3 Die Ego-State-Therapie als Beispiel für ein Teilekonzept
Die von John und Helen Watkins in der 70er-Jahren des letzten Jahrhunderts entwickelte »Ego-State-Therapie« ist ein Verfahren innerhalb der hypnotherapeutischen Therapiefamilie. Aber die klassische Version dieser Therapie ist in ihrem Denken nicht hypnosystemisch und in ihrer Theoriebildung heute als Hypnoanalyse aus dem letzten Jahrhundert veraltet – sie bedarf einer Weiterentwicklung. Für mich ist sie aber weiterhin eine sehr hilfreiche Methode zur Behandlung schwer gestörter traumatisierter Klienten und »ein Instrumentarium therapeutischer Vorgehensweisen und Strategien« (Watkins u. Watkins 2003, S. 23), allerdings kein geschlossenes Theoriekonzept.
Ich stelle sie hier dennoch vor, weil ich Ihnen einen Eindruck vom Teiledenken an sich vermitteln will und ich mich durch meine Weiterbildung in der Ego-State-Theorie darin – im Gegensatz zur Transaktionsanalyse oder der Schematherapie usw. – am besten auskenne. Wenn man die Unterschiede im Denken markiert, wird es leichter, die hypnosystemische Teiletherapie davon abzugrenzen – frei nach dem Filmtitel Same same but different, einer leidvollen Liebesgeschichte zwischen zwei jungen Menschen aus zwei unterschiedlichen Welten und unvereinbaren Denkmustern – Deutschland und Kambodscha.
Beginnen wir mit einer eher poetischen Einstimmung:
»Jeder von uns ist mehrere, ist viele, ist ein Übermaß an Selbsten. Deshalb ist, wer seine Umgebung verachtet, nicht derselbe, der sich an ihr erfreut oder unter ihr leidet. In der weitläufigen Kolonie unseres Seins gibt es Leute von verschiedenster Art, die auf unterschiedlichste Weise denken und fühlen« (Fernando Persona, 1932).
3.1 Ego-State-Therapie – ein Mixtum compositum
Wie der Name Ego-State ausdrückt, bezeichnet man damit einen erworbenen Ichzustand oder eine Teilpersönlichkeit, die je nach sozialer Interaktion oder subjektiver Befindlichkeit mit spezifischen beobachtbaren Fähigkeiten und Ausdrucksformen aktiv ist. So habe ich, Jochen Peichl, neben dem zurzeit exekutiven Ichzustand des schreibenden Theoretikers noch eine ganze Reihe von Anteilen in mir, z. B. einen Hobbykoch, einen Weltenbummler, einen Spaßvogel, aber auch einen oft ungeduldigen kleinen Jungen. In der Regel leben wir alle gut mit unseren Inneren Teams und merken das Wechseln zwischen den Ichzuständen gar nicht – höchstens vielleicht als Stimmungsschwankungen.
In der Literatur findet sich immer wieder der Versuch, die unendlich große Vielfalt an Ego-States (EST) in Gruppen zu ordnen. Folgende Gruppen werden beschrieben:
•ressourcenreiche Anteile
•durch Trauma verletzte, abgespaltene oder unterdrückte Anteile
•symptomtragende Anteile
•verfolgende und »bösartige« Anteile
•Anteile, die unbewusst sind und traumatische Erfahrungen aufbewahren
Jeder erfüllt in einem ganzheitlichen Sinne eine Funktion im inneren System und verfolgt eine konstruktive Aufgabe – alle Teile sind gekommen, um zu helfen.
Eine Einteilung nach der Phänomenologie möchte ich noch ergänzen:
•bewusst zugänglich versus unbewusst, nur durch Hypnose zu aktivieren
•biografisch belegbare Ego-States versus Ego-States mit Funktionen und Stärken ohne biografischen Bezug (z. B. »die innere Stärke«, »die innere Weisheit«)
•positiv unterstützende versus scheinbar übelwollende, destruktive States
Ego-State-Therapie ist in der Diktion ihrer Schöpfer Helen und John Watkins eine hypnoanalytische Methode, die die Arbeit mit »Ego-States« in das Zentrum ihrer Hypothesen über den Aufbau und die Funktionen der menschlichen Psyche setzt – im Gegensatz zur Transaktionsanalyse, die viel breiter aufgestellt ist. Die Ego-State-Therapie, so heißt es, versteht sich als »tiefenpsychologisch fundierte Handhabung von Hypnose« (Zindel 2001, S. 325; s. auch Watkins 1992) – eine Aussage, die nicht ohne ist, zumal es scheint, dass die tiefenpsychologische Orientierung in der Gemeinde der EST-Therapeuten über die letzten Dekaden immer mehr verloren gegangen ist – zugunsten der Zunahme ericksonscher Paradigmen.
Die Ego-State-Therapie der beiden Watkins ist an sich ein Mixtum compositum aus folgenden Konzepten:
•Konzept der Ichzustände des Psychoanalytikers und Freudschülers Paul Federn und seines Kollegen Eduardo Weiss
•Konzept der psychischen Energien aus der Frühphase der Psychoanalyse und dessen Erweiterung in Richtung Ich- und Objektbesetzung durch Paul Federn
•Hilgards Neodissoziationstheorie und seine Untersuchungen zum »Hidden Observer«
•Theorie der Dissoziationen von Pierre Janet
•Konzepte aus der Familien- und Gruppentherapie und dem Monodrama nach Jacob Moreno
Die Watkins strebten es an, eine Theorie zu erarbeiten, »welche eine Brücke herstellen kann zwischen dem normalen Funktionieren der Persönlichkeit und den extremen Formen der Dissoziation, wie sie sich bei den Multiplen Persönlichkeitsstörungen, den Amnesien und den Fugue-Zuständen finden« (Watkins u. Watkins 2003, S. 14). Für dieses Kontinuum zwischen adaptiver Differenzierung und pathologischer Aufspaltung spielt die Dissoziation eine entscheidende Rolle. Was die Dissoziation angeht, beruft sich Watkins auf die Forschungstradition von Janet (1889) und Hilgard (1986), die man als »Konkurrenzunternehmen« zum freudschen Ansatz auffassen kann. Auch hier scheint das tiefenpsychologische Denken in den letzten Jahren dem hypnotherapeutischen zu weichen – eine Tendenz, die generell für die Traumatherapie gilt, seitdem sich Ellert Nijenhuis und Kollegen (2008) in der »Strukturellen Dissoziationstheorie« wieder auf Pierre Janet und nicht mehr auf Freud berufen.
3.2 Ego-States: ontologische oder epistemologische Konstrukte?
Haben die Ego-States wirklich eine ontologische Wirklichkeitsberechtigung? Werden Ego-States durch die Hypnose aufgedeckt oder erzeugt? Bei Klienten mit »Multipler Persönlichkeitsstörung« (MPS)3 scheint die Antwort für Watkins & Watkins klar: Hier bräuchten wir keine Hypnose, da die Persönlichkeitsanteile (engl. »alters«) spontan auftreten – was nach meiner Erfahrung so nicht stimmt.
Und bei uns »Normalneurotikern«? Bei suggestiven Fragen ist Vorsicht geboten, um nicht »künstliche Gebilde« hervorzubringen. Über Ichzustände bei Normalpersonen schreibt Watkins: »Die Anerkennung der Tatsache, dass solche Entitäten (!) in normalen Individuen existieren (!), ist nicht ohne bedeutsame Konsequenzen für die Theorie und Therapie der menschlichen Persönlichkeit« (Watkins u. Watkins 2003, S. 126, Hervorhebung d. Autors). Auf diese Neigung der Ego-State-Therapeuten zur Ontologisierung und Reifikation möchte ich später noch eingehen, da diese immer wieder für Diskussionen und Ablehnung durch die Hypnosystemik sorgt.
Die Ego-State-Theorie, wie sie von Watkins konzipiert und von seinen Schülern noch heute gelehrt wird, ist ein Therapiemodell, in dem die Begegnung mit den inneren Anteilen in einem Zustand der Trance (meist nach formaler Tranceinduktion) den zentralen Aspekt darstellt. Diese Art der Beziehungstherapie innerer Anteile wird als extrem heilsame Kraft verstanden. Es geht um einzelne Anteile (Ego-States), ihre spezifischen Funktionen, ihre Geschichte in der Biografie, ihre Grundbedürfnisse und ihr Entwicklungsniveau. Diese Fokussierung auf die einzelnen Ego-States und das Individuelle ihrer Entität unterscheidet sich deutlich von der Zielrichtung einer hypnosystemischen Teiletherapie – wie ich in den folgenden Kapitel noch ausführen werde. Der Unterschied lässt sich folgendermaßen verdeutlichen: Ego-State-Therapie ist im Kern ein tiefenpsychologisches, an der Genese orientiertes und monolineares Konzept. Genuin systemische und konstruktivistische Überzeugungen (z. B. Kybernetik zweiter Ordnung) spielen kaum eine Rolle.
Der Dissoziationsbegriff
Dissoziation ist ein Konstrukt, dem viele Modellvorstellungen zugrunde liegen. In der Lesart der Watkins stellen »Differenzierung und Dissoziation einfach einen verschiedenen Grad des ›Trennungs- und Unterscheidungsprozesses‹ dar« (Watkins u. Watkins 2003, S. 48). In einem Kontinuumsmodell ist Differenzierung eine nützliche Fähigkeit zur adaptiven Anpassung – die extreme Form der Differenzierung, die Dissoziation, aber pathologischen Ursprungs. Diesem sog. quantitativen Modell der Dissoziation widersprechen aber Studien, die von einem qualitativen Unterschied zwischen normaler Absorption oder Alltagstrance und der pathologischen Dissoziation bei...