2. Als Beispiel für eine gelungene Entspannungstechnik: Die Progressive Muskelentspannung
2.1 Was ist die Progressive Muskelentspannung?
Nachdem in diesem Buch am Beispiel der Progressiven Muskelentspannung immer wieder die möglichen Interventionen des Therapeuten und die auftretenden Schwierigkeiten erklärt werden, ist es nötig, dieses Entspannungsverfahren in Kürze vorzustellen. Für »Unkundige« sei es ein kleiner Einblick und für »Kundige« eine Erinnerung. Die folgenden Ausführungen sind sicher nicht geeignet, um die Methode gründlich zu erlernen (Interessierte mögen in »Halten und Loslassen« nachlesen).
Die Progressive Muskelentspannung nach Jacobson ist ein Entspannungsverfahren, das von der fühlbaren Spannung und Entspannung der Willkürmuskulatur ausgeht. Wir haben somit den Vorteil, unseren Klienten etwas präsentieren zu können, das wir einerseits leicht vormachen können und das andererseits von jedem sofort gespürt wird. Wir müssen uns daher nicht mit vagen Versprechungen, die irgendwann in der Zukunft (vielleicht) eingelöst werden, zufrieden geben.
Beim Erlernen der Technik der Progressiven Muskelentspannung wird speziell Wert darauf gelegt, nicht nur die Veränderungen der Muskelzustände genau wahrzunehmen, sondern im Besonderen den Muskelspannungen, die mit Angst einhergehen, vermehrt Aufmerksamkeit zu schenken. Es soll jeder so sensibilisiert werden, dass die Empfindungen für ihn allmählich zum Hinweisreiz werden. Er oder sie lernt, wann es sinnvoll ist, Entspannung gegen jede Art von Unbehagen einzusetzen. Auf diese Art wird ein Frühwarnsystem entwickelt, denn in der Muskulatur zeigt sich die innere Spannung eher und deutlicher, als sie ins Bewusstsein gelangt.
2.2 Die Grundidee
Edmund Jacobson (1885–1976), der als Internist in Chicago und New York praktizierte, begann 1908 seine Forschungen an der Harvard Universität. Seine jahrzehntelangen Untersuchungen (über die er 64 wissenschaftliche Arbeiten und acht Bücher verfasste) führten ihn zu der Schlussfolgerung, dass psychische Spannungen immer von Muskelkontraktionen begleitet sind und dass sich umgekehrt die Entspannung der Muskeln gleichzeitig positiv auf das Körpergefühl und das Seelenleben auswirkt. Unter anderem wurden bei zahlreichen jungen Soldaten die katastrophalen Auswirkungen der Angst registriert, wenn sie nach kurzer Ausbildung kriegerische Flugeinsätze hatten. Das machte es notwendig, ein Trainingsprogramm zu entwickeln, das auf relativ einfache Art die Angst vermindert. Es zeigte sich, dass die Muskelentspannung der direkte physiologische Gegensatz zu allen Arten von Ängsten und psychischen Spannungen ist.
Drei Faktoren sind allerdings nötig:
- Die willentliche abwechselnde Spannung und Entspannung verschiedener Muskelgruppen (dadurch wird es möglich, die Veränderung ganz wahrzunehmen und auch kleine Restspannungen zu lösen).
- Die Konzentration auf die Wahrnehmung auch subtiler Empfindungen (es geht daher nicht um die Stärke der Anspannung und hat daher mit Krafttraining etc. nichts zu tun).
- Der Lernvorgang bzw. der Übungseffekt, der langsam eine Umstellung im körperlichen und seelischen Bereich ermöglicht.
2.3 Das System
Anstatt die Übungsanweisungen zu erklären, biete ich Ihnen einen Textvorschlag an, mit dessen Hilfe Sie selbst ein Tonband besprechen können. Versäumen Sie nicht, zuvor die Hinweise zu lesen (4.5.1), die beim Produzieren eines Übungstonbandes wichtig sind. Kennern der Progressiven Muskelentspannung möge der Text als Erinnerung dienen, Einsteiger bekommen aber vielleicht Appetit auf »mehr«. Der Text ist so verfasst, dass er Ihnen selbst als Übungsunterlage dienen kann. Wenn Sie jedoch die direkte Anrede im Kurs trainieren wollen, dann ersetzen Sie das »Ich« durch die jeweilig passende Form. Also z. B. »Setzen oder legen Sie sich ganz entspannt hin …«
Textvorschlag zur Einübung der Progressiven Muskelentspannung:
Ich setze oder lege mich ganz entspannt hin – lockere alles, was mich beengt – schließe die Augen und lasse die Schultern möglichst locker. Nun atme ich ganz fest ein – halte die Luft fest und lasse sie wieder ausfließen. Ich stelle mir dabei vor, dass alles Unangenehme des Tages mit herausströmt. Dann atme ich noch einmal fest ein – halte die Luft wieder fest – und atme ganz langsam aus. Ich atme nun ganz normal weiter. Jedes Mal ausatmen, lässt mich noch ein bisschen inneren Druck loswerden.
Nun beginne ich mit den Händen und Armen:
Ich balle die dominante Hand zur Faust, halte sie gespannt und beobachte die Spannung.
Nun löse ich sie wieder, achte auf dieses Gefühl des Überganges und nun auf die Entspannung der Hand. Ich nehme alle kleinen Zeichen wie Kribbeln, Wärme und dergleichen wahr. Das Ganze mache ich noch einmal und beobachte noch besser die Empfindungen in den Fingern, der Hand und im Unterarm.
Und nun balle ich die andere Hand zur Faust, halte sie gespannt – und löse sie wieder. Wie erlebe ich diese Hand heute? Erkenne ich Unterschiede? Nun spanne ich noch einmal und nehme die Empfindungen noch intensiver wahr – und löse wieder.
Jetzt wende ich mich beiden Händen gleichzeitig zu und spanne die Fäuste fester und fester. Ich studiere die Empfindungen – und entspanne wieder. Nun mache ich es noch einmal und lasse die Entspannung in den Händen und Unterarmen nachwirken.
Jetzt gehe ich weiter zu den Oberarmen. Ich beuge die Ellenbogen und drücke die Unterarme gegen die Oberarme. Ich lasse dabei die Hände ganz locker und konzentriere mich auf die Spannung der Bizepsmuskeln. Nun lasse ich die Arme wieder locker auf die Unterlage sinken und entspanne wieder. – Ich wiederhole die Oberarmübung – ich spanne – entspanne und achte genau auf die Empfindungen dabei – und lasse die Entspannung sich weiterentwickeln.
Nun drehe ich beide Hände, sodass die Handflächen nach oben zeigen. Ich drücke die Arme in den Ellenbogen fest durch und spüre die Spannung von den Fingerspitzen bis zu den Schultern. – Dann lasse ich wieder los und bringe die Arme wieder in eine bequeme Ausgangslage. Ich genieße die Entspannung – und wiederhole: in den Ellenbogen durchdrücken – die Spannung wahrnehmen – und loslassen. Die gesamten Arme sind nun entspannt – ich lasse mir Zeit nachzuspüren.
Ich bleibe ruhig und entspannt und wende mich nun dem Gesicht zu.
Zuerst runzle ich die Stirn, indem ich die Augenbrauen gegen den Haaransatz hochziehe. Ich registriere die Spannung in der Stirn – und lasse wieder los. Ich mache die Stirn ganz glatt und achte auf die Veränderung. Nun wiederhole ich: Ich ziehe die Augenbrauen hoch – halte die Spannung – und lasse los. Ich spüre der Ruhe nach, die von meiner entspannten Stirn ausgeht.
Nun gehe ich zur Augenregion: Ich drücke die Augenlider fest zusammen – beobachte die Spannung – und lasse los. Ich erlebe, wie sich die Augen und das ganze Gebiet rundherum entspannen und sich alle Fältchen glätten. Und noch einmal: Lider zusammendrücken – halten – und loslassen. Die Augen, Augenlider und Wangen können sich nun gut entspannen.
Nun geht es weiter zur Mundregion. Ich beiße die Zähne fest aufeinander – ich erspüre den Druck und die Spannung in den Kiefermuskeln – und lasse locker! Ich öffne leicht den Mund und lasse das Unterkiefer heruntersinken – und spüre der Entspannung nach! Und noch einmal: Zähne zusammenbeißen – halten – und loslassen. Ich lasse die Entspannung im Kiefer nachwirken.
Ich drücke die Zunge hinter den oberen Zähnen gegen den Gaumen! Ich beobachte den Druck und Gegendruck und alle Empfindungen der Zunge bis in den Hals. Nun lasse ich los und erlaube der Zunge in eine bequeme Lage zurückzukehren. Ich lasse die Entspannung wirken und wiederhole: Zunge gegen den Gaumen pressen – die Spannung genau wahrnehmen – wieder loslassen. Ich beobachte die Entspannung im Mundinnenraum und den freien Speichelfluss.
Und jetzt zu den Lippen: Ich presse die Lippen fest aufeinander! Ich halte die Spannung fest und lasse wieder locker. Ich achte auf das angenehme Gefühl der Lösung und Wärme in den Lippen – und wiederhole es: Zusammenpressen – die Spannung registrieren – loslassen – und genießen.
Das ganze Gesicht ist nun entspannt und ruhig. Ich lasse noch mehr los und erlaube der Entspannung, sich überallhin auszubreiten.
Ich bleibe so ruhig und entspannt und wende mich Nacken, Schultern und oberem Rücken zu.
Ich verschiebe den Kopf nach hinten, sodass ich die Nackenmuskeln gut spüren kann. Nun rolle ich ihn in der Spannung nach rechts – und nach links, beobachte dabei die Verlagerung der Spannung – und lasse ihn locker auspendeln. Ich nehme die Entspannung und Wärme im Nacken wahr – und wiederhole: Kopf gerade zurückschieben – nach rechts rollen – nach links rollen – und auspendeln lassen. Ich lasse im Nacken ganz los und die angenehme Wärme auch in den Hinterkopf strömen.
Nun ziehe ich die Schultern hoch in Richtung Ohren, achte auf das Spannungsgefühl in den Schultermuskeln – und lasse die Schultern wieder locker fallen. Ich beobachte die Entspannung, Nacken und Schultern lösen sich wieder. Jetzt alles noch einmal: Schultern hochziehen – festhalten und bewusst auf alle Veränderungen achten – die Schultern wieder fallen lassen....