Der Überblick über das Bild der Engel in den biblischen Texten hat gezeigt, daß die Rede von Engeln stets eine Rede über ihre Botschaft ist. Der Bote selbst tritt dahinter zurück, wird kaum einmal einer Beschreibung gewürdigt. Wo dies aber geschieht, etwa in den prophetischen Visionen, werden Wesen beschrieben, die die irdischen Geschöpfe in ihren Möglichkeiten überschreiten, von der menschlichen Vorstellungskraft nicht zu fassen sind. „Da, wo die ,Beschreibung´ scheinbar am deutlichsten wird, ist ihre Anschaulichkeit durch die Unanschaubarkeit gekennzeichnet.“[99] Ein Vergleich mit nichtkanonischen Texten des Frühjudentums und des frühen Christentums zeigt, daß bereits die Auswahl der Texte Zeichen der Auseinandersetzung mit der Frage der Engelvorstellungen trägt. Die Absicht, die Engel der kultischen Verehrung zu entziehen, findet ihren Ausdruck nicht zuletzt in deren Namenlosigkeit.
Das schon früh einsetzende Interesse auch kirchlicher Theologen an der Frage nach Erschaffung, Wesen und Ordnung der Engel kann man als den Beginn einer nicht durch das biblische Zeugnis motivierten Unheilstradition kritisieren,[100] man kann es aber auch schlicht als Antwort auf die Herausforderungen durch die zeitgenössische philosophische Kritik und die Engellehren im Umfeld des frühen Christentum registrieren.
Während noch Justin[101] die Engel als Christus gleichartig und verehrungswürdig ansieht, wird die Betonung der Geschöpflichkeit der Engel schnell zu einer wesentlichen Aussage kirchlicher Theologie. Die vor allem in gnostischen Entwürfen zu verzeichnende herausgehobene Bedeutung der Engel im göttlichen Heilsplan führt zu einer ausgeprägten Engelverehrung, gegen die Stellung bezogen wird. Vor diesem Hintergrund sind die Konzilsbeschlüsse zu sehen, die die Geschöpflichkeit der Engel und die Unmöglichkeit einer Anbetung fixieren und die Zahl der zulässigen Engelnamen auf die drei biblisch bezeugten beschränken. Augustin wendet sich gegen die Praxis, Engeln Kirchen zu weihen. Gleichzeitig entsteht aber auch eine Vielzahl liturgischer Gesänge, die die Einheit von himmlischer und irdischer Kirche im Gottesdienst, den Dienst der Engel zur Ehre Gottes betonen. Auch ihr Geleitdienst als Völker- und Schutzengel (angelus custus) wird häufig reflektiert.
Das Interesse der Theologen an den Engeln dokumentiert sich in den folgenden Jahrhunderten in einer Vielzahl theoretischer Entwürfe, weniger ihr Amt als viel mehr ihre Natur betreffend. Die Engel geraten als besondere Spezies von geschöpflich seienden Wesen in den Blick. Es bildet sich die Vorstellung vom leib- und stofflosen Geistwesen (spiritus intelligentes a corpore liberi). Nicht den Bedingungen von Raum und Zeit unterworfen, kann ein Engel jedoch stets nur an einem Ort gleichzeitig sein (Athanasius). In ihrem Wollen ganz auf Gott gerichtet (Augustin), sind die Engel den Menschen in Bezug auf ihre Erkenntnisfähigkeit überlegen, jedoch nicht allwissend.
Augustin schließt genaue Kenntnis vom Aufbau des Gottesstaates, den die Engel im Himmel bilden und der die künftige Heimat der Auferstandenen ist, noch aus. Bei Dionysios Areopagita scheinen der metaphysischen Spekulation dann keine Grenzen mehr gesetzt zu sein.
De hierarchia coelesti heißt sein um 500 entstandenes Werk, das die bisher nur angerissene Frage nach der Ordnung der Engelwelt und dem Rang der verschiedenen himmlischen Wesen entfaltet. Das ganze Werk atmet den dynamischen Geist des Neuplatonismus. Die göttliche Heilsordnung erscheint bei Dionysios als absteigende (Offenbarung) und aufsteigende (Erkenntnis) Bewegung, als Lichtwelle, die innerhalb eines auf allen Ebenen triadisch geordneten Systems himmlischer und irdischer Hierarchien vermittelt wird. Seraphim, Cherubim und Throne[102] stehen als unmittelbare Offenbarungsempfänger am Thron Gottes. Die zweite Gruppe bilden Herrschaften, Mächte und Gewalten, schon auf die Vermittlung der ersten Engelchöre angewiesen. Fürstentümer, Erzengel und Engel bilden die unterste Triade der himmlischen Hierarchie. Die Engel sind die Mittler der göttlichen Offenbarung an die irdische Welt. An sie schließt die kirchliche Hierarchie als irdische Heilsvermittlerin an. Außerhalb dieser Hierarchien ist Gotteserkenntnis und Aufstieg im Sinne der Teilhabe am göttlichen Licht nicht möglich. Die Wirkung des Werkes ist in der Ost[103]- wie in der Westkirche herausragend, wobei im Westen der dynamische Aspekt weitgehend zurück tritt.
Während Bonaventura noch den Gedanken vom dreistufigen Aufstieg[104] der Seele bis zur Engelhaftigkeit verfolgt, fragt Thomas von Aquin vor allem nach dem Wesen[105] und Wirken der Engel und ihrer nun statisch verstandenen hierarchischen Ordnung. Nur die unteren Ordnungen der Engel treten auf göttlichen Befehl mit den Menschen in Kontakt. Der Schutzengel, der jeden Menschen von Geburt an begleitet, hat den Auftrag, diesen durch zur eingegossenen Gnade hinzutretende spezielle Instruktionen zum Guten zu leiten. Er tut dies durch Anregung und Erleuchtung. Wunder sind nicht die Sache der Engel.
Die rein metaphysisch spekulative Ausrichtung der dionysischen und der scholastischen Engellehren und ihre fehlende biblische Grundlage führten zu ihrer radikalen Ablehnung durch Martin Luther. Von Luther selbst liegt keine Angelologie vor. Er wendet sich aber in biblischer und altkirchlicher Tradition entschieden gegen die Engelverehrung und betont Christus als alleinigen Heilsmittler. Wie die Heiligen und alle Christen auf Erden, können die Engel um Hilfe in allen Nöten gebeten werden. Auch Dank, Lob und Liebe mag ihnen zukommen. „Aber darümb soll ich dich nicht anbeten, anrüfen, feiren, fasten, opfern, Messe halten dir zu Ehren und auf dich meinen Glauben zur Seligkeit setzen.“[106] Von der Möglichkeit, die Engel um Hilfe zu bitten, solle man aber durchaus Gebrauch machen. Davon zeugen Luthers Michaelispredigten ebenso wie seine Gebete. Die Schutzengel sind die Verteidiger des Menschen gegen die Angriffe des Teufels.[107] Die Furcht vor dessen Treiben spricht auch aus Philipp Melanchthons „Dicimus grates tibi“ als Übersetzung eines der zwei Lieder zum Michaelistag im EG.[108] Auch Calvin verlangt die Begrenzung der Aussagen über die Engel auf die Inhalte der biblischen Überlieferung. Zweifel hat er an der Notwendigkeit und Berechtigung der Lehre vom persönlichen Schutzengel, die keine Funktionen umfaßt, die nicht auch der Menge der Engel zuzutrauen wären.
Eine radikale Abwendung von jeder Form von Angelologie verlangt F.D.E. Schleiermacher. „Das Einzige, was als Lehre über die Engel aufgestellt werden kann, ist dieses, daß, ob Engel sind, auf unsere Handlungsweise keinen Einfluß haben darf, und daß Offenbarungen ihres Daseins jetzt nicht mehr zu erwarten sind.“[109] Schleiermacher sieht seine Meinung bestätigt in der Tatsache, daß weder die biblischen noch die reformatorischen Schriften etwas über die Engel lehren, der Begriff vielmehr stets unscharf bleibt. Er hält fest, daß der Glaube an Engel unter keinen Umständen heilsnotwendig ist, registriert aber gleichzeitig seinen Fortbestand in den Gemütern der Christen. Wenn die Engel auch kein tauglicher Gegenstand christlicher Glaubenslehre sind, „so bleibt sowohl der liturgische Gebrauch als auch der in freien religiösen Produktionen ungestört, sofern er sich nur in diesen Grenzen hält.“[110] Der Privatgebrauch „wird sich doch immer nur darauf beschränken, die höhere Bewahrung, sofern sie sich nicht bewußter menschlicher Tätigkeit bedient, zu versinnlichen.“[111] Schleiermacher liefert mit der Charakterisierung der Engel als Versinnlichung der höheren Bewahrung einen Engelbegriff, der zum einen vor den biblischen Texten Bestand hat, zum anderen der Vernunft in keiner Weise zuwider läuft. Dies wird möglich durch den Abschied von einer dogmatischen Angelologie. Das Problem der Engel ist in vielen Dogmatiken geprägt von einer starken Zurückhaltung und Scheu vor dem Aufstellen einer „norma docendorum“[112].
Die Dogmatiken des 19. und 20. Jh. zeigen aber auch überdeutlich, welche Probleme bei dem Versuch entstehen, die Existenz und das Wesen der Engel auch innerhalb eines aufgeklärten naturwissenschaftlichen Weltbildes rational zu begründen, wobei meist das biblische Engelbild als Dokument einer überholten, defizitären Weltanschauung über Bord geworfen wird. Die enorme Erweiterung des Alls forderte in der Angelologie Tribut.[113] David Friedrich Strauss sieht in Abgrenzung von Schleiermacher und unfähig, dessen Verlagerung der Frage auf eine andere Ebene nachzuvollziehen, die Notwendigkeit, auf Engel ganz zu verzichten: „Die Grundanschauungen der modernen Zeit nun aber, wie sie an der Hand der fortschreitenden Naturkenntnis sich gebildet haben, ruhen ohne Zweifel auf bessern Gründen, als der kirchliche Engelglaube.“ Jesus und die Apostel haben die Volkssagen unbefangen wiederholt, die dann in der Bibel festgehalten wurden. „Aufrichtig...