VORWORT
Wenn Tugend sich lehren lässt, und ich glaube das, dann wohl eher durch das Beispiel als durch Bücher. Wozu also ein Brevier der Tugenden? Vielleicht dazu: Wir können uns klarer werden, was wir zu tun, wie wir zu sein oder zu leben hätten, und dadurch wenigstens verstandesmäßig ermessen, wie weit wir davon entfernt sind. Eine bescheidene Zielsetzung, unzulänglich, aber notwendig. Die Philosophen sind Schüler (nur die Weisen sind Meister), und Schüler benötigen Bücher. Darum schreiben sie gelegentlich welche, wenn das, was ihnen vorliegt, sie nicht befriedigt oder sie erschlägt. Und was bräuchte jeder von uns dringlicher als ein Moralbrevier? Und was verdiente in der Moral mehr Aufmerksamkeit als die Tugenden? Ebenso wenig wie Spinoza halte ich es für nützlich, das Laster, das Böse, die Sünde anzuprangern. Warum immer nur anklagen und anprangern? Das ist die Moral der Trübsinnigen, eine traurige Moral. Das Gute jedoch existiert nur in der unübersehbaren, alle Bücher übersteigenden Vielfalt der guten Handlungen und in einer unbestimmten, aber sicherlich weniger großen Anzahl von guten Haltungen, die traditionellerweise mit dem Wort Tugend bezeichnet werden, was sich von «Tauglichkeit» herleitet.
Was ist Tauglichkeit? Es ist eine Kraft, die wirkt oder wirken kann. So sind eine Heilpflanze, eine Arznei oder ein Messer zu etwas tauglich: die Arznei zum Heilen, das Messer zum Schneiden, der Mensch zum menschlichen Wollen und Handeln. Diese Beispiele, die von den Griechen stammen, besagen schon das Wesentliche: Tauglichkeit ist Vermögen, aber spezifisches Vermögen. Die Nieswurz vermag nicht dasselbe wie der Schierling, das Messer vermag nicht dasselbe wie die Hacke, der Mensch vermag nicht dasselbe wie Tiger oder Schlange. Das, was ein Gegenstand oder Lebewesen vermag, macht seinen Wert aus, mit anderen Worten, es ist sein spezifischer Vorzug: Gut ist das Messer, das vorzüglich schneidet, gut die Arznei, die vorzüglich wirkt, gut das Gift, das vorzüglich tötet …
Man wird bemerkt haben, dass in diesem ersten und allgemeinsten Sinn die Tauglichkeit nicht vom Gebrauch abhängt, der von ihr gemacht wird, auch nicht vom verfolgten Zweck. In der Hand eines Mörders ist das Messer nicht weniger tauglich als in der Hand eines Kochs, und die gesundmachende Heilpflanze ist nicht weniger tauglich als die tödliche Giftpflanze. Nicht dass dieser erste Sinn ganz ohne normative Ausrichtung wäre: Unabhängig vom Anwender und in den allermeisten Anwendungsfällen ist das beste Messer das, was am besten schneidet. Sein spezifisches Vermögen bezeichnet auch seinen eigentlichen Vorzug. Doch diese Normativität bleibt objektiv und moralisch indifferent. Das Messer soll nur seine Aufgabe erfüllen, ohne sie zu beurteilen, und das unterscheidet seine Tauglichkeit von der unseren. In der Hand eines bösen Menschen wird ein vorzügliches Messer nicht weniger vorzüglich. Tauglichkeit ist Vermögen, und Vermögen genügt für die Tauglichkeit.
Aber nicht für den Menschen. Aber nicht für die Moral. Wenn alles sein spezifisches Vermögen hat, durch das es vorzüglich wird oder werden kann (wie ein vorzügliches Messer, eine vorzügliche Arznei …), dann wollen wir uns fragen, was denn die spezifische Vorzüglichkeit des Menschen ausmacht. Aristoteles antwortete, es sei das, was ihn vom Tier unterscheide, anders gesagt, das vernunftgemäße Leben.1 Aber nur Vernunft ist nicht genug: Es braucht auch den Wunsch danach, die Erziehung, die Gewohnheit, das Gedächtnis … Der Wunsch des Menschen ist nicht der des Pferdes, und die Wünsche eines gebildeten Menschen sind nicht die eines Wilden oder eines Analphabeten. Alle Tugend ist also geschichtlich, alle Menschlichkeit ebenso, und beide begegnen sich fortwährend im tugendhaften Menschen: Die Tugend eines Menschen ist das, was ihn menschlich macht, anders gesagt, es ist das spezifische Vermögen, mit dem er die eigene Vorzüglichkeit, das heißt, seine Menschlichkeit (im normativen Sinne des Worts) unter Beweis stellen kann. Menschlich, nie allzu menschlich … Die Tugend ist eine Art und Weise zu sein, erklärte Aristoteles, doch eine erworbene und dauerhafte: Es ist das, was wir sind (also tun können), weil wir es geworden sind. Und wie sollten wir es geworden sein ohne die anderen Menschen? Tugend beginnt also da, wo Hominisation (als biologische Tatsache) und Humanisierung (als kulturelle Tatsache) zusammenkommen: Sie ist unsere Art und Weise, menschlich zu sein und zu handeln, das heißt (weil Menschlichkeit in diesem Sinne ein Wert ist), sie ist unsere Fähigkeit, gut zu handeln. «Nichts ist so schön und ehrenhaft», sagt Montaigne, «als wahrhaft und wie es sich gehört ein Mensch zu sein.»2 Das genau ist die Tugend.
Was uns hier die Griechen gelehrt, was uns Montaigne gelehrt hat, kann man auch bei Spinoza nachlesen: «Unter Tugend und Kraft verstehe ich das selbe; das heißt Tugend, sofern sie auf den Menschen bezogen wird, ist die Wesenheit des Menschen oder seine Natur selbst, sofern es in seiner Gewalt steht, etwas zu bewirken, was durch die bloßen Gesetze seiner Natur eingesehen werden kann.»3 Oder seiner Geschichte, würde ich hinzufügen (aber für Spinoza ist die Geschichte Teil der Natur). Tugend im allgemeinen Sinn ist Kraft, und im besonderen Sinne: menschliche Kraft oder Menschlichkeitskraft. Man nennt dies auch die moralischen Tugenden, die bewirken, dass ein Mensch menschlicher oder, wie Montaigne sagt, vortrefflicher erscheint als ein anderer, und ohne die wir, wie Spinoza sagt, mit Recht als Unmenschen bezeichnet würden.4 Das setzt einen Wunsch nach Menschlichkeit voraus (der natürlich historisch ist, eine natürliche Tugend gibt es nicht), ohne den jede Moral unmöglich wäre. Wir sollen dessen nicht unwürdig sein, was die Menschheit aus sich gemacht hat und aus uns.
Seit Aristoteles bezeichnet man die Tugend gemeinhin als eine erworbene Disposition oder Fähigkeit, das Gute zu tun. Aber sie ist mehr: Sie ist das Gute selbst, geistig und wirklich. Das absolute Gute, das Gute an sich, das man nur zu erkennen oder anzuwenden bräuchte, gibt es nicht. Wir sollen das Gute nicht betrachten; wir sollen es tun. Tugend ist nichts anderes als das Bemühen, sich gut zu verhalten, und das definiert das Gute in diesem Bemühen selbst. Das wirft einige theoretische Fragen auf, die ich anderswo behandelt habe.5 Dieses Buch hier ist ganz der praktischen Moral, das heißt der Moral gewidmet. Die Tugend, oder vielmehr die Tugenden (denn es gibt mehr als eine, man kann nicht alle auf eine zurückführen oder sich mit einer begnügen) sind unsere moralischen Werte, wenn man so will, sofern sie verkörpert sind, soweit es nur irgend geht, sofern sie gelebt, sofern sie in die Tat umgesetzt sind: immer so einzigartig wie jeder von uns, immer so vielfältig wie die Schwächen, die sie bekämpfen oder wettmachen. Mit diesen Tugenden befasse ich mich hier. Es war indessen nicht meine Absicht, sie alle aufzuzählen oder auch nur eine von ihnen erschöpfend zu behandeln. Ich wollte lediglich bei denen, die mir als die wichtigsten erscheinen, darlegen, was sie sind oder was sie sein müssten, was sie stets nötig und stets schwierig macht. Darum dieses Buch, dessen Anspruch, Gegenstand, Beschränkung und Inhalt schon im Titel angedeutet sind.
Wie bin ich vorgegangen? Ich habe mich gefragt, was die seelischen, geistigen oder charakteristischen Dispositionen sind, die meine moralische Wertschätzung für den, der sie hatte, ansteigen, und für den, der sie nicht hatte, sinken ließ. Ich erhielt eine Liste von etwa dreißig Tugenden. Ich strich jene, bei denen sich Überschneidungen mit anderen ergaben (so bei der Güte und der Großherzigkeit oder bei der Ehrlichkeit und der Gerechtigkeit), außerdem all jene, deren Darstellung mir nicht unerlässlich schien. Es blieben achtzehn, und das waren mehr, als ich ursprünglich ins Auge gefasst hatte, doch weiter reduzieren ließ sich die Zahl nicht. Ich musste mich also entsprechend kürzer fassen, und diese Beschränkung, die ich mir ohnehin auferlegt hatte, begleitete ständig das Werk. Dieses Buch richtet sich an die Allgemeinheit. Die Berufsphilosophen mögen es lesen, doch sie sollen keine Gelehrsamkeit und keine erschöpfende Darstellung erwarten.
Dass das Ganze mit der Höflichkeit beginnt, die noch nicht moralisch ist, und mit der Liebe endet, die es schon nicht mehr ist, sollte natürlich so sein. Die Reihenfolge der übrigen Tugenden ist zwar nicht ganz zufällig, doch ließ ich mich eher von einer Art Intuition oder von pädagogischen, ethischen und ästhetischen Gesichtspunkten leiten, jedenfalls nicht von einem wie immer gearteten deduktiven oder hierarchischen Vorsatz. Ein Buch über die Tugenden, vor allem ein so schmales wie dieses, ist kein System der Moral: Es ist angewandte, nicht theoretische Moral und so weit wie nur möglich lebensnah statt spekulativ. Aber was gibt es Wichtigeres in der Moral als die Anwendung und das Leben?
Wie immer habe ich viel zitiert, zu viel. Doch mir lag mehr am praktischen Nutzen als an der eleganten Form. Aus demselben Grund gebe ich stets die Textquellen an, auch wenn es die Anmerkungen anschwellen lässt. Niemand muss sie lesen, und es ist sogar besser, sie erst einmal nicht zu beachten. Sie sind nicht für die Lektüre da, sondern für die Arbeit: nicht für den Leser, sondern für den Studierenden jeglichen Alters und Berufs. Der tiefere Grund ist der, dass ich nicht den Anschein erwecken wollte, ich hätte erfunden, was mir die Tradition bot, wenn ich sie lediglich wiedergab. Nicht, dass ich in diesem Buch nichts Eigenes sagen würde, im Gegenteil! Doch man besitzt immer nur, was man erhalten und...