2. Von deinem Deutschlehrer, Musikstreaming und Instagram
Warum wir nicht wissen, was wir wirklich wollen
Es ist 20:15 Uhr. Peter hat es sich vor dem Fernseher bequem gemacht. Heute Abend läuft eine Spielshow: „Das große Berufe-Raten“. „Genau das richtige, belanglose Programm“, denkt sich Peter, der heute nur noch berieselt werden möchte. Wie erwartet war der Arbeitstag hart und lang und wie immer hat Wolfgang kein gutes Haar an ihm gelassen.
Mit der Chipstüte in der Hand sieht Peter zu, wie allerhand Menschen ihre Berufe erraten lassen. Ein Schornsteinfeger ist dabei, eine Tierpflegerin, Lehrer, Ingenieure und sogar ein Zerspanungstechniker. „Was es alles gibt“, denkt sich Peter. Seine Gedanken schweifen ab. Er hat nie mit flauschigen Tieren zu tun.
Eine besonders anspruchsvolle Arbeit hat er auch nicht. Er gestaltet auch nichts. „Wenn man’s genau nimmt, renne ich den ganzen Tag nur von rechts nach links und räume große Regale ein“, denkt er missmutig. „Wieso eigentlich?“ „Es war eine sichere Wahl“, flüstert ein Stimmchen in seinem Kopf. Finanzielle Sicherheit ist schließlich das Wichtigste. Das haben schon Peters Eltern gesagt. Und auch in der Schule war oft von Geld und einem sicheren Job die Rede. Von Träumen und Selbstverwirklichung hat nie einer gesprochen. „Was soll’s, jetzt ist es eh zu spät“, denkt sich Peter und schiebt die Gedanken beiseite. In der Spielshow tritt gerade ein junger Unternehmer auf, der viel Geld mit einer innovativen App verdient hat. Peter seufzt und greift nach den Chips.
Klarer Fall: Peter hat keine Ahnung, was er wirklich will. Er ahnt zwar irgendwie, dass es sich deutlich von dem unterscheidet, was er tut, aber intensiver möchte er darüber gar nicht nachdenken.
Vermutlich weiß er nicht einmal, dass es sich lohnen würde, darüber nachzudenken. Doch damit ist Peter in guter Gesellschaft. Denn ich bin der festen Ansicht, dass das den meisten Menschen in unserem Land so geht. Wer weiß denn schon, was er wirklich will? Wenn er alles frei entscheiden könnte?
Die Zeit, in der wir leben, macht es uns da aber auch nicht leicht.
Im Großen und Ganzen sind es hauptsächlich zwei Faktoren, die uns davon abhalten, zu wissen, was wir wirklich wollen: zum einen unsere Erziehung und zum anderen die vielen, vielen Möglichkeiten.
Ausgeträumt – Wenn die Realität dazwischenkommt
Kinder haben oft sehr abenteuerliche Vorstellungen davon, was sie einmal werden wollen: Astronauten sind dabei, Müllmänner, Tierärzte, Modedesignerinnen oder Prinzessinnen. Was Peter wohl damals werden wollte? Vielleicht Pilot oder Feuerwehrmann?
Kinder wissen nichts über die gesellschaftliche Bedeutung dieser Berufe, sie wählen sie schlicht aus dem Bauch heraus – weil sie es wollen. Meist belächeln die Eltern die Berufswünsche ihrer Kinder und lassen sie weitgehend unkommentiert – denn sie wissen, dass sowieso eines Tages die Realität dazwischenkommen wird. Und das tut sie.
Die Abkehr von unseren Träumen findet schleichend statt. Hier bekommt man zu hören, dass Prinzessin doch kein Beruf sei, dort kriegt man gesagt, dass die Ausbildung zum Astronauten wirklich sehr schwierig ist und irgendwo schnappt man auf, dass man mit Modedesign doch unmöglich Geld verdienen kann. Und so wird aus dem ambitionierten Jung-Astronauten schließlich ein Notarfachangestellter, die kleine Modedesignerin entscheidet sich für eine sichere Ausbildung bei der Bahn, Peter landet im Baumarkt.
Als Kinder haben wir eine sehr genaue Vorstellung davon, was wir wirklich wollen. Doch unser Umfeld schafft es zuverlässig, uns im Laufe unseres Entwicklungsprozesses diese geistige Freiheit abzuerziehen. An ihre Stelle rücken Realismus, Verantwortungsbewusstsein und Angst. Wir lernen, dass Träume nur etwas für Kinder sind und keine Zukunft haben. Wer träumt, hat „den Ernst des Lebens“ noch nicht verstanden. Schade, oder?
Unser Bildungssystem macht kräftig mit. Sicher hast auch du im Deutschunterricht gelernt, Bewerbungen zu schreiben, oder? Das erscheint auf den ersten Blick praktisch und sinnvoll, denn wir wollen ja alle einen Job finden. Erst viele Jahre später ist mir klar geworden, wie sehr diese Herangehensweise an das Leben unsere Einstellung – und damit auch unser Handeln – beeinflusst. Wir sollen uns gar nicht fragen, was wir wirklich wollen. Wir sollen nur lernen, uns in ein bestehendes System einzuordnen. In der Schule bekommen wir beigebracht, dass es nur eine Möglichkeit gibt, eine Arbeit zu finden: Sieh dich um, wo das System einen freien Platz für dich hat. Bewirb dich darauf und hoffe, dass du so eine Rolle im bestehenden Gesellschaftsgefüge zugewiesen bekommst.
Ich kann mich nicht erinnern, dass es in meiner Schulzeit jemals Thema gewesen wäre, dass man auch eine eigene Firma gründen kann. Dass man sich fragen soll, was man wirklich will und sein eigenes Ding machen soll. Doch das liegt vielleicht in der Natur der Sache. Denn wie willst du etwas weitergeben, das du selbst nicht gelernt hast? Dein Deutschlehrer ist nun einmal kein Gründer. Er ist Beamter und fügt sich stärker als die meisten Angestellten in ein bestehendes System. Und doch würde ich mir wünschen, Lehrer würden zumindest von Zeit zu Zeit über den Tellerrand hinausschauen: Wie wäre es zum Beispiel mit einer Projektwoche zum Thema „Gründen“? Ich bin sicher, das würde den Horizont vieler Jugendlicher deutlich erweitern. Aber ein solches Thema hat die Politik im Bildungsplan wohl nicht vorgesehen. Zumindest bisher noch nicht.
Auch die eigenen Eltern sind oft keine große Hilfe dabei, wenn es darum geht, herauszufinden, was man wirklich will. Denn auch sie haben es nicht gelernt. Als Kinder der Fünfziger- und Sechzigerjahre standen in ihrer Erziehung Werte wie Sicherheit und Beständigkeit an erster Stelle. Wie Peters Eltern haben sie diese Werte an uns weitergegeben. Gerade in der Generation unserer Eltern war es durchaus üblich, denselben Job zwanzig, dreißig oder sogar vierzig Jahre lang zu machen. In derselben Firma, am selben Schreibtisch. Unsere Eltern haben sich vielleicht manchmal darüber beschwert, dass sie auch gerne mal etwas anderes machen würden – aber gemacht haben es die meisten von ihnen nicht.
Die Qual der Wahl – Wenn du alles haben kannst
Heute sieht die Sache anders aus. Nie zuvor hatten wir so viele Möglichkeiten, etwas aus unserem Leben zu machen. Die meisten Menschen in der westlichen Welt haben heute keine existenziellen Sorgen, so wie sie unsere Großeltern noch hatten. Die Welt ist extrem vernetzt und wächst dadurch immer näher zusammen.
Während früher schon manchmal die nächste Großstadt wie eine andere Welt erschien, ist heute der nächste Kontinent absolut erreichbar. Klingt super? Ist es auch.
Doch mit den Möglichkeiten kommt wie immer die Qual der Wahl.
Du möchtest reisen, in die Politik gehen, Astrophysiker werden, eine Rockband gründen oder im Elektro-Rollstuhl an einer Laufveranstaltung teilnehmen? Alles erscheint möglich.
Verstehst du, was ich meine? Das ist ein bisschen wie beim Musikhören. Nehmen wir einmal an, du stehst vor deinem CD-Regal mit etwa fünfzig Titeln. Es wird nicht lange dauern, bis du eine der CDs ausgewählt hast und zufrieden in deinen CD-Player schiebst. Doch nehmen wir nun an, du nutzt stattdessen einen Musik-Streamingdienst. Hier präsentiert sich dir anstelle des CD-Regals ein schwarzes „Suchen“-Feld mit blinkendem Cursor und der unterschwelligen Frage: „Was möchtest du hören? Du kannst alles haben.“ Das Ergebnis ist in den meisten Fällen eine schlichte Überforderung. Wer alles haben kann, weiß umso weniger, was er wirklich will.
Hinzu kommt die wahre Flut an Vergleichsmöglichkeiten, die unsere digitalisierte Welt uns heute bietet. Der Nachbar postet stündlich Bilder aus Thailand auf Instagram, ein Arbeitskollege steht bei Facebook vor seinem nagelneuen 3er-BMW und der Schwager hat schon wieder beim Stadtlauf irgendeine Medaille gewonnen.
Alles lässt sich ergoogeln, jeder kann sehen, was ein anderer in diesem Moment gerade tut. Spätestens die sozialen Medien haben dafür gesorgt, dass Informationen heute überall und zu jeder Zeit im Überfluss zu haben sind. Kein Wunder also, dass wir vor lauter äußeren Einflüssen manchmal drohen, unser eigenes Leben fast zu vergessen.
Unsere Erziehung, die vielen Möglichkeiten und auch die Gelegenheiten, sich mit anderen zu vergleichen, sorgen also allesamt dafür, dass die meisten Menschen gar nicht auf die Idee kommen, sich zu fragen, was sie wirklich wollen. Und doch ist es keinesfalls eine Luxusfrage, die man sich nur dann stellen sollte, wenn man sonst keine Probleme mehr hat. Ganz im Gegenteil: Es ist die Schlüsselfrage zu einem besseren Leben. Uns ewig mit anderen zu vergleichen bringt uns nicht weiter. Wir müssen uns unsere eigenen Ziele setzen, um unseren eigenen Weg zu gehen.
** Mein Erfolgstipp **
Vergleiche dich nicht mit anderen! Setze dir deine eigenen Ziele...