2Reflexe
Es kann davon ausgegangen werden, dass viele Menschen in dem Maße bereit sind, sich für etwas zu engagieren, in dem für sie ein erwünschtes Ergebnis erklärbar und vorhersehbar ist. Dieses Kapitel lässt verständlich werden, wie das Autogene Training oder auch andere Entspannungsverfahren zuverlässig wirksam werden können.
In der Psychologie wird zwischen sogenannten angeborenen und erlernten Reflexen unterschieden. Die vererbten Reflexe bekommen wir in die Wiege gelegt. Sie sind kaum durch den Willen beeinflussbar und verlaufen in unbewussten Prozessen des Körpers. Erlernte Reflexe werden im Laufe des Lebens in großer Zahl eingeübt und erleichtern den Alltag ganz entscheidend.
Beiden Arten ist gemeinsam, dass sie – durch einen Reiz ausgelöst – immer die gleiche, mit diesem Reiz verbundene Reaktion zeigen. Der wesentliche Vorteil eines solchen Reiz-Reaktions-Geschehens liegt in der Geschwindigkeit, in der es abläuft. Der auslösende Reiz muss nicht erst in das Bewusstsein gemeldet und von dort geprüft und genehmigt werden, sondern allein sein wahrgenommenes Auftreten genügt zur Auslösung der Reaktion.
Das Fehlen einer Wahlmöglichkeit beschleunigt diesen Vorgang ebenfalls. Fliegt beispielsweise eine Mücke auf Ihr geöffnetes Auge zu, so zieht das Gehirn nicht etwa in Erwägung, eventuell mit der Hand oder gar einer Fliegenklatsche der Gefahr beizukommen, sondern es wird auf jeden Fall das Lid geschlossen und somit der Zugang zum Auge versperrt. Begegnen Sie einer solchen Gefahr für die Gesundheit Ihres Auges öfters, wird das Großhirn vielleicht bewusst das Tragen einer Schutzbrille anordnen, der Reflex wird dadurch aber zunächst keineswegs ausgesetzt. Auch wenn Sie hinter einer sicheren Glasscheibe stehen und etwas bewegt sich unvermittelt auf Ihr Auge zu, wird der Reflex versuchen, Sie zu schützen. Selbst wenn Sie wissen, dass er unnötig ist, weil eine Mücke nunmal gegen eine Scheibe aus Glas wenig Chancen hat, kann der Reiz die Schutzreaktion wieder auslösen.
Unser Alltag wird durch die Wirksamkeit einer großen Zahl erlernter Reflexe überhaupt erst bewältigbar. Der Ablauf jeglicher Handlung wird nach einer relativ kurzen Zeit der Einübung durch den Aufbau von Reflexen erleichtert und ganz wesentlich beschleunigt.
Wenn Sie sich an die Zeit zurückerinnern, in der Sie das Schreiben lernten, so sehen Sie sich vielleicht in einer Schulbank oder bei der Hausarbeit sitzen und mehr oder weniger mühevoll Buchstaben malen. Und das haben Sie einige Wochen und Monate sehr häufig getan, bevor es langsam zu einem befriedigenden Ergebnis wurde.
Heute schreiben Sie seit vielen Jahren, ohne darüber nachzudenken, wie die einzelnen Buchstaben geschrieben werden: »… links unten anfangen, dann schräg nach oben rechts, von dort einen halben Bogen, wieder zurück, in der anderen Richtung den Kreis schließen, in einer Geraden an der rechten Seite von oben nach unten und nach rechts in einem Bogen auslaufen lassen.« So könnten die Gedanken aussehen, die das Schreiben eines »a« kommentieren, wenn man es über bewusstes Denken lenken müsste. Das »a« ist nur einer von vielen Buchstaben, die Sie im Laufe der ersten Jahre Ihrer Schulzeit erfolgreich eingeübt haben. Neben den Buchstaben gibt es aber auch noch viele Zahlen.
Andere alltägliche Beispiele lassen sich bei Tätigkeiten beobachten, die ebenfalls komplex aus vielen Einzelreflexen zusammengesetzt sind, wie beim Fahrradfahren, Schwimmen, Schlittschuhlaufen, einen Tisch decken, Schränke aufräumen, Bügeln, Wäsche aufhängen und so weiter. All das läuft »automatisch« ab, während wir nebenher an ganz andere Dinge denken, fernsehen oder uns mit jemandem unterhalten. Diese Beispiele zeigen auf, wie zuverlässig gut eingeübte Handlungen funktionieren. Deshalb ist es so wichtig, das Autogene Training regelmäßig einzuüben.
Unterbrechungen in diesen Abläufen entstehen nur, wenn die vorhandenen Reflexe gestört werden. Wenn Sie beispielsweise in ein Auto umsteigen, in dem die Bedienelemente anders angeordnet sind oder gar die Gangschaltung eine andere ist. Wenn etwas so Unwichtiges wie die Zahnbürste nicht an der gewohnten Stelle steht, wird sie wichtig, und Sie erhalten Gelegenheit festzustellen, wie wenig Sie sonst darüber nachdenken müssen.
Für das Autogene Training werden keine körperlichen Bewegungen erlernt. Es werden Wahrnehmungen des Körpers mit der dabei vorhandenen Entspannung verbunden. Das Ergebnis ist umso stabiler im Unbewussten verankert, je regelmäßiger Sie sich in der Entspannung darauf konzentrieren. Man könnte sagen, es sind geistige Bewegungen, die durch geduldige Anwendung zu zuverlässigen Reflexen verwoben werden.
Die beschriebenen Reflexe, die z. T. sehr komplex aneinandergefügt sind, sind also nicht angeboren, sondern werden im Laufe des individuellen Lebens (meistens unbewusst) erlernt. Registriert werden sie in der Alltagssprache als Handlungsabläufe, die »automatisch« funktionieren. Das heißt im Allgemeinen, dass eine Tätigkeit immer wieder ausgeübt wird, wobei wir alle die Erfahrung gemacht haben, dass sie immer besser »von der Hand geht«, je häufiger wir sie tun.
Es wird in jedem einzelnen Fall eine Verbindung zwischen auslösendem Reiz und der darauffolgenden Reaktion hergestellt. In der Psychologie wird der Vorgang, in dem die erworbenen Reflexe eingeübt werden, »Konditionierung« genannt. Es gibt eine Formel, die die Beziehung zwischen Auslöser und Reaktion deutlich abbildet:
S → R
S = auslösender Reiz (= Stimulus)
R = Reaktion
Ein auslösender Reiz ruft eine bestimmte Reaktion hervor. Je häufiger der Reiz zusammen mit der Reaktion verbunden wird, desto zuverlässiger löst der Reiz diese Reaktion aus.
Dieser Zusammenhang besteht auch in schwierigen Situationen, falls die Verbindung zwischen beiden fest genug ist. Das wiederum hängt fast vollständig davon ab, wie regelmäßig und häufig Reiz und Reaktion zusammen auftraten.
Das wohl bekannteste »Opfer« der Experimentierfreudigkeit der Wissenschaftler auf diesem Gebiet ist der Hund des russischen Physiologen und Nobelpreisträgers I.P. Pawlow. Wie jeder normale Hund reagierte auch dieser auf das Sehen oder Riechen von Futter mit erhöhter Speichelsekretion. Pawlow bot nun unmittelbar vor der Gabe von Futter den Ton einer Glocke an. Nach einer ausreichend häufigen gleichzeitigen Darbietung genügte schließlich der Ton der Glocke, um den Speichelfluss auszulösen.
Der angeborene Reflex, der den Geruch des Futters als Reiz und den Speichelfluss als Reaktion hatte, wurde benutzt, um einen anderen Reflex zu erlernen. Der erlernte Reflex bestand aus dem Reiz des Tones und der Reaktion der Speichelsekretion.
Kurz zusammengefasst, kann der Vorgang in Symbolen abgebildet werden:
Geruch des Futters | → | Speichelsekretion |
Geruch des Futters + Ton | → | Speichelsekretion |
Der Ton wird also eine Zeitlang jeweils dann dargeboten, wenn Futter angeboten wird. Dadurch entsteht im Gehirn des Hundes eine immer fester werdende Verbindung zwischen dem Geruch des Futters und dem Ton der Glocke. So genügt es nach einiger Zeit, lediglich den Ton anzubieten, um den Speichelfluss auszulösen:
Auf das Autogene Training angewandt, bedeutet das:
Das Training der Körperwahrnehmung mit Hilfe der Formeln hat den gleichen Effekt wie das häufige gleichzeitige Darbieten von Futter mit dem Ton der Glocke. Nur ist bei uns nicht etwa Speichelfluss das Ziel, sondern die Fähigkeit, zuverlässig und rasch eine tiefe Entspannung auch in schwierigen Situationen hervorrufen zu können, verbunden mit all ihren positiven Konsequenzen. Und genau dafür sind Reflexe in uns zuständig: Bei einer roten Ampel müssen alle beteiligten Instanzen unseres Körpers sofort alle notwendigen Reaktionen ablaufen lassen. Schnell und ohne störende Überlegungen. Wenn wir in tiefes Wasser fallen, haben wir keine Zeit, uns zu überlegen, wie das mit den Schwimmbewegungen eigentlich sein soll. Unser Körper reagiert zum Glück so, wie er es (hoffentlich) eingeübt hat, und rettet unser Leben.
Spüren wir also ausreichend häufig den Körper so, wie es innerhalb der Formeln angeregt wird, gleichzeitig mit der Entspannung, so...