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E-Book

Endstation Kabul

Als deutscher Soldat in Afghanistan - ein Insiderbericht

AutorAchim Wohlgethan, Dirk Schulze
VerlagUllstein
Erscheinungsjahr2011
Seitenanzahl336 Seiten
ISBN9783843701778
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis13,99 EUR
Wie fühlt es sich an, als deutscher Soldat in den Straßen von Kabul zu patrouillieren? Wie reagiert man, wenn plötzlich ein Kind mit einer Waffe vor einem steht? Und wie geht man als Soldat mit der ständigen Bedrohung um? In seinem Erfahrungsbericht gewährt der Fallschirmjäger Achim Wohlgethan erstmals einen ungeschönten Einblick in den Afghanistan-Einsatz der Bundeswehr. Mit seinem Insiderbericht bringt er uns nicht nur Land und Leute, sondern auch die Probleme der deutschen Armee und der internationalen Afghanistan-Politik nahe. Ein packendes und längst fälliges Buch, das die Diskussion um die gefährliche Auslandsmission der Bundeswehr auf eine neue Basis gestellt hat.

Achim Wohlgethan diente als Fallschirmjäger bei der Bundeswehr. Endstation Kabul, der Tatsachenbericht über seinen Einsatz in Afghanistan, war 2008 monatelang auf der Spiegel-Bestsellerliste. Wohlgethan lebt als Autor und Sicherheitsberater in Wolfsburg.

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Leseprobe

Gefechtsfeldtourismus und andere deutsche Spezialitäten


Drei Tage später kündigte sich der stellvertretende Kommandeur der Luftlandebrigade bei uns an. Er hielt am Standort in Oldenburg die Stellung und wollte sich informieren, wie es seinen in Kabul eingesetzten Soldaten erging, und ein bisschen was von der Stadt sehen. Für solche Besuche hatte sich bereits nach wenigen Wochen in diesem Land eine Sightseeingtour etabliert, in deren Genuss alle Besucher kamen. Die Route führte für gewöhnlich an einem markanten Punkt, dem »Hotel Kabul« vorbei, direkt in den inneren Stadtbezirk mit seinen Märkten. Es lag in unmittelbarer Nachbarschaft zum Regierungsviertel und hatte einst vielen Staatsgästen als Unterkunft gedient. Doch dann war es bei einem Sprengstoff-Anschlag auf Ahmad Massud, einen wichtigen Führer der Nordallianz im Kampf gegen die Taliban, zur Hälfte zerstört worden und bot so ein eindrucksvolles Bild der widerstreitenden Mächte in diesem Land. Dann ging es weiter vorbei am Stadion und meist zum Hotel Interconti hinauf, das einen sehr guten Ausblick über die ganze Gegend bot. Der Rückweg führte über den Südteil der Stadt zum alten Königspalast und dann über das Königsgrab zurück ins Camp Warehouse. Ich mochte diese »Gefechtsfeldtouristik« überhaupt nicht. Sie machte nur Arbeit, war sinnentleert und brachte überflüssige Risiken. Alex und ich sollten den Personenschutz für den Herrn Oberst übernehmen und erkundeten im Vorfeld die Route. Die Tour wurde auf unsere Erkenntnisse hin in zwei Punkten geändert, weshalb wir uns etwas wohler fühlten.

Nachdem wir den Herrn Oberst vom Flughafen abgeholt hatten und er durchs Camp geführt worden war, stand am Folgetag die obligatorische Sightseeingtour auf dem Programm. Kabul zeigte sich von seiner besseren Seite. Es wehte eine leichte Brise, und der entsetzliche Gestank und die Smog-Glocke waren an diesem Tag halbwegs erträglich. Wir hatten das Botschaftsviertel durchfahren und fuhren nun in den nördlichen Bereich Kabuls, zum Königspalast. Der Major, der unsere kleine Reisegruppe begleitete und den Fremdenführer spielte, stieg mit dem Oberst aus, weil dieser die Zerstörungen am Palast näher in Augenschein nehmen wollte. Sie waren keine zehn Meter von den Fahrzeugen entfernt stehen geblieben, als ich von rechts einen Afghanen in Polizeiuniform auf uns zukommen sah. Alex sicherte die beiden Offiziere im Nahbereich und ich nach rechts über die Straße, der Afghane fiel damit in meinen Sicherungsbereich. Seine nagelneue Uniform und der sehr gepflegte Bart stachen mir sofort ins Auge. In meiner Ausbildung hatte ich gelernt, dass Selbstmordattentäter sich vor einem Anschlag sehr pflegen, da sie ja bald Allah gegenübertreten wollen. Außerdem musste der Träger einer Polizeiuniform nicht unbedingt ein Angehöriger der afghanischen Polizei sein, Uniformen wurden dort von allen möglichen Leuten getragen. Ich war also alarmiert. Je näher er kam, umso misstrauischer wurde ich und behielt ihn genau im Auge. Seine Kleidung lag eng an, ich konnte keine Waffen oder einen Sprengstoffgürtel darunter erkennen, auch in seinen Händen hielt er nichts. »Achte immer auf die Hände, denn die Hände töten!«, hatte ich gelernt.

Ich stand im Low Ready, also mit der Schulterstütze des Gewehrs an meiner Schulter und die Gewehrmündung auf den Boden gerichtet – eine Position, aus der heraus man schnell reagieren und notfalls schießen kann. Mit einem kurzen Nicken bestätigte mir Alex, dass er den afghanischen Polizisten ebenfalls gesehen hatte. Ich hatte ihm nur ein kleines Zeichen geben müssen, wir waren ein eingespieltes Team. Der Afghane war nun nur noch etwa drei Meter von mir entfernt und ging freundlich lächelnd an mir vorbei. Dann verharrte er kurz, drehte sich um und kam wieder auf mich zu. Dabei redete er in seiner Muttersprache auf mich ein. Ich verstand kein einziges Wort, konnte ihn aber durch mein Gewehr etwas auf Distanz halten und achtete genau auf seine Hände. Mir war sofort aufgefallen, dass mit ihm etwas nicht stimmte: Seine Augen waren glasig, er redete so viel und so verwaschen wie ein Wasserfall und schwankte leicht. Dieser Mann stand offensichtlich unter Drogen. Viele meiner Kameraden hatten mir bereits erzählt, wie die Drogenbekämpfung in diesem Land funktioniert: Vernichtung durch Konsum. Davon hatten sie sich bei ihren gemeinsamen Patrouillen mit der afghanischen Polizei, den »Joint Patrols«, überzeugen können. Die ihnen angebotenen Haschzigaretten und Opiumpräparate schlugen sie natürlich aus, schließlich wollten sie klar denken können. Und was wäre es für ein Skandal gewesen, wenn bekiffte oder gar von harten Drogen vollgedröhnte Afghanen und Deutsche in einem ganz anderen Sinne als »Joint Patrols« gemeinsam auf Patrouille gewesen wären. Die Gruppenführer räumten das enorme Sicherheitsrisiko aus, indem sie unter Drogen stehende Afghanen vom Dienst ausschlossen.

Dieser afghanische Polizist musste das Drogenverbot irgendwie umgangen haben. Als er merkte, dass ich nicht auf ihn einging und ihn zum Weitergehen aufforderte, zog er völlig unvermittelt eine russische Makarov-Pistole. Verdammt, er hatte dieses Ding schneller aus dem Hosenbund gezogen, als ich es ihm zugetraut hätte. Die Mündung der Pistole drückte er direkt auf meine Brust. Er war so high, dass er absolut unzurechnungsfähig war und womöglich auch abgedrückt hätte, wenn ich nicht schnell reagiert hätte. Instinktiv riss ich meine Waffe hoch und stieß ihm die Mündung meiner Waffe ins Gesicht. Während er auf die Knie sank, schrie ich laut »Waffe«, damit jeder in meiner Umgebung wusste, was los war. Ich fixierte ihn, indem ich mein linkes Bein auf seinen Oberkörper presste, und nahm die Makarov auf, die er hatte fallen lassen. Das Magazin war voll, und sogar eine Patrone war im Lauf, die Waffe war entsichert. Er hätte nur abdrücken müssen, und ich wäre Geschichte gewesen.

Bei seiner Überprüfung fanden Alex und ich tatsächlich Ausweispapiere, die ihn als Polizisten auswiesen, unterzeichnet von einem afghanischen Oberst und mit Stempeln drauf. Da kamen auch schon der Oberst und der Major und erkundigten sich, was passiert war. Der Oberst forderte mich auf, dem Mann aufzuhelfen und ihm seine Waffe zurückzugeben. Alex entlud das Magazin und hielt ihm seine Pistole hin, doch plötzlich brach ein wildes Chaos aus. Der Mann glaubte wohl, dass wir ihn erschießen würden, sobald er seine Waffe zurücknahm. Er drehte regelrecht durch, zeigte wild gestikulierend auf mich und verweigerte vehement unter allerlei afghanischen Kraftausdrücken die Annahme seiner eigenen Pistole. Ich fühlte schon wieder meinen Adrenalinpegel ansteigen, langsam hatte ich die Schnauze voll von dem Mann. Ich schrie zurück und forderte den Mann auf, mit diesem Affentheater aufzuhören. Der aber drehte völlig durch und versteckte sich wie ein kleines Kind hinter Alex, der ihm noch immer seine Waffe entgegenhielt. Jetzt glitt die Situation völlig ins Groteske ab, fast hätte ich laut loslachen müssen. Ich konnte mich aber gerade noch beherrschen, denn das wäre ein Gesichtsverlust für den armen Mann gewesen und die Situation hätte wieder eskalieren können. Was blieb mir also anderes übrig, als dem Afghanen zu verstehen zu geben, dass er sein Waffe nehmen und endlich abhauen sollte?

Der Oberst und der Major schauten verwundert zu, wie ich versuchte, den Polizisten zu fassen zu kriegen, und wir immer im Kreis um Alex herumliefen, der Afghane schreiend vorneweg und ich schreiend hinterher. Es war Slapstick pur. Anscheinend hatte ich eine Art Fernbedienung für den Afghanen erfunden: Nahm ich die Waffe hoch, heulte er theatralisch los, nahm ich sie runter, beschimpfte er mich auf das Übelste und zeterte wie ein Rohrspatz. Das ging so eine halbe Ewigkeit, bis auch Alex die Schnauze voll hatte und ein zufällig vorbeikommendes Taxi anhielt. Wir warfen die Pistole auf den Rücksitz, den Mann hinterher und bedeuteten dem Fahrer mit leichten Schlägen auf das Dach, dass er losfahren sollte. Die Lage war endlich gelöst, nicht ganz nach Lehrbuch – aber in welcher Armee gehören schon Zweikämpfe à la Tom und Jerry zur Grundausbildung?

Als das Taxi losfuhr, atmete ich erst einmal tief durch und drehte mich um. Zwei völlig entgeisterte Gesichter – der Oberst und der Major – und ein schmunzelndes, natürlich Alex, sahen mich an. »Alles in Ordnung?«, wollte Alex wissen. Noch während ich bejahte, setzte schon plötzlich und heftig das Donnerwetter ein. Der Oberst, vermutlich sauer wegen der Unterbrechung seiner schönen »Sightseeing-Tour«, fuhr mich an: »Haben Sie noch nie was von den RoEs gehört?« Was für eine Frage. Die »Rules of Engagement«, also die Regeln des Einsatzes, konnte ich beinahe im Schlaf auswendig. Sie waren groß und breit in der Taschenkarte abgedruckt, die jeder Soldat mit sich führte. Und ich wusste sehr genau, was darin geschrieben stand. Dass ich nämlich das Recht hatte, mich »jederzeit und überall gegen einen Angriff zu verteidigen«.

Wenn eine Pistolenmündung auf meiner Brust kein Angriff war, dann wusste ich auch nicht. Der Oberst sah die Sache...

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