DAS GEHEIMNIS IST SEIT 50 JAHREN GELÜFTET … DENNOCH HABE ICH BIS HEUTE KEINEN TREND ZUM VALUE-INVESTING ENTDECKEN KÖNNEN. ES IST WAHRSCHEINLICH, DASS ES WEITER SO BLEIBT. SCHIFFE WERDEN DIE ERDE UMRUNDEN, ABER DER VEREIN DER FLACHEN ERDE WIRD WEITER BLÜHEN …ES WIRD AM MARKT WEITER GROSSE DISKREPANZEN ZWISCHEN PREIS UND WERT GEBEN, UND DIEJENIGEN, DIE IHREN GRAHAM UND DODD LESEN, WERDEN WEITERHIN PROSPERIEREN.
Warren Buffett1
I CAN CALCULATE THE MOTIONS OF THE HEAVENLY BODIES, BUT
NOT THE MADNESS OF CROWDS.
Sir Isaac Newton2
2. Warum Value-Investing
funktioniert
Wenn Value-Investing fast ausschließlich auf gesundem Menschenverstand und angewandter Betriebswirtschaftslehre beruht und hervorragende Renditen produziert, warum ist es dann nicht populärer? Zugegeben, von Bilanzen muss man schon etwas verstehen, genauso wie man Noten lesen muss, wenn man ein Instrument spielen will. Mittlerweile studieren weltweit Hunderttausende, ja Millionen junge Menschen Betriebswirtschaft und Finanzierungslehre. Sie alle sollten zumindest theoretisch in der Lage sein, Value-Investing zu betreiben. Und dennoch scheint es keinen Trend in Richtung Value-Investing zu geben. Im Gegenteil, die Kapitalmärkte werden zunehmend volatiler. Die Schwankungen des DAX von 8.000 Punkten im März 2000 auf 2.200 im März 2003 und dann wieder auf 6.100 im April 2006 scheinen eher die Börse eines kleinen Entwicklungslandes in einer schweren Krise zu charakterisieren als die der (noch) drittgrößten Industrienation der Welt.
Abb. 2.1: Stand des Deutschen Aktienindex (DAX) 1996–2006
Quelle: Yahoo! Finance
Wenn die Börsenkurse immer den tatsächlichen Wert von Unternehmen reflektieren würden, hätte sich der Wert der 30 größten Industrieunternehmen Deutschlands (DAX 30) innerhalb von drei Jahren auf weniger als ein Drittel verringert und sich dann in den nächsten Jahren fast wieder verdreifacht. So hat es »die Börse« gesehen. Hier muss irrationales Verhalten von Kapitalanlegern die treibende Ursache sein. Wenn die Kapitalmärkte rational wären, würden sie zumindest ungefähr den Wert dieser gut bekannten und von vielen Analysten beobachteten Unternehmen reflektieren. Größere Schwankungen – wie zum Beispiel die von 2000 bis 2006 beobachteten - wären dann nicht möglich.
Auch in der Vergangenheit gab es regelmäßig spekulative Exzesse.3 Die sogenannte »Südseeblase« in England im Jahr 1720 glich zum Beispiel in einigen Aspekten verblüffend der »New Economy« von 1995 bis 2001. 1720 wurden an der Börse Anteilsscheine der South Sea Company zu immer höheren Kursen ausgegeben. Bereits damals konnte ein findiger Börsianer Aktien platzieren, indem er den Geschäftszweck seiner Idee im Prospekt wie folgt beschrieb: »Eine Unternehmung mit großem Gewinnpotenzial, aber von bislang unbekannter Natur.«4
Abb. 2.2: Die Südseeblase im Jahr 1720
Quelle: White, S. 44
Ungefähr achtzig Jahre zuvor war in Holland in großem Stil mit Tulpenzwiebeln spekuliert worden, die über einen Zeitraum von mehreren Jahren immer wertvoller wurden. In dem Klassiker »Extraordinary Popular Delusions and the Madness of Crowds« von Charles MacKay aus dem Jahr 1841 sind die Waren dokumentiert, die für eine besonders schöne Zwiebel der Gattung Viceroy hergegeben wurden: zwei Wagen mit Weizen, zwei Wagen mit Roggen, vier fette Ochsen, acht fette Schweine, zwölf fette Schafe, zwei Fässer Wein, vier Fässer Bier, zwei Fässer Butter, eintausend Pfund Käse, ein Bett, ein Anzug und eine silberne Trinktasse. Für eine Zwiebel der Gattung Semper Augustus gab ein Bürger zwölf Hektar Bauland her.5 Tulpenbörsen wurden eingerichtet. In den Gaststätten wurden Banketts gegeben, um öffentlich ausgestellte Tulpen zu bewundern – die Zwiebeln wohlgemerkt, nicht die Blumen!
Der bekannteste Börsencrash ist sicherlich derjenige von 1929, der in die Weltwirtschaftskrise mündete.6 Innerhalb von drei Jahren fiel der Dow Jones Industrial Average von 381,17 auf 41,22 Punkte, das sind fast 90 Prozent.7 Erst im Jahr 1955 – nach mehr als einem Vierteljahrhundert – hatte der Dow Jones seinen alten Höchststand wieder erreicht. Allerdings misst der Dow Jones als reiner Kursindex nicht die Dividendenzahlungen, welche die Aktionäre in diesem Vierteljahrhundert erhalten haben.
Aber auch neben diesem Super-GAU der neueren Wirtschaftsgeschichte gab es immer wieder kleinere und mittlere Börsencrashs. Benjamin Grahams Mutter wurde durch die Börsenpanik von 1907 ruiniert, als sie Aktien auf Kredit gekauft hatte. Im Jahr 1987 stürzte der Dow Jones ohne erkennbare Gründe an einem einzigen Tag, dem 19. Oktober, um 23 Prozent ab. Anders als 1929 blieb dieser Crash aber ohne größere Auswirkungen: Nur knapp zwei Jahre später hatte sich die Börse erholt.
Neben dem Platzen der New Economy finden sich in der jüngeren Vergangenheit mehrere Fälle, in denen offensichtlich stärkere spekulative Übertreibungen vorgelegen haben, zum Beispiel
• die Übertreibung an den japanischen Kapitalmärkten 1985 bis 1990, von der sich das Land erst fünfzehn Jahre später langsam zu erholen scheint
• die Mexikokrise von 1994 bis 1996
• die Asienkrise von 1997
• die russische Schuldenkrise sowie der Zusammenbruch des LTCM (Long-Term Capital Management) Hedgefonds im Jahr 1998
• die Immobilienblase in den USA 2001 bis 2005
So gesehen stellt sich die Geschichte der Kapitalmärkte als eine Summe von kleineren und größeren Übertreibungen dar.8 Value-Investoren nutzen die Übertreibungen nach unten, weil sie sich ein realistisches Bild vom Wert einer Aktie oder eines Investmentobjekts gemacht haben. Sie vermeiden es, Übertreibungen nach oben mitzumachen, also die letzten 20 oder 30 Prozent zu verdienen, weil sie wissen, dass die Investments zu weit von ihrem intrinsischen Wert entfernt sind und dass der Zeitpunkt, zu dem die Stimmung kippen wird, unmöglich vorherzusehen ist. Der in Kapitel eins zitierte Satz von Martin Whitman drückt dies trefflich aus: »Der Kurs ist nicht etwas, das man versuchen sollte, vorherzusagen, sondern etwas, das man zu seinem Vorteil ausnutzen sollte.«9
Um die Unberechenbarkeit des Markts zu illustrieren, erfand Benjamin Graham den fiktionalen »Mr. Market«. Nehmen Sie an, Mr. Market ist Ihr Geschäftspartner und besitzt die Hälfte des Unternehmens, das Sie gemeinsam betreiben. Mr. Market würde gerne Ihre Anteile am Unternehmen übernehmen und macht Ihnen jeden Tag mehrere Angebote. Mr. Market ist extrem emotional, an bestimmten Tagen ist seine Stimmung sehr gedrückt. Vielleicht hat er sich mit seiner Frau gestritten, der Hund hat ihn gebissen oder das Wetter ist schlecht. Die Zukunftsaussichten des gemeinsamen Geschäfts schätzt er an solchen Tagen eher als schwierig ein. Demzufolge wird er auch nur einen sehr geringen Preis zu zahlen bereit sein. An manchen Tagen ist er wiederum sehr optimistisch – vielleicht ist seine Frau sehr nett gewesen, die Kinder haben gute Schulnoten mit nach Hause gebracht und das Wetter war schön. An solchen Tagen ist Mr. Market voller Enthusiasmus hinsichtlich der Chancen des gemeinsamen Geschäfts und bereit, Ihnen einen exorbitant hohen Preis zu zahlen. Und obwohl Mr. Market so emotional ist, lässt er sich nie entmutigen. Er kommt jeden Tag wieder und macht Ihnen ein Angebot.10
Theoretisch ließe sich durch Leerverkäufe11 auch auf eine Baisse spekulieren, wenn man sich ein Bild vom intrinsischen Wert eines Wertpapiers gemacht hat. Allerdings betreiben die meisten Value-Investoren aufgrund bestimmter Asymmetrien kein Short Selling. Zum einen kann ein Wertpapier, das man gekauft hat, maximal 100 Prozent seines Einstandswerts verlieren (wenn man nicht auf Kredit gekauft hat). Wenn man seine Analyse sorgfältig gemacht hat, ist ein hoher Verlust aber sehr unwahrscheinlich.
Der Verlust einer leer verkauften Position kann hingegen schnell das Mehrfache des Ursprungsbetrags betragen, da eine Aktie um mehr als 100 Prozent steigen kann und sich dieser Anstieg als Verlust beim Leerverkäufer wiederfindet. Auch wenn Wertpapiere objektiv zu teuer sind, können sie noch lange weiter steigen. Leerverkäufe lassen sich aber oftmals nur über einen gewissen Zeitraum tätigen, und Value-Investoren vermeiden das Markttiming.
Unterperformance von Privatanlegern und
Institutionellen
Ein zweites Bild vervollständigt das Puzzle: Sowohl Privatanleger als auch institutionelle Anleger erzielen systematisch schlechtere Renditen als der Markt. Wenn Privatanleger einfach den Marktindex kaufen würden, wären ihre Renditen respektabel. Über einen Zeitraum von 75 Jahren haben Aktien solider amerikanischer Unternehmen eine durchschnittliche Jahresrendite von 13,0 Prozent erzielt, diejenigen kleinerer Unternehmen sogar von 17,3 Prozent. DAX-Aktien haben von 1948 bis 2005 eine Rendite von 12,2 Prozent erzielt, von 1962 bis 2005, als die massiven Kurssteigerungen der Nachkriegszeit abgeschlossen waren, immer noch eine Rendite von 7,5 Prozent....