Einleitung: Erich Honecker erzählen
Vor neutralem Hintergrund ist ein grauhaariger Mann unbestimmten Alters in korrekter Kleidung zu erkennen, dessen durch eine Hornbrille verschatteter Blick ausdruckslos auf den Betrachter gerichtet ist: das Gesicht der Gesichtslosigkeit kommunistischer Herrschaft. So hing das Bild des von Erich Honecker verkörperten SED-Regimes fast zwanzig Jahre lang in den Amtsstuben der Parteistellen und der Dienstbehörden des zweiten deutschen Staates – das zeitlose Porträt einer Macht, die nicht vom Zuspruch ihrer Anhängerschaft getragen war und durch die nicht die Begeisterungskraft eines Volkstribunen schimmerte, sondern allein die Stärke der sozialistischen Einheitspartei und ihrer bürokratischen Gewalt. Nicht die Kraft des Einzelnen, sondern die Macht des Kollektivs stand im Zentrum kommunistischer Herrschaftsrepräsentation. Von der Gewissheit, dass die Partei «immer recht» habe, bis hin zu ihrer Ausstattung mit anthropomorphen Zügen reicht die Sakralisierung des Kollektivs im Allgemeinen und der Partei im Besonderen in der kommunistischen Bewegung. Während die charismatische Aura des faschistischen Diktators in der propagierten Einzigartigkeit der Führerpersönlichkeit hervortrat, verehrte die politische Kultur des SED-Regimes noch im Individuum das Ganze: «Er hat uns vom Ich zum Wir geführt. (…) Unser Ruf den Feinden entgegenhalle: Walter Ulbricht – das sind wir alle!»[1]
Lebensgeschichten der DDR-Gründergeneration und der vor 1920 geborenen «Altkommunisten»[2] überhaupt müssen daher mit einer strukturellen Spannung kämpfen, die sie von üblichen Politikerbiographien unterscheidet: Sie fahnden nach der markanten Persönlichkeit in Verhältnissen, die auf bloße Personifikation ausgerichtet waren, und sie suchen nach dem Außergewöhnlichen in politischen Karrieren, die darauf angelegt waren, Individualität zurückzudrängen. Auch das in das kulturelle Gedächtnis eingebrannte Bild Erich Honeckers ist nicht so sehr ein Produkt persönlicher Prägung als vielmehr politischer Inszenierung. Die staatssozialistische Sinnwelt bewegte sich in dem eigentümlichen Widerspruch, den Biographien ihrer Kader höchste Aufmerksamkeit zu widmen und sie gleichzeitig einem einheitlichen Normierungsanspruch zu unterwerfen, der sie ihrer Besonderheit weitestgehend beraubte. Die kommunistische Wir-Biographie des Neuen Menschen brach mit dem auf bloße Ich-Entfaltung gerichteten Bildungs- und Entwicklungsroman des bürgerlichen Zeitalters; nicht individuelle Einzigartigkeit sollte sie illustrieren, sondern lehrreiche Vorbildlichkeit. Peinlich wollte auch Erich Honecker als Memoirenschreiber «darauf geachtet habe[n], daß in seiner Biographie niemals das Wort ‹ich› erschien».[3] Schon darum lesen sich die selbst oder von Auftragsschreibern verfassten Lebensabrisse kommunistischer Politiker des 20. Jahrhunderts so einförmig und schematisch, und fast immer schimmert dasselbe schlichte Baugerüst durch sie hindurch. Regelmäßig gründet die Erzählung auf den gedrückten Lebensumständen der eigenen Herkunft, aus denen der von klugem Rat und behutsamer Anleitung gebahnte Weg in die kommunistische Arbeiterbewegung führt, und gleichförmig findet sie nach harten Prüfungen das lebensgeschichtliche Ziel in der erfüllten Arbeit für die siegreiche Partei des sozialistischen Fortschritts.
Doch die ermüdende Gleichförmigkeit dieser Musterlebensläufe sollte nicht darüber hinwegtäuschen, dass die biographischen Bildungsromane der kommunistischen Politikerklasse seit jeher einen besonderen Brennpunkt erst der zeitgenössischen und dann der nachzeitigen Auseinandersetzung um die Legitimation des zweiten deutschen Staats bildeten. Erich Honeckers politische Karriere war wie die vieler anderer Parteikader von unzähligen biographischen Befragungen durchzogen, die sich wieder und wieder in Aufstellungen über den eigenen Werdegang manifestierten. In ihren möglichst vorbildlich verlaufenen und beschriebenen Lebenswegen rechtfertigten die Machthaber der kommunistischen Welt ihre Herrschaft und bekräftigten sie ihren Führungsanspruch als Avantgarde des in der sowjetischen Hemisphäre Staat gewordenen Fortschritts. Die Ankunfts- und Bewährungsbiographien der politischen Elite gaben dem Aufbau des Sozialismus mehr als nur ein scheinbar individuelles Gesicht. Sie waren zugleich der Ort, an dem das kulturelle Kapital der eigenen Lebensgeschichte zu Lebzeiten der DDR in politische Münze verwandelt oder auch nach 1989 vor der völligen Entwertung geschützt werden konnte.
Aus der modellhaften Makellosigkeit seiner kommunistischen Vita schöpfte wie sein politischer Ziehvater Walter Ulbricht auch Erich Honecker einen wesentlichen Teil der persönlichen Legitimation, die ihm den Weg an die Spitze des ostdeutschen Staates zu ebnen half. Besonders in den fast zwei Jahrzehnten seiner Amtstätigkeit als SED-Generalsekretär zählte Honeckers politischer und persönlicher Werdegang zur Kernzone der Staatsdoktrin – ein Werdegang, dessen biographische Triftigkeit allerdings auch und besonders aus dem Westen immer wieder angezweifelt wurde. Dieser lebensgeschichtlichen Mustererzählung zufolge wurde Honecker am 25. August 1912 «als Sohn eines revolutionären Bergarbeiters und späteren Mitgliedes und Funktionärs der KPD in Neunkirchen (Saar) geboren»; er besuchte von 1918 bis 1926 die Volksschule in dem nahegelegenen und damals noch selbständigen Nachbarort Wiebelskirchen, in dem die Familie kurz nach seiner Geburt ein bescheidenes Haus bezogen hatte, und absolvierte dort von 1928 bis 1930 eine Lehre als Dachdecker.[4] Herkunftsmilieu und Kindheit fügten sich ganz in die Linien der eschatologischen Klassenkampferzählung, die von Ausbeutung und Auflehnung, von dunklen Verhältnissen und leuchtenden Auswegen kündete. Da war auf der einen Seite die von Fördertürmen und Kohlenschächten geprägte Bergbaulandschaft des Saarreviers, «die den Stempel der Industrie, harter Arbeit für kargen Lohn (…) trug», auf der anderen der Kampf der revolutionären Arbeiterbewegung, der die Atmosphäre im Elternhaus bestimmte: «Das kleine Arbeiterhäuschen, in dem die Familie Honecker lebte, war ein Treffpunkt klassenbewußter Arbeiter und Gewerkschafter.»[5]
In diesem Gegensatz von Hell und Dunkel wuchs der junge Honecker auf, dessen Kinderjahre «durch die Not und das Leid, das der erste Weltkrieg den Werktätigen brachte, überschattet» wurden, aber zugleich mit dem Kampf und der Solidarität der Arbeiter jene lebensbestimmende Prägung erhielten, aus der sich dank familiärer Unterstützung schon früh die politische Bewusstwerdung entwickelte: «Der Vater bemühte sich, seinen Sohn Erich schon frühzeitig in der Gedankenwelt des Sozialismus zu erziehen. Dabei wurde er von der Mutter aufopfernd unterstützt.» In diesem Bild einer Weitergabe der Werte von einer Generation auf die nächste, das wenig von elterlichen Rollenkonflikten und jugendlichen Emanzipationsbemühungen sprach, aber viel von wissender Anleitung und geschichtlichem Auftrag, kam es auf den väterlichen Lehrer an und ebenso auf den gelehrigen Sohn: «Vom Vater, der seit 1919 der KPD angehörte, ließ er sich vieles erklären. Er begann die Ziele zu verstehen, für die dieser als Kommunist und Funktionär der Partei eintrat.» Als Zehnjähriger trat Erich Honecker 1922 in die kommunistische Kindergruppe Wiebelskirchens ein und vier Jahre später in den Kommunistischen Jugendverband Deutschlands sowie in den Rotfrontkämpferbund, in dessen Wiebelskirchener Spielmannszug er neben dem Vater die Trommel schlug. Der junge Honecker rechtfertigte das in ihn gesetzte Vertrauen ohne Fehl und Tadel: «Die ihm übertragenen Aufgaben erfüllte er gewissenhaft.»
Abgesehen von zwei Jahren zwischen 1926 und 1928, in denen er als Landarbeiter in Hinterpommern tätig war, nahm der so Belobigte eine modellhafte politische Entwicklung, die ihm vom ersten Amt eines Treppenkassierers rasch zur Führung der Wiebelskirchener Ortsgruppe des Kommunistischen Jugendverbandes und 1929 sogar in dessen Bezirksleitung Saar führte. Kurz darauf schloss sich Honecker der Kommunistischen Partei an; 1930 nahm er zum ersten Mal an einem Reichsjugendtreffen seines Verbandes teil; im selben Jahr wurde er vom Zentralkomitee des KJVD für ein Jahr zum Studium des Marxismus-Leninismus an die Internationale Lenin-Schule der Komintern nach Moskau delegiert – der Wiebelskirchener Bergmannssohn «entwickelte ...