1 Schwerpunkte des Arbeitsfelds
Thomas Bollinger Herzka
Einleitung Das übergeordnete Ziel aller ergotherapeutischen Interventionen ist: die Wiedererlangung und Erhaltung der Handlungsfähigkeit im Alltag. Das gilt für alle Fachbereiche der Ergotherapie ebenso wie für die internationale Ergotherapie. Die Ausdifferenzierung dieser Definition für die verschiedenen Fachbereiche der Ergotherapie (Orthopädie, Neurologie, Pädiatrie, Geriatrie und Psychiatrie) gestaltet sich schwieriger. Die Arbeitsfelder variieren länder- und kulturspezifisch und sind abhängig von den jeweiligen Gesundheitssystemen.
Der Ursprung der Ergotherapie als eigenständiger Beruf liegt in den angelsächsischen Ländern. Dort wird der Beruf „Occupational Therapy“ genannt. Im deutschsprachigen Raum wurde dies längere Zeit mit „Beschäftigungstherapie“ oder „Beschäftigungs- und Arbeitstherapie“ übersetzt. Der Begriff „Beschäftigung“ impliziert häufig, dass es sich dabei um eine Tätigkeit handelt, die zur Ablenkung und Zerstreuung dient. Dies war in den Anfängen der Ergotherapie in den Bereichen Psychiatrie und Geriatrie auch ein wichtiger Inhalt der Therapie. Heutzutage hat sich das sehr gewandelt. Es gibt aber nach wie vor einen Paradigmenkonflikt in der Ergotherapie, bei dem sich zwei Ansätze gegenüberstehen: der ressourcenorientierte Ansatz und der defizitorientierte Ansatz:
Der ressourcenorientierte Ansatz stellt die Funktionen in den Vordergrund, die der Patient beherrscht und an denen er Freude hat. So werden defizitäre Bereiche beim Tun mittrainiert, ohne dass der Patient seinen Fokus auf dieser Funktion hat. So soll z. B. nicht in erster Linie die Beweglichkeit eines Handgelenks verbessert werden, sondern der Patient soll mit beiden Händen eine Aktivität durchführen, die er gut kann und an der er interessiert ist. Vom Einbezug der betroffenen Hand in die Aktivität wird eine Besserung erhofft. In gewissem Sinne wird der Patient dabei von den Problemen des eingeschränkten Handgelenks abgelenkt.
Beim defizitorientierten Ansatz wird versucht, spezifische Defizite zu beseitigen und mit der Therapie genau darauf einzugehen. Im Beispiel Handgelenkseinschränkung wird die Therapeutin durch gezielte Mobilisation der Struktur die Beweglichkeit des eingeschränkten Handgelenks zu verbessern suchen.
Natürlich wird heute niemand mehr ausschließlich den einen oder anderen Ansatz vertreten, aber die Schwerpunkte werden unterschiedlich gesetzt. Im Fachbereich Orthopädie/Traumatologie wird der Schwerpunkt eher auf der Defizitorientierung liegen, weil es sich häufig um Funktionseinschränkungen handelt, die den Patienten nur vorübergehend in seinen alltäglichen Aktivitäten einschränken.
Ergotherapeutische Behandlungsmaßnahmen sind grundsätzlich als Beitrag in der Rehabilitation eines Patienten zu sehen. Es liegt deshalb nahe, für die Darstellung der beruflichen Inhalte und Anforderungen eine Terminologie und Systematik zu wählen, welche sich an der Rehabilitation orientiert. Im vorliegenden Lehrbuch soll versucht werden, Inhalt und Terminologie der Internationalen Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit der WHO (Weltgesundheitsorganisation) als Leitfaden zu nehmen.
1.1 ICF
„Die Internationale Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit“ (ICF) der Weltgesundheitsorganisation dient als länder- und fachübergreifende einheitliche Sprache zur Beschreibung des funktionalen Gesundheitszustands, der Behinderung, der sozialen Beeinträchtigung und der relevanten Umgebungsfaktoren einer Person. Die englischsprachige Originalausgabe wurde 2001 von der Weltgesundheitsorganisation veröffentlicht als International Classification of Functioning, Disability and Health (WHO 2001).
Die ICF wurde als Ergänzung zur Internationalen Klassifikation der Krankheiten (ICD) entwickelt. Während die ICD sich darauf beschränkt, medizinische Diagnosen einheitlich zu klassifizieren, soll die ICF die Faktoren, welche für die Rehabilitation relevant sind, mit einbeziehen. Die ICF orientiert sich am biopsychosozialen Modell der Medizin, das im Vergleich zu einem rein defizitorientierten Krankheitsmodell auch die persönlichen Ressourcen der Betroffenen und sein Umfeld mit berücksichtigt. ( ▶ Abb. 1.1).
Abb. 1.1 Biopsychosoziales Modell der ICF aus: ICF. Deutsches Institut für med. Dokumentation und Information (DIMDI) (Hrsg.) 2004.
1.1.1 Gesundheitsproblem: Gesundheitsstörung, Krankheit
Wird ein Mensch krank oder erleidet einen Unfall, ist er für eine gewisse Zeit, manchmal auch dauernd, in seinen täglichen Aktivitäten eingeschränkt. Viele Krankheiten oder Unfallfolgen lassen sich durch ärztliche und pflegerische Maßnahmen innerhalb kürzerer Zeit so beeinflussen, dass der betroffene Mensch sein Leben in gewohnter Weise wieder weiterführen kann. Nach einer Grippe kann nach Abklingen der Symptome wieder der gewohnten Arbeit nachgegangen werden und auch ein Beinbruch beim Skifahren hält beispielsweise einen Schüler nur für einige Wochen vom Unterricht fern. Wo Krankheit und Unfallfolgen die Bewältigung der gewohnten Lebensaufgaben (Beruf, Schule, Familie etc.) infrage stellen, müssen rehabilitative Maßnahmen (Ergotherapie, Physiotherapie, Logopädie, Sozialarbeit, Ernährungsberatung, Psychologie etc.) ergriffen werden.
1.1.2 Körperfunktionen und Körperstrukturen
Eine Krankheit oder Gesundheitsstörung verursacht Schäden an Körperstrukturen. Der Begriff „Körper“ bezieht sich auf den menschlichen Organismus als Ganzes. Daher umfasst er auch das Gehirn und seine Funktionen, z. B. den Verstand. Aus diesem Grund werden mentale (geistige und seelische) Funktionen unter „Körperfunktionen“ subsumiert.
Eine Radiusfraktur schädigt einmal dessen Integrität. Zudem können die Stellung des Knochens zu seinen Gelenken und damit die Gelenke selbst geschädigt werden. Dies ist ein Schaden an einer Körperstruktur. Ein Gelenk ist für die menschliche Bewegung eine wichtige Funktionseinheit. Ein Schaden an einem Gelenk beeinflusst dessen Funktionsfähigkeit. Es entsteht ein Schaden an einer Körperfunktion, z. B. der Gelenkbeweglichkeit.
1.1.3 Aktivitäten
Eine Aktivität wird in der ICF folgendermaßen definiert:
Eine Aktivität ist die Ausführung einer Aufgabe oder Handlung in einem Lebensbereich durch eine Person.
Die Dimension „Aktivitäten“ der ICF ist für die Ergotherapie von besonderer Bedeutung. Der Name Ergotherapie, abgeleitet vom griechischen Wort ergein (dt. tun, aktiv sein) soll aufzeigen, dass die Kernkompetenz der Ergotherapie in dieser Dimension liegt.
Wenn wir annehmen, dass durch den beschriebenen Schaden am Radius das Handgelenk in seiner Funktion betroffen ist, so kann daraus eine Einschränkung in der Handlungsfähigkeit und/oder Selbstständigkeit in einem oder mehreren Lebensbereichen mit den typischen Aktivitäten resultieren. Ist die dominante Hand betroffen, so ist beispielsweise das Schreiben verlangsamt oder muss von der nicht dominanten Hand übernommen werden. Essen als beidhändige Tätigkeit wird schwieriger. Ist der betroffene Mensch in einem Beruf tätig, welcher Kraft und/oder Beweglichkeit im Handgelenk erfordert, so kann der beschriebene Schaden eine mindestens vorübergehende Arbeitsunfähigkeit bedeuten.
1.1.4 Teilhabe
Eine Einschränkung in Aktivitäten der verschiedenen Lebensbereiche kann die Teilhabe (Partizipation) eines Menschen am gesellschaftlichen Leben einschränken oder verunmöglichen.
Ein Bespiel dafür ist eine...