Sie sind hier
E-Book

Entwertung

Eine Geschichte der Welt in sieben billigen Dingen

AutorJason W. Moore, Raj Patel
VerlagRowohlt Verlag GmbH
Erscheinungsjahr2018
Seitenanzahl352 Seiten
ISBN9783644100756
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis11,99 EUR
Wir sind in einem Zeitalter angekommen, in dem der Mensch verschwinden könnte - und mit ihm die Welt, die er so gnadenlos ausbeutet. Denn was ist heute für uns nicht billig und schnell zu haben - auf Kosten der vielen Menschen, die weniger privilegiert sind als wir? Wir ruinieren unsere Erde, wenn wir nicht schleunigst kooperative Wege des Zusammenlebens und Wirtschaftens finden und den westlichen Raubtierkapitalismus bändigen. Das ist die Botschaft des Ökonomen Raj Patel und des Historikers Jason W. Moore. In sieben Kapiteln widmen sie sich jeweils einem Aspekt dieser Entwertung der Welt: Natur wird ebenso entwertet wie Geld, Arbeit, Pflege, Nahrung, Energie und Leben. So eindrücklich wie umfassend schildern sie, dass die Krisen unserer Zeit in Wirklichkeit eine einzige Krise sind und dass diese einen langen Vorlauf in der Geschichte hat. Wenn heute billige Arbeitskräfte billige Chlorhühnchen zu billigen Chickenwings verarbeiten, dann ist das, wie sie exemplarisch schildern, ein zerstörerisches Wirtschaftsprinzip, das sich über Jahrhunderte herausgebildet hat. Patel und Moore führen vor Augen, dass es an der Zeit ist, diese Entwicklung zu durchbrechen und unser Wirtschafts- und Sozialsystem anders zu denken, wenn wir unsere Welt verstehen und damit bewahren wollen.

Raj Patel hat als Ökonom für die Weltbank, die World Trade Organization und die Vereinten Nationen gearbeitet, bevor er sich entschied, aus diesen Kreisen auszusteigen und sie kritisch zu durchleuchten. Heute ist er Research Professor an der University of Texas. 2008 erschien 'Stuffed and Starved', 2009 'Food Rebellions!' und 2010 'The Value of Nothing'.

Kaufen Sie hier:

Horizontale Tabs

Leseprobe

Einleitung


Blitz und Donner brauchen Zeit, das Licht der Gestirne braucht Zeit, Taten brauchen Zeit, auch nachdem sie getan sind, um gesehen und gehört zu werden. Diese That ist ihnen immer noch ferner, als die fernsten Gestirne, – und doch haben sie dieselbe gethan!

Friedrich Nietzsche, «Der tolle Mensch» in «Die fröhliche Wissenschaft»

Sesshafte Landwirtschaft, Städte, Nationen und Staaten, Informationstechnologie und all die anderen Aspekte der modernen Welt haben sich in einer langen Ära günstiger klimatischer Bedingungen entwickelt. Diese Ära ist vorbei. Die Meeresspiegel steigen, das Klima wird instabiler, die Durchschnittstemperaturen nehmen zu. Die menschliche Zivilisation entstand im Holozän, unsere neue Klimaepoche nennen manche Anthropozän. Aus den fossilen Hinterlassenschaften der Menschen heute, zu denen Wunderdinge wie die Strahlung von Atombomben, Kunststoffe aus der Ölindustrie und Hühnerknochen gehören, wird das intelligente Leben der Zukunft schließen, dass es uns einmal gab.

Was als Nächstes passieren wird, ist auf einer Ebene gar nicht vorauszusehen, auf einer anderen voll und ganz. Unabhängig davon, zu welchen Entscheidungen die Menschheit kommt, wird das 21. Jahrhundert eine Phase «abrupter und irreversibler» Veränderungen im Netz des Lebens werden. Wissenschaftler, die sich mit dem Erdsystem beschäftigen, bezeichnen einen solchen fundamentalen Wendepunkt im Leben einer Biosphäre ziemlich trocken als «Zustandswechsel». Bedauerlicherweise hat die Entwicklung, die diesen geologischen Wandel in Gang gesetzt hat, auch Menschen hervorgebracht, die kaum imstande sind, Anzeichen dieses Zustandswechsels wahrzunehmen. Nietzsches tollem Menschen, der den Tod Gottes verkündet, begegnete man auf ähnliche Weise: Obwohl das industrialisierte Europa den göttlichen Einfluss auf den mehr oder weniger obligatorischen sonntäglichen Kirchgang beschränkt hatte, konnte sich die Gesellschaft des 19. Jahrhunderts eine Welt ohne Gott nicht vorstellen. Im 21. Jahrhundert passiert etwas ganz Ähnliches: Für die meisten Menschen ist es einfacher, sich das Ende des Planeten vorzustellen, als das Ende des Kapitalismus. Folglich muss mit unserem Eintritt in eine neue Epoche auch ein geistiger Zustandswechsel einhergehen.

Die erste Aufgabe besteht darin, sprachlich präzise zu sein und ein Problem zu erkennen, das die Benennung unserer neuen geologischen Epoche als «Anthropozän» mit sich bringt. Der Begriff geht auf anthropos (altgriechisch für «Mensch») zurück und legt damit nahe, dass Menschen, allein weil sie Menschen sind, den Klimawandel und das sechste Massensterben in der Geschichte des Planeten verursacht haben – so wie Kinder Kinder und Schlangen Schlangen sind und es auch bleiben werden.

Nun ist nicht zu leugnen, dass der Mensch die Erde seit dem Ende der letzten Eiszeit verändert hat. Eine Jagdrate, die jahrhundertelang leicht über der Regenerationsrate lag, verbunden mit Verschiebungen des Klimas und der Graslandschaften, bedeutete das Ende für das Kolumbianische Mammut in Nordamerika, für Gigantopithecus, den gewaltigen Verwandten des Orang-Utans, in Ostasien und für den Riesenhirsch Megaloceros giganteus in Europa. Der Mensch könnte durch den landwirtschaftlich bedingten Ausstoß von Treibhausgasen sogar dazu beigetragen haben, eine globale Abkühlungsphase vor 12000 Jahren zu mäßigen.

Große Säugetiere bis zu ihrer Ausrottung zu jagen ist die eine Sache, Geschwindigkeit und Ausmaß der heutigen Vernichtung sind eine andere – beide lassen sich jedoch nicht mehr aus den Aktivitäten unserer keulenschwingenden Vorfahren ableiten. Der moderne Mensch rottet keine Mammuts durch jahrhundertelange Überjagung aus, sondern vernichtet alles, von der Megafauna bis zur mikrobiellen Flora – in einem Tempo, das die natürliche Aussterberate um ein Hundertfaches übersteigt. Wir behaupten, dass das, was sich verändert hat, der Kapitalismus ist, und dass wir das, was sich seit dem 15. Jahrhundert entwickelt hat, besser «Kapitalozän» nennen sollten. Diesen Begriff zu verwenden bedeutet, den Kapitalismus ernst zu nehmen, ihn nicht nur als ein Wirtschaftssystem zu begreifen, sondern als eine Art und Weise, die Beziehungen zwischen den Menschen und der übrigen Natur zu organisieren.

In diesem Buch wollen wir zeigen, wie die moderne Welt wurde, was sie ist – durch sieben billige Dinge: Natur, Geld, Arbeit, Fürsorge, Nahrung, Energie und Leben. Jedes einzelne Wort des vorangegangenen Satzes ist mit Schwierigkeiten verbunden. «Billig» etwa meint das Gegenteil von einem Schnäppchen – Verbilligung umfasst eine Reihe von Strategien, die darauf abzielen, ein größeres Netz des Lebens zu kontrollieren. «Dinge» werden erst durch Armeen und Geistliche, Buchhalter und Printmedien zu Dingen. Und vor allem verhalten sich Mensch und Natur nicht, einem mechanistischen Weltbild entsprechend, wie riesige aufeinanderprallende Billardkugeln. Leben entsteht aus Chaos und Konkurrenz, aber auch durch gegenseitige Unterstützung. Dieses Buch zeigt, wie sich die komplexen Beziehungen zwischen den Menschen und dem Netz des Lebens so betrachten lassen, dass die Welt, in der wir leben, einen Sinn bekommt, und es skizziert, was aus unserer Welt werden könnte.

 

Wenden wir uns, um einen kleinen Vorgeschmack zu geben, noch einmal den fossilen Hühnerknochen zu, die eines Tages von der Beziehung zwischen dem Menschen und dem verbreitetsten Vogel der Welt, dem Gallus gallus domesticus, zeugen werden. Die Hähnchen, die wir heute essen, unterscheiden sich sehr von denen, die vor hundert Jahren gegessen wurden. Unser Geflügel ist das Produkt unzähliger Versuche seit Ende des Zweiten Weltkriegs, genetisches Material aus asiatischen Urwäldern so zu kombinieren, dass dabei möglichst einträgliche Hähnchen entstehen. Diese Tiere können kaum noch laufen, sind innerhalb von wenigen Wochen schlachtreif, tragen besonders viel Fleisch und werden in Mengen aufgezogen und geschlachtet, die für unser Ökosystem von Bedeutung sind (mehr als 60 Milliarden Vögel pro Jahr). Betrachten wir das als ein Beispiel für billige Natur.

Hähnchenfleisch ist heute schon das beliebteste Fleisch in den USA, und man kann davon ausgehen, dass es im Jahr 2020 das beliebteste Fleisch weltweit sein wird. Das erfordert gewaltige Anstrengungen. Arbeiter in der US-amerikanischen Geflügelindustrie werden sehr schlecht bezahlt: Lediglich zwei Cent jedes Dollars, der für ein Fastfood-Hähnchen ausgegeben wird, landen in den Geldbeuteln der Arbeiter, und es gibt Geflügelbetriebe, die auf Gefängnisinsassen zurückgreifen und sie mit 25 Cent pro Stunde abspeisen. Wir sehen darin ein Beispiel für billige Arbeit.

In der US-amerikanischen Geflügelindustrie leiden 86 Prozent der Arbeiter, die Flügel abtrennen, unter Schmerzen, weil sich das Hacken und Drehen am Fließband unablässig wiederholt. Manche Arbeitgeber machen sich über Arbeiter lustig, wenn diese über Beschwerden klagen, Haftungsansprüche werden meist zurückgewiesen. In den zehn Jahren, die auf eine Verletzung folgen, müssen Arbeiter Gehaltseinbußen von 15 Prozent in Kauf nehmen. Während ihrer Genesung sind sie von ihren Familien und von Unterstützungsnetzwerken abhängig, von Faktoren also, die außerhalb des Produktionskreislaufs liegen, aber von zentraler Bedeutung für die weitere Teilnahme am Erwerbsleben sind. Das nennen wir billige Fürsorge.

Die von dieser Industrie produzierten Nahrungsmittel sollen die Bäuche füllen und die Kundschaft durch niedrige Preise an der Kasse und im Drive-in besänftigen. Das ist die Strategie billiger Nahrung.

Die Hähnchen selbst tragen relativ wenig zum Klimawandel bei. Sie haben im Gegensatz zu Rindern nur einen Magen und stoßen kein Methan aus. Doch sie werden in großen Stückzahlen gehalten, und es braucht eine Menge Heizmaterial, um die Käfige warm zu halten. Das ist der größte Beitrag zum CO2-Fußabdruck der US-amerikanischen Geflügelindustrie. Kostengünstige Hähnchen zu produzieren ist ohne reichlich Propan nicht möglich – notwendig ist also billige Energie.

Die Vermarktung des verarbeiteten Geflügels birgt gewisse Risiken. Diese werden durch öffentliche Ausgaben zugunsten privatwirtschaftlicher Profite mit Hilfe von Franchising und Subventionen aufgefangen, sei es bei der finanziellen und physischen Erschließung des Ackerlandes, auf dem – hauptsächlich in China, Brasilien und den Vereinigten Staaten – das Sojafutter für die Hähnchen angebaut wird, sei es durch lukrative Unternehmenskredite. Das ist ein Aspekt billigen Geldes.

Schließlich sind es Akte des Chauvinismus gegenüber bestimmten Kategorien tierischen und menschlichen Lebens – gegen Frauen, kolonialisierte Völker, Bedürftige, Farbige und Einwanderer –, die immer wieder und immer noch jedes dieser sechs billigen Dinge möglich machen. Um diesen Zusammenhang zu festigen, ist noch ein letztes Element vonnöten: billige Leben.

 

Und doch leisten Menschen an jedem Punkt dieses Kreislaufs...

Blick ins Buch

Weitere E-Books zum Thema: Gesellschaft - Männer - Frauen - Adoleszenz

Die Sehnsucht nach einer verlogenen Welt

E-Book Die Sehnsucht nach einer verlogenen Welt
Unsere Angst vor Freiheit, Markt und Eigenverantwortung - Über Gutmenschen und andere Scheinheilige Format: ePUB

Freiheit und Eigenverantwortung statt Ideologie und Bürokratie - Günter Ederer analysiert auf Basis dieser Forderung die existenziellen Probleme unserer Gesellschaft: Bevölkerungsrückgang,…

Die Sehnsucht nach einer verlogenen Welt

E-Book Die Sehnsucht nach einer verlogenen Welt
Unsere Angst vor Freiheit, Markt und Eigenverantwortung - Über Gutmenschen und andere Scheinheilige Format: ePUB

Freiheit und Eigenverantwortung statt Ideologie und Bürokratie - Günter Ederer analysiert auf Basis dieser Forderung die existenziellen Probleme unserer Gesellschaft: Bevölkerungsrückgang,…

Die Sehnsucht nach einer verlogenen Welt

E-Book Die Sehnsucht nach einer verlogenen Welt
Unsere Angst vor Freiheit, Markt und Eigenverantwortung - Über Gutmenschen und andere Scheinheilige Format: ePUB

Freiheit und Eigenverantwortung statt Ideologie und Bürokratie - Günter Ederer analysiert auf Basis dieser Forderung die existenziellen Probleme unserer Gesellschaft: Bevölkerungsrückgang,…

Mitten im Leben

E-Book Mitten im Leben
Format: ePUB/PDF

Die Finanzaffäre der CDU hat nicht nur die Partei und die demokratische Kultur der Bundesrepublik in eine ihrer tiefsten Krisen gestürzt, sondern war auch der Auslöser für Wolfgang Schäubles Verzicht…

Mitten im Leben

E-Book Mitten im Leben
Format: ePUB/PDF

Die Finanzaffäre der CDU hat nicht nur die Partei und die demokratische Kultur der Bundesrepublik in eine ihrer tiefsten Krisen gestürzt, sondern war auch der Auslöser für Wolfgang Schäubles Verzicht…

Klartext.

E-Book Klartext.
Für Deutschland Format: ePUB/PDF

Streitbarer Querulant, umstrittener Politiker, Nervensäge, wandelndes Medienereignis - all das und mehr ist Jürgen Möllemann. Nach langem Schweigen redet das Enfant terrible der deutschen Politik zum…

Klartext.

E-Book Klartext.
Für Deutschland Format: ePUB/PDF

Streitbarer Querulant, umstrittener Politiker, Nervensäge, wandelndes Medienereignis - all das und mehr ist Jürgen Möllemann. Nach langem Schweigen redet das Enfant terrible der deutschen Politik zum…

Weitere Zeitschriften

Menschen. Inklusiv leben

Menschen. Inklusiv leben

MENSCHEN. das magazin informiert über Themen, die das Zusammenleben von Menschen in der Gesellschaft bestimmen -und dies konsequent aus Perspektive der Betroffenen. Die Menschen, um die es geht, ...

ARCH+.

ARCH+.

ARCH+ ist eine unabhängige, konzeptuelle Zeitschrift für Architektur und Urbanismus. Der Name ist zugleich Programm: mehr als Architektur. Jedes vierteljährlich erscheinende Heft beleuchtet ...

BIELEFELD GEHT AUS

BIELEFELD GEHT AUS

Freizeit- und Gastronomieführer mit umfangreichem Serviceteil, mehr als 700 Tipps und Adressen für Tag- und Nachtschwärmer Bielefeld genießen Westfälisch und weltoffen – das zeichnet nicht ...

dental:spiegel

dental:spiegel

dental:spiegel - Das Magazin für das erfolgreiche Praxisteam. Der dental:spiegel gehört zu den Top 5 der reichweitenstärksten Fachzeitschriften für Zahnärzte in Deutschland (laut LA-DENT 2011 ...

DULV info

DULV info

UL-Technik, UL-Flugbetrieb, Luftrecht, Reiseberichte, Verbandsinte. Der Deutsche Ultraleichtflugverband e. V. - oder kurz DULV - wurde 1982 von ein paar Enthusiasten gegründet. Wegen der hohen ...

F- 40

F- 40

Die Flugzeuge der Bundeswehr, Die F-40 Reihe behandelt das eingesetzte Fluggerät der Bundeswehr seit dem Aufbau von Luftwaffe, Heer und Marine. Jede Ausgabe befasst sich mit der genaue Entwicklungs- ...

filmdienst#de

filmdienst#de

filmdienst.de führt die Tradition der 1947 gegründeten Zeitschrift FILMDIENST im digitalen Zeitalter fort. Wir begleiten seit 1947 Filme in allen ihren Ausprägungen und Erscheinungsformen.  ...