1 Theoretischer Hintergrund des Trainingsprogramms
Zunächst wird auf das Konzept »Empathie« näher eingegangen. Dabei wollen die Autoren die Frage beantworten, was Empathie eigentlich ausmacht. Die Autoren formulieren dazu eine Definition mit Bezug zum aktuellen Kenntnisstand in der Psychologie und stellen ein integratives Rahmenmodell vor, das sogenannte »Empathie-Prozessmodell« (EPM) ( Kap. 1.1). Das EPM bildet auch den theoretischen Hintergrund für unser Training und eröffnet die Möglichkeit, auch ungünstige, dysfunktionale Formen emphatischen Reagierens zu verstehen. Solche dysfunktionalen Formen fassen die Autoren unter dem Konzept des »empathischen Kurzschlusses« (EKS) zusammen, der anschließend ausführlich beschrieben wird ( Kap. 1.2). Genau in der Verhinderung des Auftretens des EKS im Arbeitsalltag der sozialen Berufe liegt ein Hauptziel unseres Trainings. Um dieses Ziel zu realisieren, werden in unserem Training Elemente der Gewaltfreien Kommunikation (GFK) eingesetzt. Die Grundzüge dieser Interventionsmethode werden ebenfalls in diesem Kapitel erläutert ( Kap. 1.3).
1.1 Was ist Empathie?
Ein Training zur Empathie muss sich natürlich auch mit dem auseinandersetzen, was Empathie eigentlich ist. Der Begriff Empathie wird sowohl in der Wissenschaft häufig untersucht als auch im privaten Alltag häufig gebraucht. Es scheint zunächst jedem klar, was darunter zu verstehen ist und bedarf in der Alltagskommunikation keiner weiteren Erklärung. Wird das Konzept allerdings genauer betrachtet, fallen viele offene Fragen auf: Handelt es sich bei Empathie beispielsweise eher um eine Art einfühlsames Verstehen oder direkt um ein Mitleiden? Heißt Empathie, dass ich mein Gegenüber verstehe oder auch, dass ich dasselbe fühle wie er oder sie? Es wundert daher nicht, dass in der psychologischen Wissenschaft der Begriff kontrovers diskutiert wird und sich unterschiedliche Definitionsansätze finden.
In der aktuellsten Auflage des »Dorsch« (Wirtz, 2013), dem renommiertesten und am meisten verbreiteten Lexikon der Psychologie, findet man folgende Definition: »Empathie ist die Fähigkeit zu kognitivem Verstehen und affektivem Nachempfinden der vermuteten Emotion eines anderen Lebewesens« (Altmann, 2013, S. 447). Die hier beschriebene Unterscheidung zwischen dem kognitiven/gedanklichen und affektiven/emotionalen Aspekt der Empathie hat sich in der Psychologie bis zum heutigen Tage durchgesetzt. Daher wird häufig differenziert in kognitive Empathie und affektive Empathie.
Der kognitive Aspekt der Empathie beschreibt das intellektuelle, rein gedankliche Verstehen und Nachvollziehen-Können. Hier ist also die Perspektivübernahme wichtig, nicht die Emotionen. Wenn sich beispielsweise die Partnerin eines Freundes von ihm trennt, ermöglicht mir meine kognitive Empathie, seine Situation durch gedankliches Nachvollziehen zu verstehen. Ich kann also vermuten, dass er traurig und verunsichert ist und die Befürchtung hat, für den Rest seines Lebens allein sein zu müssen. Die kognitive Perspektivübernahme kann sich also auch auf Emotionen der anderen Person beziehen, aber sie bleibt eine rational-logische Betrachtung. Die Gefühle der anderen Person werden gedanklich erschlossen und abgeleitet, nicht mitgefühlt.
Der affektive Aspekt beschreibt, dass man selbst gleiche oder zumindest ähnliche Emotionen erlebt, wie das Gegenüber. Dadurch kommt es zustande, dass das eigene Fühlen mehr zur Situation des Gegenübers passt, als zur eigenen (Hoffman, 2000). So bin ich beispielsweise ebenfalls traurig, wenn mir eine Freundin erzählt, wie traurig sie ist, weil ihr Vater verstorben sei. Die Traurigkeit passt natürlich besser zu ihrer Situation, aber ich fühle sie affektiv-empathisch mit und bin daher auch traurig. Die Gefühle meines Gegenübers können mich also anstecken, sodass ich ebenso fühle. Diese Gefühlsansteckung (Hatfield, Cacioppo & Rapson, 1994) wird als ein wichtiger neuronaler Mechanismus in der Empathie angesehen. Sie läuft meist ohne bewusstes Verstehen oder Nachvollziehen der Situation des Gegenübers ab (Manera, Grandi & Colle, 2013). Interessant ist hier auch die neuere Hirnforschung. Man konnte nachweisen, dass das Gehirn über sogenannte Spiegelneurone verfügt, die schon allein durch die Wahrnehmung einer anderen Person die Körperhaltung, Mimik etc. simulieren und darüber eine emotionale Spiegelung ermöglichen. So können wir instinktiv wissen, wie ein anderer fühlt, weil diese Emotionen in uns selbst über diese Spiegelneurone generiert werden (Iacoboni & Mazziotta, 2007; Rempala, 2013; Rizzolatti & Craighero, 2004).
Besonders wichtig ist hier mit Fokus auf das Training die Selbst-Andere-Differenzierung (Corcoran, 1989; Decety & Jackson, 2004; Lamm, Batson & Decety, 2007). Sie hilft dabei, dass ich nicht von den Emotionen verwirrt werde, die ich von anderen über die Ansteckung übernehme. Ich kann die Quelle der Emotionen differenzieren, also unterscheiden, ob die Emotion aus mir selbst entstanden ist oder die Quelle in einer anderen Person liegt. Je weniger ich differenzieren kann, als desto belastender erlebe ich natürlich den Umgang mit anderen Menschen. Denn deren negative Emotionen lösen dann auch negative Emotionen in mir aus, die ich als meine eigenen negativen Emotionen erlebe. Das hat dann weiter zur Folge, dass ich wenig unterstützend für mein Gegenüber sein kann, da ich selbst gerade mit diesen negativen Emotionen beschäftigt bin. Die Selbst-Andere-Differenzierung hilft mir also, auch in emotional intensiven Situationen handlungsfähig zu bleiben.
Mit der Unterscheidung zwischen der kognitiven und affektiven Empathie ist freilich noch nichts darüber gesagt, inwieweit Empathie veränderbar ist. So könnte man einerseits annehmen, dass Empathie ein stabiles Persönlichkeitsmerkmal ist und zum Charakter des Menschen dazugehört – ähnlich wie beispielsweise die Intelligenz. Andererseits könnte auch vermutet werden, dass die individuelle Empathie, die eine Person besitzt, erlernbar ist und damit gezielt verändert werden kann – vergleichbar beispielsweise mit sozialer Kompetenz. Es ist daher sinnvoll, zwischen Fähigkeiten und Fertigkeiten zu unterscheiden. Fähigkeit sind dabei die Voraussetzungen, die in konkrete Fertigkeiten umgesetzt werden können. So braucht man zum Beispiel eine Bewegungsfähigkeit, um diese in Fertigkeiten im Sport umzusetzen.
Empathie ist also auch eine Fähigkeit, die Emotionen anderer Personen wahrzunehmen, zu verstehen und emotional zu teilen. Aus dieser Fähigkeit, die sicherlich zu einem wesentlichen Teil angeboren ist, können wir im Laufe unseres Lebens Fertigkeiten aufbauen. So etwa die Fertigkeit, im Gespräch Interesse bei anderen zu wecken, Verständnis zwischen Menschen herzustellen, bei einer Selbstklärung zu helfen oder eine Auseinandersetzung konstruktiv zu gestalten. Ebenso ist es natürlich auch möglich, dass wir unsere Einfühlungsfähigkeit zur Manipulation nutzen und damit unsere Ziele auf Kosten von anderen Personen durchsetzen. Diese Fertigkeiten können entwickelt, gelernt und trainiert werden, wie viele Studien aus der Anwendungsforschung zeigen konnten (z. B. Foubert & Newberry, 2006; Long, Angera & Hakoyama, 2008; Mulloy, Smiley & Mawson, 1999; Sherman & Cramer, 2005).
Fassen wir die skizzierten Bausteine zusammen, so ergibt sich folgende, umfassende Definition von Empathie (angelehnt an Altmann, im Druck):
Empathie ist eine stabile Persönlichkeitseigenschaft, die die generelle Fähigkeit beschreibt, die Situation und das innere Erleben einer anderen Person zu verstehen (kognitive Empathie) und mitzufühlen (affektive Empathie). Diese Fähigkeit kann in erlern- und trainierbare Fertigkeiten umgesetzt werden, die den zwischenmenschlichen Kontakt und die Verständigung vereinfachen.
Klar ist, dass sich Empathie erst in der Interaktion mit anderen Menschen entfaltet, denn ohne andere Menschen gibt es nichts, was wir verstehen oder mitfühlen könnten. Daher ist Empathie nicht statisch zu sehen, sondern eigentlich ein Prozess zwischen zwei Personen. Um diesen Prozess zu beschreiben, haben wir das Empathie-Prozessmodell (EPM) vorgeschlagen (Altmann & Roth, 2013), das an andere Konzeptionen angelehnt ist und diese integriert (z. B. Barker, 2003; Decety & Morigushi, 2007; Preston & de Waal, 2002). Der Vorteil des EPM ist die praktische Orientierung, die es für die Anwendung nutzbar macht. Es werden vier Phasen unterschieden ( Abb. 1.1): die Wahrnehmung (W), das mentale Modell (mM), die empathische Emotion (eE) und die Antwort (A).
Abb. 1.1: Überblick über die Phasen des Empathie-Prozessmodells...