2.
Koalition der Mitte
Den Umzug bewältigten wir mit Bordmitteln: Zusammen mit Hannelore, Walter und Peter und den beiden Fahrern Eckhard Seeber und Gabriel Schuld zogen wir anderntags, am 2. Oktober 1982, ins Bundeskanzleramt ein. Wir hatten bewusst den Samstag gewählt, um ungestört von der Presse zu sein. Während die Journalisten übers Wochenende Pause machten, packten alle mit an, auch meine engsten Mitarbeiter: Juliane Weber, Eduard Ackermann, Horst Teltschik und Wolfgang Bergsdorf. Professionelle Möbelpacker hätten es kaum besser machen können.
Mein künftiges Büro hatte Helmut Schmidt vollständig geräumt, und auch das Vorzimmer war bezugsfertig. Es gab kein einziges Stück Papier, das er mir hinterlassen hätte. Als ich sechzehn Jahre später aus dem Kanzleramt wieder auszog, hielt ich es anders und übergab meinem Nachfolger eine Menge wichtiger Unterlagen.
Unbehelligt von Fernsehkameras und journalistischen Beobachtern konnten wir unsere neue Wirkungsstätte einrichten. Die Bundesflagge, die ich hier aufstellte, hatte es zuvor im Kanzlerbüro nicht gegeben. Ich brachte aber auch einige ganz persönliche Dinge mit, wie die Mineraliensammlung, eine Sammlung von Gedenkplaketten, ein zeitgenössisches Gemälde von Joseph von Görres, dem bedeutenden Publizisten des neunzehnten Jahrhunderts, und einige besonders schöne Stiche mit Motiven aus meiner pfälzischen Heimat. Später erwarb ich ein Aquarium, das bis zum Ende meiner Kanzlerschaft 1998 das Arbeitszimmer schmückte.
Noch am Tag des Einzugs lernte ich bei einer sachkundigen Führung durchs Haus die Räumlichkeiten des Kanzleramts kennen. Gleichzeitig wurden wir mit den Sicherheitsvorschriften der Regierungszentrale vertraut gemacht. Die Funktionalität dieses mächtigen Gebäudes beeindruckte mich.
Mit meinem Amtsantritt war ich zugleich Hausherr im Kanzleramt und Vorgesetzter von über vierhundert Beamten und Angestellten geworden, denen gegenüber ich eine unmittelbare Fürsorgepflicht hatte. Bilanzierend kann ich heute nur feststellen, wie positiv meine Erfahrungen mit den Mitarbeitern des Kanzleramts waren. Bis zuletzt fühlte ich mich hier außerordentlich wohl. Einige Angestellte und Beamte mögen mir gegenüber anfangs noch Vorbehalte gehabt haben. Bei meiner Verabschiedung 1998 aber gingen die Emotionen hoch, und es liefen viele Tränen.
* * *
Für die Regierungsbildung blieb nicht mehr allzuviel Zeit. Zwischen dem Einzug ins Kanzleramt und der Vorstellung der Regierungsmannschaft am 4. Oktober 1982 lagen nur noch wenige Stunden. Das Telefon in Ludwigshafen stand kaum still. Die Ministerriege war weitestgehend vorgegeben, zumal das Personaltableau der FDP kaum Überraschungen enthielt. Kein Zweifel bestand daran, dass Hans-Dietrich Genscher wieder das Auswärtige Amt übernehmen und dass Otto Graf Lambsdorff ins Bundeswirtschaftsministerium zurückkehren würde. Gleiches galt für Josef Ertl, der weiterhin Minister für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten sein sollte.
Offen war vorübergehend nur die Frage, wen die FDP zum Justizminister küren würde. Hans-Dietrich Genscher hätte es gern gesehen, wenn der frühere Innenminister Gerhart Rudolf Baum ebenfalls ins neue Kabinett eingetreten wäre, denn das hätte trotz des Koalitionswechsels eine gewisse politische Kontinuität signalisiert. Doch als erklärter Gegner der neuen Koalition wollte Baum verständlicherweise kein Ministeramt annehmen. Nach seiner Absage war Burkhard Hirsch im Gespräch, den ich aber nicht wollte. Im Jahr 2000 nahm er Rache und wollte meiner Regierung und mir anhängen, im Kanzleramt Akten vernichtet zu haben.
Obwohl jede Koalitionsfraktion allein über die Verteilung ihrer Ressorts entschied, spürte Genscher früh genug meine Abneigung und fand rasch eine personelle Alternative: Die Liberalen entschieden sich für Hans Engelhard. Der angesehene Rechtspolitiker der FDP-Fraktion übernahm das Justizministerium, das dem liberalen Koalitionspartner anstelle des Innenministeriums zufiel.
Es bedurfte nicht allzu vieler Gespräche mit Franz Josef Strauß, um die Besetzung der vier CSU-Ressorts zu regeln. Strauß selbst stand mitten in der Endphase des bayerischen Landtagswahlkampfs, bei dem er sich erneut um das Amt des Ministerpräsidenten bewarb. Rasch verständigten wir uns: Friedrich Zimmermann sollte Innenminister werden. Das Innenressort war neben dem Außenamt das wichtigste und zugleich riskanteste Bonner Ministerium, denn es war eine Art Schleudersitz für jeden Ressortchef. Im Bereich der inneren Sicherheit konnte der kleinste Fehler eines mittleren Beamten den Minister das Amt kosten. Um so wichtiger war es, dass hier mit Friedrich Zimmermann ein guter und erfahrener Politiker zum Zuge kam, der noch dazu hohen juristischen Sachverstand hatte. Zimmermann war nicht nur stellvertretender CSU-Vorsitzender, sondern seit 1976 Vorsitzender der CSU-Landesgruppe in Bonn. Als mein bisheriger Stellvertreter an der Spitze der CDU/CSU-Bundestagsfraktion hatte er mein volles Vertrauen.
Werner Dollinger übernahm das Verkehrsministerium. Dollinger, Mitbegründer der CSU und Vorsitzender des mächtigen CSU-Bezirksverbands Nürnberg, hatte bereits als Bundesschatzminister noch unter Adenauer Erfahrungen gesammelt, unter Ludwig Erhard war er kurze Zeit Minister für wirtschaftliche Zusammenarbeit, und in der Großen Koalition, im Kabinett Kiesinger/Brandt, war er von 1966 bis 1969 für das Post- und Fernmeldewesen verantwortlich.
Der CSU-Bundestagsabgeordnete Oscar Schneider, zuvor zehn Jahre lang Vorsitzender des Bundestagsausschusses für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau und ein besonders treuer Mitstreiter, wurde jetzt Bundesbauminister. Der Jurist Schneider war der gebildetste »Baumensch«, dem ich je begegnet bin. Zu jedem politischen Vorgang schien er vier Lexika im Kopf zu haben, und obendrein verfügte er über einen so ausgeprägten Kunstsachverstand, wie ich ihn unter aktiven Politikern nicht mehr erlebt habe.
Jürgen Warnke, der künftige Minister für wirtschaftliche Zusammenarbeit, besaß einen ausgezeichneten Ruf als versierter Exportfachmann. Jahrelang war er Hauptgeschäftsführer des Verbands der Keramischen Industrie in Bayern gewesen. Als Landtags- und Bundestagsabgeordneter der CSU vertrat er zielstrebig die Interessen des Mittelstands und war einer der profiliertesten Vertreter auf dem Gebiet der regionalen Strukturpolitik. Von ihm erwartete ich eine Neuorientierung der Entwicklungspolitik. Sie musste den Interessen deutscher Außenpolitik verpflichtet sein und »Hilfe zur Selbsthilfe« organisieren.
Auch bei der Besetzung der weiteren Ressorts gab es zwischen Strauß und mir so gut wie keine Differenzen. Was uns allerdings an den Rand des Bruchs brachte, war die Behandlung der FDP. Total über Kreuz lagen wir außerdem bei der Frage, wann Bundestagsneuwahlen angesetzt werden sollten. In der Hoffnung, damit die absolute Mehrheit für die Unionsparteien zu erreichen, wollte Strauß die Bürger so schnell wie möglich an die Wahlurnen bitten. Dass Neuwahlen nach dem Grundgesetz so schnell gar nicht herbeizuführen waren, hinderte ihn nicht daran, die FDP bis zur Weißglut zu ärgern, sie zu verunsichern, zu demütigen und ihre Existenzängste zu schüren. Strauß wollte die FDP überflüssig machen und sie mit dem Votum der Wähler aus dem Bundestag herauskatapultieren. Darin traf er sich seltsamerweise mit Helmut Schmidt – beide konnten ihre Abneigung gegen die FDP kaum verhehlen. Der tief verletzte Sozialdemokrat gab den Liberalen die alleinige Schuld an seinem Sturz, und Strauß wusste, dass er nur dann als Bundesaußenminister und Vizekanzler zurück nach Bonn kommen könnte, wenn die FDP an der Fünfprozenthürde scheitern würde.
Ich hingegen setzte auf eine Konsolidierung der Liberalen und darauf, dass Neuwahlen in angemessenem Abstand zum Koalitionswechsel stattfinden sollten. Ohne eine langfristige Bindung an die FDP sah ich für die Union wenig politische Gestaltungsmöglichkeiten für das nächste Jahrzehnt.
Ungeachtet dieser grundlegenden Meinungsverschiedenheiten ging es jetzt aber zunächst einmal um die Regierungsbildung, um ein Regierungsprogramm für die neue Koalition der Mitte und vor allem um den verfassungsmäßig richtigen Weg, Neuwahlen im Frühjahr 1983 durchzuführen.
Als die CDU/CSU-Bundestagsfraktion am 4. Oktober 1982 zusammenkam, stand die Wahl der Fraktionsspitze auf der Tagesordnung. Außerdem wollte ich die Kabinettsliste der künftigen Regierungskoalition vorstellen.
Zuvor hatte die CSU-Landesgruppe ihren neuen Vorsitzenden gewählt: Theo Waigel war mit 48 von 49 abgegebenen Stimmen zum Nachfolger von Friedrich Zimmermann bestimmt worden, der ins Bundesinnenministerium wechseln sollte. Meinem Vorschlag, Alfred Dregger zum Vorsitzenden der CDU/CSU-Bundestagsfraktion zu wählen, folgten 213 Abgeordnete. Es gab 3 Neinstimmen und 4 Enthaltungen. Das war ein enormer Vertrauensvorschuss, den es zuvor und auch in späteren Jahren so eindrucksvoll selten gab.
Dreizehn Jahre Oppositionsarbeit steckten der Fraktion in den Knochen – eine viel zu lange Zeit. Jetzt waren wir Regierungsfraktion, und für die meisten Abgeordneten war das eine ganz neue Erfahrung. Nun kam es darauf an, aufs engste mit der Regierung zu kooperieren: mit dem Bundeskanzler, den Ministern und Staatssekretären und vor allem mit der FDP. Gefragt waren Fairness zwischen den Koalitionsparteien und die Entwicklung eines neuen Selbstverständnisses der Fraktionen, die sich weder als Gegner noch als Diener der Regierung verstehen sollten, sondern als ihr Partner.
Noch eine weitere wichtige Personalentscheidung fiel auf dieser Fraktionssitzung: Wolfgang Schäuble, der bereits im Juni 1981 auf meinen Vorschlag hin zum Parlamentarischen...