2. Nordirland
1169 wurde das keltische Irland von den Normannen besetzt. Diese Besatzer arrangierten sich mit den alteingesessenen gälischen Stämmen und pflegten lediglich schwache Beziehungen zu ihrer englischen Heimat. Erst unter Elisabeth I. (1533-1603) unterwarf die englische Krone fast ganz Irland (vgl. Neumann 2003: 9). Die Saat des nordirischen Konflikts ist zum grössten Teil im Verlauf des 17. Jahrhunderts aufgegangen: England wollte in Irland den protestantischen Glauben durchsetzen, unterdrückte die Bevölkerung, enteignete nordirische Grundherren und verteilte deren Land neu. Nach Elisabeths Tod begannen verstärkte Wanderbewegungen, wobei schottische und englische Siedler mit Versprechungen für Grundbesitz in den Nordosten Irlands gelockt wurden. Das besiedelte Gebiet, Ulster[3], sollte sich nach dem Willen Englands mit Hilfe der Besiedlungen nicht erneut zu einem Widerstandszentrum entwickeln. Diese Hoffnung sollte sich als trügerisch erweisen, denn von Spannungen und Zusammenstössen blieb die Region nicht verschont.
Im Gegenteil: Durch die Besiedlung wurden zwei komplett verschiedene Gemeinschaften geschaffen (vgl. Neumann 2003: 10). Die alteingesessenen Siedler lieferten sich mit den neuen Siedlern eine Reihe von erbitterten Schlachten mit vielen Todesopfern. In den späten 80er Jahren des 17. Jahrhunderts stand das Land am Rand eines grossflächigen Krieges (vgl. McCavitt 1994: 28-41). Als Folge ihres Sieges im sogenannten „War of the three Kings“ (1688-1691), konnte die protestantische Seite ihre Stellung behaupten. An den Sieg bei der Schlacht von Boyne (1690), bei welcher der Protestant Wilhelm von Oranien gegen den Katholiken James VII. den Sieg davon trug, wird jährlich während den Oraniermärschen[4] der „Marching Season“ erinnert.
Gegen die unterdrückte irische Mehrheit der Bevölkerung, die Katholiken, wurden 1695 strenge Strafgesetze, die so genannten „Penal Laws“, erlassen. Diese verboten es Katholiken, Land zu erwerben, ihre Kinder katholisch zu erziehen, der Armee beizutreten oder juristische Berufe auszuüben. Jegliche irische Kultur, Musik und Erziehung war untersagt. Irische Religion und Kultur konnten nur durch geheime Freiluftmessen und illegale Freiluftschulen am Leben erhalten werden. Starb ein Katholik, so ging sein Land zu gleichen Teilen an seine Kinder; war eines seiner Kinder zum Protestantismus übergetreten, gehörte ihm der grösste Teil (vgl. Kee 1980: 15 f.).
Das Resultat dieser Gesetze war, dass 1778 die Katholiken noch knapp 5% von Irlands Boden besassen. Die katholische Kirche in Irland starb nicht aus: Vor allem, weil die Strafgesetze in der Praxis nicht so strikt angewandt wurden, wie dies die Theorie forderte. Eine Wirkung der Repression war stattdessen, dass die grosse Mehrheit der irischen Bevölkerung sich noch stärker an die katholische Kirche - die einzige Organisation, welche sie repräsentierte – band (vgl. Kee 1980: 55).
Im 18. Jahrhundert herrschte relative Ruhe in Irland. Sie wurde 1790 gestört durch eine republikanische Rebellion, welcher die Aufstände in Nordamerika und Frankreich als Vorbild dienten. Sie änderte jedoch nichts an den bestehenden Machtverhältnissen. Neben oder auch und gerade wegen den Benachteiligungen in rechtlicher und politischer Hinsicht litt die katholische Bevölkerung besonders unter der erdrückenden Armut. Für sie war keine Besserung in Aussicht: Der „Act of Union“ von 1801 besiegelte die Vereinigung von England, Schottland, Wales und neu Irland im Vereinigten Königreich von Grossbritannien. Die Spannungen in Irland blieben bestehen und ebenso die Unterteilung in herrschende Klasse sowie Bürger zweiter Klasse, die alteingesessenen Iren (vgl. Neumann 2003: 11-13).
Im August 1845 trat eine Kartoffelfäule auf, die schwerwiegende Auswirkungen auf die irische Bevölkerung hatte. Es war der Anfang der grossen irischen Hungersnot, welche bis 1849 dauern sollte. Die britische Besatzungsmacht betrieb eine „Laissez-faire“-Politik: Die Entwicklung der irischen Wirtschaft wie auch ihrer Bevölkerung wurde so weit als möglich den Marktkräften überlassen, anstatt ihr aus ihrer Misere zu helfen. Auch jenem Teil der irisch-katholischen Bevölkerung, welcher der Union nicht negativ gegenüber gestanden hatte, stiess die Vernachlässigung durch die Besatzer sauer auf. Der britischen Regierung wurde Desinteresse für die irische Not vorgeworfen. Der Tenor lautete: Die Katastrophe wäre vermeidbar gewesen (vgl. Neumann 2003: 12-14).
Ende des 19. Jahrhunderts berieten englische Politiker über die Irlandfrage und hatten zwei mögliche Lösungsansätze für die grüne Insel: Erstens dachten sie an „Home Rule“, was zumindest in den wichtigsten Punkten irische Unabhängigkeit bedeutet hätte, freilich ohne die Verbindung zu Grossbritannien zu lösen. Zweitens stand eine Direktverwaltung Irlands von London aus zur Debatte. Vorerst wurde der zweite Weg gewählt, aber als die Machtverhältnisse in England 1912 änderten, - die „Liberalen“ waren zurück an der Macht - stand „Home Rule“ wieder auf der politischen Agenda. Die Ankündigung der Einführung einer moderaten Version von „Home Rule“ führte zur Formierung sowohl unionistischer als auch nationalistischer paramilitärischer Organisationen (vergleiche dazu Kapitel 2.4.6), um die eigenen Anliegen durchzusetzen. Die Aufrüstung der rivalisierenden Parteien radikalisierte und militarisierte den Konflikt. Es konnte kein gemeinsamer Nenner gefunden werden und ein Bürgerkrieg wurde lediglich durch den Ausbruch des Ersten Weltkriegs verhindert. Der irische Osteraufstand (1916) wurde brutal niedergeschlagen.
1919 begann der irische Unabhängigkeitskrieg, den die Irish Republican Army (IRA) in einem Guerilla-Krieg gegen die britische Besatzung führte und welcher 1921 mit einem Waffenstillstand endete. Die Friedensgespräche mündeten im Englisch-Irischen-Vertrag (Anglo-Irish-Treaty), welcher einen irischen Freistaat beschloss, bestehend aus den 26 Grafschaften (Counties) Irlands mit einer katholischen Mehrheit. Sechs nordöstliche Grafschaften mit protestantischer Mehrheit verblieben beim Vereinigten Königreich und bilden das heutige Nordirland (vgl. Hennessey 1997: 19-21).
2.1 Nordirland seit 1921 bis zur Eskalation des Konflikts
Den irischen Nationalisten stiess die Abspaltung der 6 Grafschaften des irischen Nordens sauer auf. Sie boykottierten Güter aus Belfast und versuchten alle wirtschaftlichen Beziehungen zwischen Norden und Süden zu unterbinden. Die IRA führte eine gewaltsame Offensive durch, um den Norden zu brechen. Die Unionisten Nordirlands reagierten darauf mit der Etablierung einer Spezialeinheit, den B-Specials. Die neu gebildeten Polizeieinheiten wurden dazu eingesetzt, die konfessionelle Trennung und die mit diesen Umständen einher gehende Diskriminierung der katholischen Bevölkerung durchzusetzen. Alleine im August 1922 wurden infolge anhaltender Gewalttätigkeiten in Nordirland 8000 katholische Arbeiter aus ihren angestammten Berufen gedrängt. Zu dieser Zeit lebten in Nordirland ungefähr 820`000 Protestanten sowie 430`000 Katholiken (vgl. Kennedy-Pipe 1997: 20/21). Die unionistische Partei (Unionist Party) sorgte für eine nordirische Politik, welche die katholische Minderheit systematisch von höheren Positionen in Wirtschaft und Politik ausschloss. Die britische Regierung wusste von der Diskriminierung, beschloss jedoch, die irischen Probleme bei den Iren zu belassen. Es sollte so wenig Einfluss wie möglich genommen werden. Die Nordirlandfrage verlor danach in der englischen Politik kontinuierlich an Bedeutung (Bew/Gibbon/Patterson 2002: 20-22).
Nordirlands strategisch wichtige Stellung als Basis für Amerikaner und Kanadier während dem Zweiten Weltkrieg begünstigte die nordirische Situation und brachte das Thema zumindest zeitweilig auf die politische Agenda Westminsters[5]. Dies vereinfachte die Verabschiedung des „Ireland Act“ von 1948, welcher Nordirland den Verbleib im Vereinigten Königreich garantierte, so lange dies vom nordirischen Volk gewünscht werde. Um 1960 war Nordirland für die britische Regierung wieder einigermassen irrelevant geworden, sowohl wirtschaftlich als auch politisch. Nordirland wurde seitens der britischen Regierung wenig bis keine Beachtung geschenkt: Der Nordirlandkonflikt kam deshalb für Westminster ziemlich überraschend (vgl. Neumann 2003: 14 f.).
Als sich Mitte der 70er Jahre die Demonstrationen der katholischen Bevölkerung Nordirlands für gleiche Rechte und die Bürgerunruhen häuften, war Westminsters Reaktion Ungläubigkeit, Unsicherheit und vor allem Zurückhaltung (vgl. Neumann 2003: 16). Zwischen 1968 und 1972 bildete sich in der katholischen Bevölkerung eine geeinte Gemeinschaft, welche politisch aktiv war und bereit, wenn nötig gewaltsam für ihre Anliegen einzutreten. 1972, während einer weiteren unbewilligten Bürgerrechtsdemonstration gegen durchgeführte Internierungen („Internments“[6]) von Katholiken, tötete eine Spezialeinheit der britischen Armee 13 unbewaffnete Katholiken, was zu Racheaktionen der IRA führte, und als eigentlicher Beginn des (gewaltsamen) (Nordirland-)Konflikts angesehen wird. Dieses Ereignis ging in die Geschichte ein unter der Bezeichnung „Bloody Sunday“ (vgl. Bew/Gibbon/Patterson 2002: 138 f.).
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