3Dissoziation, ein Schutzmechanismus zum Überleben
»Ich-fremd, Fremd-Körper; Wieder und wieder, durchtrennt, Die Verbindung vom Selbst; Verlassenes Land, In Nacht und Schatten, Versunken; Wieder, Und wieder, Hoffnungsloses, Bemühen, Das Durchtrennte, Zu überbrücken und, wieder zu beleben, Das wie tot, Daliegende.
Auf immer, Verloren, Im Nirgendwo, Körperlos, Kein Halten, Kein Halt; Verloren, Das versunkene Land, Das Sein, Fremd, Fremd-Körper; Ich-fremd.«
(Gedicht einer 43-jährigen Patientin)
3.1 Das Kontinuum von der normalen zur pathologischen Dissoziation
Die Bezeichnung »Dissoziation« kommt aus dem Lateinischen: dissociare = »trennen, scheiden«. Normale dissoziative Erlebnisse treten im Alltagsleben häufig auf; denken wir an ein Lied, das uns wie ein Ohrwurm nicht mehr aus dem Kopf geht; das Versunkensein in ein Buch, ohne dass wir das Draußen wahrnehmen; das automatische Autofahren; den zerstreuten Professor, der den Regenschirm stehen lässt, weil seine Gedanken auf seine Arbeit konzentriert sind und er den Schirm ausgeblendet hat.
M. Phillips und C. Frederick (2003, S. 30) beschreiben ein »dissoziatives Spektrum«, ein Kontinuum der Dissoziation von der normalen zur pathologischen Dissoziation.
Dissoziation während einer traumatischen Erfahrung ist normal, ein Schutzmechanismus, den fast alle Menschen während eines traumatischen Erlebnisses benutzen. Viele Betroffene berichten, das Erlebte beobachtet zu haben, ohne selbst beteiligt gewesen zu sein und ohne Gefühle aktuell wahrgenommen zu haben.
Zur pathologischen Dissoziation gehören Störungen wie Amnesie nach Hirntrauma (organische Dissoziation), hysterische Blindheit oder Lähmung, Depersonalisationsstörungen, Derealisation, die nichtorganische Amnesie. Klinische Syndrome wie Depression, Essstörung, Zwangs- und Panikstörung können durch chronische Dissoziation entstehen (ebd.). Am Ende des Kontinuums und als extreme Folgeerscheinung der Dissoziation befindet sich die dissoziative Identitätsstörung.
Pathologische nichtorganische Dissoziationen sind meist durch in der Kindheit erlebte extreme Traumata entstanden (Terr 1990). Die Dissoziation verhindert die Integration des traumatischen Ereignisses in das autobiografische Gedächtnis, während das normale Gedächtnis die Elemente jedes Erlebnisses mittels eines komplexen Assoziationsprozesses in den kontinuierlichen Fluss des Selbsterlebens integriert.
Beim Trauma wird das Erlebte nicht bewusst wahrgenommen, aber in unserem Erinnern gespeichert (siehe Abschn. 3.1). Das Bewusstsein und das Körperempfinden im Hier und Jetzt werden abgespalten, damit sind die Betroffenen nicht den unerträglichen Gefühlen, dem unerträglichen Schmerz ausgesetzt. Der »dissoziative Käfig« (Scaer 2014) ist ein Überlebensschutz.
3.2 Dissoziation: ein grundlegender Konflikt – Das Dissoziationsmodell von Nijenhuis
E. Nijenhuis (2016) beschreibt und bewertet die Dissoziation in seinem umfassenden Werk Trauma-Trinität als einen grundlegenden Konflikt, einerseits das Leben nach einem Trauma so weiter führen zu wollen wie bisher, und andererseits, die eigene psychische und physische Existenz gegenüber den traumatischen Erfahrungen, Erinnerungen verteidigen zu wollen. Bei chronischer Kindesmisshandlung, Missbrauch und emotionaler Vernachlässigung interagieren folgende komplexe Willenskonflikte miteinander und untereinander:
•verschiedene Willensimpulse des alltäglichen Lebens
•komplexe Willensimpulse, schwerwiegende Belastungen zu überleben
•Willensimpulse, das eigene Schicksal in einer belastenden materiellen und sozialen Umwelt zu beeinflussen.
Der dadurch in Patienten entstehende Konflikt wird umso größer, je geringer jeweils die Fähigkeit ausgebildet ist, die traumatischen Erfahrungen und Erinnerungen in die eigene Persönlichkeit zu integrieren – umgekehrt proportional zum traumatischen Ereignis.
Bei der traumabedingten Dissoziation bilden sich ein oder mehrere Subsysteme heraus, die sich aus der Befriedigung basaler Grundbedürfnisse entwickelt haben (vgl. Abschn. 10.2).
Fallbeispiel 4 (Patientin mit dissoziativer Identitätsstörung und körperlichen Beschwerden nach rituellem Missbrauch in der Kindheit)
M., 28 Jahre, weigerte sich bei den stationären Aufnahmen in die Klinik, sich auszuziehen und ärztlich untersuchen zu lassen. Zu bestimmten Zeiten (zu Herbstanfang, in den »Raunächten«) waren die krankhaften Symptome besonders stark und verlangten eine stationäre psychosomatische Behandlung. Bei den Aufnahmeuntersuchungen geriet sie in Panik und floh erschreckt aus dem Behandlungszimmer. Sie konnte sich nicht selbst berühren. Das Duschen ließ sie gefühllos über sich ergehen, nur so konnte sie die Berührung des Wassers ertragen. Ihr Spiegelbild war für sie unerträglich. Sie verhängte den Spiegel in ihrem Krankenzimmer und in der Nasszelle mit einem Tuch. Eine hetero- oder gleichgeschlechtliche Beziehung war ihr unmöglich. Sie fühlte sich so wertlos und ekelerregend, körperlich verunstaltet und beschmutzt, so sehr nicht wert, zur menschlichen Gemeinschaft zu gehören, dass sie ihren Körper missachtete. Seine Unversehrtheit war ihr egal.
M. litt an einer dissoziativen Identitätsstörung, nachdem sie von frühester Kindheit an bis zur Pubertät rituell missbraucht worden war (von mehreren Männern, einschließlich ihres Vaters). Erst als sie 20 war, tauchten Erinnerungen an die furchtbare Kindheit auf.
In den oft Tage anhaltenden dissoziativen Phasen empfand M. ein Gefühl des inneren Chaos, der völligen Desorientierung. In diesem Zustand fand sie nur mit Mühe nach Hause, wenn sie unterwegs war. Häufig seien ihr dabei kleinere Unfälle passiert. In ihrem Inneren waren zahllose Gestalten in Aufruhr, die wild durcheinanderredeten und umherrannten. Ihr Zustand versetzte sie in Panik, sie war unfähig, zu denken und zu handeln. Damit verbunden waren eine ungeheure körperliche Mattigkeit, das Gefühl, kaum Luft zu bekommen, Schmerzen in Brust- und Bauchbereich, Magenkrämpfe und Übelkeit. Arme und Beine, Brust- und Bauchgegend waren bei Berührung bretthart, etwas anderes konnte sie nicht wahrnehmen. Während der dissoziativen Phasen konnte sie nur unter quälenden Schmerzen ihre steifen Glieder bewegen.
Mit größter Mühe bewältigte sie ihren Alltag. Ihre Umgebung aber nahm ihren furchtbaren inneren Zustand nicht wahr. Sie selbst empfand sich, als wäre sie weit weg, nur innere Gestalten, die sich im Laufe der Therapie äußerten und Eigenschaften besaßen, die sie unterstützten, erhielten eine minimale Lebensfunktion aufrecht.
Im Laufe des Therapieprozesses traten mehrere Gestalten an die Oberfläche, manchmal waren es Einzelgänger, manchmal auch ganze Gruppen, die zerstörerisch wirkten, gegen die Patientin selbst oder andere gerichtet waren.
Am schlimmsten, so empfand M., seien »die wilden Krieger«. Sie seien gewalttätig, verlangten mitunter unerträgliche Opfer von ihr, beispielsweise ein Stück Haut oder einige Tropfen Blut. Außerdem forderten sie, sich ihrem Glaubensbekenntnis unterzuordnen und es mehrmals am Tag aufzusagen. Die Angst vor erneuten Qualen und die Panik waren nicht auszuhalten, wenn sie den Forderungen nicht nachkam. Von ihr wahrgenommene, zwanghaft wiederholte innere Sätze wie »Ich will tot sein!« brachten M. zur Verzweiflung. Sie konnte sich dem Druck, diesen Aufforderungen nachzukommen, kaum entziehen, und mehrmals war sie nahe dran, ihm nachzugeben.
Mehrere innere Gestalten, M. nannte sie »die Kinder«, fühlten sich ohnmächtig und hilflos, sie litten und produzierten körperliche Schmerzen. In ihrem Bedürfnis, wahrgenommen zu werden, weinten und schrien sie, riefen verzweifelt nach Schutz und danach, angenommen sein. Um gefürchtete (weitere) Pein zu kontrollieren, setzten sie physisches Verteidigungsverhalten ein, sie produzierten viszerale Symptome, Übelkeit, Magenschmerzen, Appetitverlust oder Bewegungsschmerzen im Rücken, in Armen und Beinen. Dies konnte so weit führen, dass sich M. kaum noch vorwärtsbewegen konnte, wie gelähmt war.
Eine Gestalt, ein anscheinend normaler Persönlichkeitsanteil trat zuweilen in der größten Not und bei tödlichem äußeren Schweigen der zerstörerischen und verletzten Anteile an die Oberfläche, um den Kontakt mit der Therapeutin aufrecht zu erhalten. In der Vermeidung der traumatischen, für M. nicht mehr aushaltbaren Erinnerungen hatte sie es sich zur Aufgabe gemacht, die »Kranken auf einer Krankenstation zu betreuen«. Sie übernahm die Vermittler- und Beobachterrolle.
Diese Wahrnehmungen – hinsichtlich der aktuellen Wirklichkeit und der...