das vorgegeben, was wir uns mit dem Wort »neu« vorgenommen hatten. Die letzte »vollständige« Geschichte des Lebendigen in einem Band wurde Mitte der 1990er Jahre von Richard Fortey verfasst, einem britischen Paläontologen und Wissenschaftsautor, und war ein Bestseller.6 Auf Deutsch ist sie unter dem Titel Leben: eine Biographie. Die ersten vier Milliarden Jahre erschienen. Forteys »Momentaufnahmen« waren großartig, und es ist noch heute eine Freude, das Buch zu lesen – oder, was uns angeht, es nahezu zwei Jahrzehnte...

Blick ins Buch

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