Einleitung
Blitz und Donner brauchen Zeit, das Licht der Gestirne braucht Zeit, Taten brauchen Zeit, auch nachdem sie getan sind, um gesehen und gehört zu werden. Diese That ist ihnen immer noch ferner, als die fernsten Gestirne, – und doch haben sie dieselbe gethan!
Friedrich Nietzsche, «Der tolle Mensch» in «Die fröhliche Wissenschaft»
Sesshafte Landwirtschaft, Städte, Nationen und Staaten, Informationstechnologie und all die anderen Aspekte der modernen Welt haben sich in einer langen Ära günstiger klimatischer Bedingungen entwickelt. Diese Ära ist vorbei. Die Meeresspiegel steigen, das Klima wird instabiler, die Durchschnittstemperaturen nehmen zu. Die menschliche Zivilisation entstand im Holozän, unsere neue Klimaepoche nennen manche Anthropozän. Aus den fossilen Hinterlassenschaften der Menschen heute, zu denen Wunderdinge wie die Strahlung von Atombomben, Kunststoffe aus der Ölindustrie und Hühnerknochen gehören, wird das intelligente Leben der Zukunft schließen, dass es uns einmal gab.
Was als Nächstes passieren wird, ist auf einer Ebene gar nicht vorauszusehen, auf einer anderen voll und ganz. Unabhängig davon, zu welchen Entscheidungen die Menschheit kommt, wird das 21. Jahrhundert eine Phase «abrupter und irreversibler» Veränderungen im Netz des Lebens werden. Wissenschaftler, die sich mit dem Erdsystem beschäftigen, bezeichnen einen solchen fundamentalen Wendepunkt im Leben einer Biosphäre ziemlich trocken als «Zustandswechsel». Bedauerlicherweise hat die Entwicklung, die diesen geologischen Wandel in Gang gesetzt hat, auch Menschen hervorgebracht, die kaum imstande sind, Anzeichen dieses Zustandswechsels wahrzunehmen. Nietzsches tollem Menschen, der den Tod Gottes verkündet, begegnete man auf ähnliche Weise: Obwohl das industrialisierte Europa den göttlichen Einfluss auf den mehr oder weniger obligatorischen sonntäglichen Kirchgang beschränkt hatte, konnte sich die Gesellschaft des 19. Jahrhunderts eine Welt ohne Gott nicht vorstellen. Im 21. Jahrhundert passiert etwas ganz Ähnliches: Für die meisten Menschen ist es einfacher, sich das Ende des Planeten vorzustellen, als das Ende des Kapitalismus. Folglich muss mit unserem Eintritt in eine neue Epoche auch ein geistiger Zustandswechsel einhergehen.
Die erste Aufgabe besteht darin, sprachlich präzise zu sein und ein Problem zu erkennen, das die Benennung unserer neuen geologischen Epoche als «Anthropozän» mit sich bringt. Der Begriff geht auf anthropos (altgriechisch für «Mensch») zurück und legt damit nahe, dass Menschen, allein weil sie Menschen sind, den Klimawandel und das sechste Massensterben in der Geschichte des Planeten verursacht haben – so wie Kinder Kinder und Schlangen Schlangen sind und es auch bleiben werden.
Nun ist nicht zu leugnen, dass der Mensch die Erde seit dem Ende der letzten Eiszeit verändert hat. Eine Jagdrate, die jahrhundertelang leicht über der Regenerationsrate lag, verbunden mit Verschiebungen des Klimas und der Graslandschaften, bedeutete das Ende für das Kolumbianische Mammut in Nordamerika, für Gigantopithecus, den gewaltigen Verwandten des Orang-Utans, in Ostasien und für den Riesenhirsch Megaloceros giganteus in Europa. Der Mensch könnte durch den landwirtschaftlich bedingten Ausstoß von Treibhausgasen sogar dazu beigetragen haben, eine globale Abkühlungsphase vor 12000 Jahren zu mäßigen.
Große Säugetiere bis zu ihrer Ausrottung zu jagen ist die eine Sache, Geschwindigkeit und Ausmaß der heutigen Vernichtung sind eine andere – beide lassen sich jedoch nicht mehr aus den Aktivitäten unserer keulenschwingenden Vorfahren ableiten. Der moderne Mensch rottet keine Mammuts durch jahrhundertelange Überjagung aus, sondern vernichtet alles, von der Megafauna bis zur mikrobiellen Flora – in einem Tempo, das die natürliche Aussterberate um ein Hundertfaches übersteigt. Wir behaupten, dass das, was sich verändert hat, der Kapitalismus ist, und dass wir das, was sich seit dem 15. Jahrhundert entwickelt hat, besser «Kapitalozän» nennen sollten. Diesen Begriff zu verwenden bedeutet, den Kapitalismus ernst zu nehmen, ihn nicht nur als ein Wirtschaftssystem zu begreifen, sondern als eine Art und Weise, die Beziehungen zwischen den Menschen und der übrigen Natur zu organisieren.
In diesem Buch wollen wir zeigen, wie die moderne Welt wurde, was sie ist – durch sieben billige Dinge: Natur, Geld, Arbeit, Fürsorge, Nahrung, Energie und Leben. Jedes einzelne Wort des vorangegangenen Satzes ist mit Schwierigkeiten verbunden. «Billig» etwa meint das Gegenteil von einem Schnäppchen – Verbilligung umfasst eine Reihe von Strategien, die darauf abzielen, ein größeres Netz des Lebens zu kontrollieren. «Dinge» werden erst durch Armeen und Geistliche, Buchhalter und Printmedien zu Dingen. Und vor allem verhalten sich Mensch und Natur nicht, einem mechanistischen Weltbild entsprechend, wie riesige aufeinanderprallende Billardkugeln. Leben entsteht aus Chaos und Konkurrenz, aber auch durch gegenseitige Unterstützung. Dieses Buch zeigt, wie sich die komplexen Beziehungen zwischen den Menschen und dem Netz des Lebens so betrachten lassen, dass die Welt, in der wir leben, einen Sinn bekommt, und es skizziert, was aus unserer Welt werden könnte.
Wenden wir uns, um einen kleinen Vorgeschmack zu geben, noch einmal den fossilen Hühnerknochen zu, die eines Tages von der Beziehung zwischen dem Menschen und dem verbreitetsten Vogel der Welt, dem Gallus gallus domesticus, zeugen werden. Die Hähnchen, die wir heute essen, unterscheiden sich sehr von denen, die vor hundert Jahren gegessen wurden. Unser Geflügel ist das Produkt unzähliger Versuche seit Ende des Zweiten Weltkriegs, genetisches Material aus asiatischen Urwäldern so zu kombinieren, dass dabei möglichst einträgliche Hähnchen entstehen. Diese Tiere können kaum noch laufen, sind innerhalb von wenigen Wochen schlachtreif, tragen besonders viel Fleisch und werden in Mengen aufgezogen und geschlachtet, die für unser Ökosystem von Bedeutung sind (mehr als 60 Milliarden Vögel pro Jahr). Betrachten wir das als ein Beispiel für billige Natur.
Hähnchenfleisch ist heute schon das beliebteste Fleisch in den USA, und man kann davon ausgehen, dass es im Jahr 2020 das beliebteste Fleisch weltweit sein wird. Das erfordert gewaltige Anstrengungen. Arbeiter in der US-amerikanischen Geflügelindustrie werden sehr schlecht bezahlt: Lediglich zwei Cent jedes Dollars, der für ein Fastfood-Hähnchen ausgegeben wird, landen in den Geldbeuteln der Arbeiter, und es gibt Geflügelbetriebe, die auf Gefängnisinsassen zurückgreifen und sie mit 25 Cent pro Stunde abspeisen. Wir sehen darin ein Beispiel für billige Arbeit.
In der US-amerikanischen Geflügelindustrie leiden 86 Prozent der Arbeiter, die Flügel abtrennen, unter Schmerzen, weil sich das Hacken und Drehen am Fließband unablässig wiederholt. Manche Arbeitgeber machen sich über Arbeiter lustig, wenn diese über Beschwerden klagen, Haftungsansprüche werden meist zurückgewiesen. In den zehn Jahren, die auf eine Verletzung folgen, müssen Arbeiter Gehaltseinbußen von 15 Prozent in Kauf nehmen. Während ihrer Genesung sind sie von ihren Familien und von Unterstützungsnetzwerken abhängig, von Faktoren also, die außerhalb des Produktionskreislaufs liegen, aber von zentraler Bedeutung für die weitere Teilnahme am Erwerbsleben sind. Das nennen wir billige Fürsorge.
Die von dieser Industrie produzierten Nahrungsmittel sollen die Bäuche füllen und die Kundschaft durch niedrige Preise an der Kasse und im Drive-in besänftigen. Das ist die Strategie billiger Nahrung.
Die Hähnchen selbst tragen relativ wenig zum Klimawandel bei. Sie haben im Gegensatz zu Rindern nur einen Magen und stoßen kein Methan aus. Doch sie werden in großen Stückzahlen gehalten, und es braucht eine Menge Heizmaterial, um die Käfige warm zu halten. Das ist der größte Beitrag zum CO2-Fußabdruck der US-amerikanischen Geflügelindustrie. Kostengünstige Hähnchen zu produzieren ist ohne reichlich Propan nicht möglich – notwendig ist also billige Energie.
Die Vermarktung des verarbeiteten Geflügels birgt gewisse Risiken. Diese werden durch öffentliche Ausgaben zugunsten privatwirtschaftlicher Profite mit Hilfe von Franchising und Subventionen aufgefangen, sei es bei der finanziellen und physischen Erschließung des Ackerlandes, auf dem – hauptsächlich in China, Brasilien und den Vereinigten Staaten – das Sojafutter für die Hähnchen angebaut wird, sei es durch lukrative Unternehmenskredite. Das ist ein Aspekt billigen Geldes.
Schließlich sind es Akte des Chauvinismus gegenüber bestimmten Kategorien tierischen und menschlichen Lebens – gegen Frauen, kolonialisierte Völker, Bedürftige, Farbige und Einwanderer –, die immer wieder und immer noch jedes dieser sechs billigen Dinge möglich machen. Um diesen Zusammenhang zu festigen, ist noch ein letztes Element vonnöten: billige Leben.
Und doch leisten Menschen an jedem Punkt dieses Kreislaufs...