Zwei verschiedene Typen derselben Spezies
Es gibt Zahlen, wonach fast jeder Fünfte besonders empfindsam – oder wie man mittlerweile sagt: hochsensibel – ist. Dies gilt nicht nur für Menschen. Höher entwickelte Tierarten können ebenfalls in zwei Typen unterteilt werden: in den hochsensiblen Typ und den widerstandsfähigeren, der mehr riskiert und oft an vorderster Front kämpft.
Abgesehen davon, dass dieselbe Spezies aus zwei unterschiedlichen Geschlechtern besteht, lassen sich also auch zwei verschiedene Typen ausmachen. Bei genauer Betrachtung entsteht sogar der Eindruck, dass diese sich stärker unterscheiden als die beiden Geschlechter.
Der hochsensible Charakter ist keine Neuentdeckung. Er wurde lange Zeit nur anders bezeichnet, etwa als introvertiert. Die amerikanische Psychologin und Wissenschaftlerin Elaine Aron führte den Begriff «Highly Sensitive Person», HSP, («hochsensible Person») ein und beschrieb typische Merkmale. Sie erklärte, selbst der Ansicht gewesen zu sein, introvertiert und hochsensibel sei dasselbe, bis sie entdeckte, dass 30 Prozent der Hochsensiblen sozial aufgeschlossen sind. Der Charakterzug wurde auch als gehemmt, ängstlich oder schüchtern bezeichnet. Dabei handelt es sich um Gefühle und Verhaltensweisen, die in einer ungewohnten Umgebung zutage treten können oder wenn der Hochsensible nicht genügend Unterstützung und Rückhalt erfährt. Keine dieser von Außenstehenden getätigten Beschreibungen bringt zum Ausdruck, dass die Betreffenden zwar größere Probleme in belastenden Situationen haben, aber auch gerade imstande sind, glücklicher als andere zu sein, wenn sie sich in einer sicheren Umgebung, in ihrer persönlichen Komfortzone, aufhalten.
Dies bestätigt auch die Forschung des Psychologen Thomas Boyce: Wie eine Untersuchung zeigte, reagierten manche Kinder in einem herausfordernden Umfeld und in belastenden Situationen – gemessen am Herzschlag und an der Immunreaktion – stärker (die empfindsamen Kinder) als andere; außerdem wurden sie häufiger krank und sie verletzten sich öfter als die anderen. Hielten sich dieselben Kinder jedoch in ihrem gewohnten Umfeld auf, erkrankten sie seltener und es passierten ihnen weniger Missgeschicke als anderen.
Während hochsensible Menschen gesellschaftlich meist eine Außenseiterrolle einnehmen, werden sie vor allem in der europäischen Literatur an der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert oft thematisiert. Die Künstlerfiguren in Thomas Manns Werk, wie Tonio Kröger, tragen hochsensible Züge; in Joris-Karl Huysmans Gegen den Strich oder Oscar Wildes Das Bildnis des Dorian Gray weisen die Hauptfiguren eine besondere Sensibilität auf und streben darüber hinaus nach einer immer intensiveren «Verfeinerung der Nerven» – wie es manche Hochsensible wirklich tun (dazu an späterer Stelle mehr). In Rainer Maria Rilkes Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge wird Hochsensibilität anhand des Titelhelden am eindrücklichsten literarisch ausgearbeitet: Malte nimmt alle Eindrücke und Reize so intensiv wahr, dass er darunter leidet. Beispielsweise sind seine visuellen Wahrnehmungen so fein, dass man von einem «sezierenden Sehen» gesprochen hat.
Hochsensible nehmen mehr Reize auf und reflektieren diese intensiver
Besonders empfindsame Menschen weisen eine besondere Konstitution des Nervensystems auf. Wahrscheinlich aufgrund einer höheren Erregbarkeit der Großhirnrinde und eines schwächeren Filters im Thalamus für eintreffende Reize haben Hochsensible eine intensivere Wahrnehmung und sind Reizen, insgesamt betrachtet, stärker ausgesetzt. Sie besitzen eine rege Fantasie und eine ausgeprägte Vorstellungskraft, weshalb äußere Reize vielfältige Gedankenassoziationen und Vorstellungen in ihnen auslösen können. Die Kapazitäten ihrer «Hardware» erschöpfen sich dadurch aber auch schneller, und sie fühlen sich überstimuliert.
Ich selbst habe die Erfahrung gemacht, in meinem Kopf keine weiteren Informationen mehr aufnehmen zu können, wenn ich zu vielen Reizen ausgesetzt bin. Treffe ich auf fremde Menschen, ist dieser Sättigungspunkt manchmal schon nach einer halben oder einer Stunde erreicht. Ich kann mich zusammenreißen und weiterhin zuhören und sogar so tun, als ob ich mich immer noch wohlfühle. Doch das kostet mich sehr viel Kraft und hinterher bin ich ausgelaugt.
Niemand möchte überstimuliert werden, denn das ist sehr kräftezehrend. Sind Sie selbst hochsensibel, werden Sie schneller an Ihre Grenzen stoßen als andere und Stimulationen als unangenehm empfinden. Sie haben deshalb das Bedürfnis, sich zurückzuziehen, wenn um Sie herum großer Trubel herrscht.
Vielleicht versuchen Sie auch wie Erik im nachfolgenden Beispiel, sich die notwendigen Reizpausen heimlich zu verschaffen, weil Sie befürchten, dass andere Sie möglicherweise für wehleidig, überempfindlich, versnobt oder ungesellig halten.
«Wenn ich in der Verwandtschaft zu einem runden Geburtstag eingeladen bin, suche ich häufig das Badezimmer auf, wo ich vor dem Spiegel stehe, mich ein wenig betrachte und mir die Hände wasche. Je nachdem wie stark das Bad frequentiert ist, traue ich mich nicht, es länger zu blockieren, weshalb mich die wenigen friedlichen und ruhigen Augenblicke nie ganz zufriedenstellen. Einmal habe ich versucht, mich hinter einer Zeitung zu verstecken. Ich setzte mich in eine Ecke und hielt die Zeitung vor mein Gesicht. Ich saß mit geschlossenen Augen hinter der Zeitung und versuchte zur Ruhe zu kommen. Mein Onkel, der immer zu einem Scherz aufgelegt ist, schlich sich an, schlug mir plötzlich die Zeitung aus den Händen und rief: ‹Na, so was, hier sitzt du also und versteckst dich›, und alle grinsten. Für mich war das sehr unangenehm.» Erik, 48 Jahre
Nicht nur negative Eindrücke überreizen Sie, sondern auch positive können – etwa bei einem Fest, auf dem Sie sich amüsieren – ab einem bestimmten Punkt zu anstrengend werden, so dass Sie sich zurückziehen müssen, wenn die Feier gerade ihren Höhepunkt erreicht hat.
In solchen Situationen leiden Hochsensible am stärksten unter ihrem Handicap. Die meisten würden am liebsten genauso lange bleiben wie die anderen Gäste. Es ist sowohl unangenehm, den Gastgeber zu enttäuschen, als auch schade, beim restlichen Verlauf des Festes nicht mehr dabei zu sein. Hochsensible haben aber auch Angst, als langweilig, ungesellig oder unhöflich zu gelten, wenn sie das Fest verlassen, bevor es zu Ende ist.
Das empfindliche Nervensystem, das dafür verantwortlich ist, dass Sie sich vor Reizüberflutungen schützen müssen, versetzt Sie jedoch auch in die Lage, besonders intensiv Freude zu empfinden. Schöne Reize wie etwa ein Kunstwerk, Musik, der Gesang der Vögel, der Duft von Blumen, gutes Essen oder die Natur rufen diese innere Freude hervor.
Empfindlich gegenüber Sinneseindrücken
Wenn Sie hochsensibel sind, machen Sie sicherlich auch bisweilen die Erfahrung, dass es schwer ist, störende Geräusche, Gerüche oder visuelle Reize auszublenden. Alltägliche Reize, denen Sie nicht entkommen, stören und irritieren Sie häufig. Was andere als ein völlig normales Geräusch empfinden, kann für Sie lästiger Lärm sein, der Ihr Nervensystem strapaziert.
Das ist beispielsweise an Silvester der Fall. Wenn Sie besonders sensibel sind, werden Sie wahrscheinlich große Freude an dem Kunstwerk haben, das das Feuerwerk an den Himmel zaubert. Ganz anders ist es mit dem damit verbundenen Krach. Er durchdringt Sie ganz unmittelbar und erschüttert Ihr Nervensystem, so dass Sie üblicherweise zum Jahreswechsel mehr oder weniger aus der Balance geraten.
Wenn ich Seminare für hochsensible Menschen gebe oder mit ihnen in meiner therapeutischen Praxis...