Am Anfang war die Zulu-Echse
Natürlich hätte ich es ahnen können. Spätestens an diesem Abend. Spätestens als meine Freundin einverstanden war, dass ich einen doppelten Balvenie bestellte. Das ist so ein teurer Angeberwhisky, den sie mir nur durchgehen lässt, wenn wir etwas zu feiern haben. Oder wenn sie mir etwas schonend beibringen will. Oder wenn sie ein schlechtes Gewissen hat. An jenem Abend hätte ich wahrscheinlich auch einen Drei- oder Vierfachen gedurft.
Aber zu diesem Zeitpunkt habe ich noch nichts bemerkt. Ich bin ganz ohne Arg und denke, wir verbringen einen besonders schönen Tag am Ende einer langen Reise durch Südafrika.
Am letzten Reisetag besteht meine Freundin darauf, den Abend in einem bestimmten Lokal zu verbringen, das immerhin eine halbe Autostunde von Kapstadt entfernt liegt. Eine farbige Kollegin – ist die vielleicht eingeweiht? – hat ihr eine ganz besondere Bar empfohlen. Die soll genau dort liegen, wo der Indische und der Atlantische Ozean ineinanderfließen. Von der Terrasse aus soll man die Sonne in beiden Ozeanen gleichzeitig versinken sehen.
War nicht schon dieser Ort verdächtig? Letzter Abend. Letzte Drinks. Doppelter Whisky. Doppelter Sonnenuntergang. In einer Männer-Metapher ausgedrückt: Würde Romantik mit einem Drehzahlmesser gemessen, wären wir voll im roten Bereich gewesen. Die Situation schrie nach einer bedeutungsschwangeren Pause in der Konversation, einem tiefen Blick in die Augen und einer formellen Frage: «Möchtest du mein Mann werden?»
Aber Heiratsanträge machen ja Männer, nicht Frauen. Und meine Freundin schon gar nicht. Nicht weil sie konservativ wäre oder schüchtern. Anträge machen liegt ihr einfach nicht so. Denn die uralte europäische Kulturtechnik des Heiratsantrages setzt ein Gegenüber voraus, das ja sagt. Oder nein. Und genau dieser Unsicherheitsfaktor ist überhaupt nicht nach ihrem Geschmack. Sie entscheidet lieber allein. Und verkündet dann Tatsachen. Immerhin hat sie eine ziemlich charmante Art entwickelt, Menschen beizubringen, dass die Dinge liegen, wie sie liegen.
An diesem Abend geht das so: Sie nimmt eine kleine Papiertüte aus ihrer Tasche, zieht etwas daraus hervor und stellt es auf den Tisch. Es sieht aus wie eine Art Salamander, der aus einem Draht geformt ist, auf den viele kleine bunte Perlen gesteckt sind.
«Was ist das?», frage ich.
«Eine afrikanische Echse», sagt sie.
«Aha.»
«Sie ist in traditioneller Zulu-Technik gefertigt, und ich habe sie heute Morgen in Khayelitsha gekauft.»
«Aha.»
«Sie wird von einer Frauen-Kooperative gefertigt, die ein altes Kunsthandwerk wiederbeleben möchten.»
«Aha.»
«Und sie stellt dich dar.»
In diesem Moment ist klar, es passiert etwas. Blitzschnell kalkuliert mein Kopf, ob ich eher mit der Methode «Da ist gar nichts gewesen» davonkomme oder mit der Methode «Es tut mir schrecklich leid». Vertrackt: Ich weiß gar nicht, was ich mir diesmal habe zuschulden kommen lassen.
Jetzt greift sie zum zweiten Mal in die Papiertüte und stellt eine weitere Perlenechse auf den Tisch. Diese ist ein wenig kleiner als die erste.
«Und das bist du?», kombiniere ich vorsichtig.
«Genau.»
«Und?»
Dann folgt eine lange Sekunde. Ich weiß, dass alle Sekunden gleich lang sind. Und dass es kitschig ist, Momente, die man selbst intensiv empfunden hat, so zu beschreiben, als sei die Zeit oder gleich die ganze Welt stehengeblieben. Aber ich schwöre: In diesem Moment schweigen alle Gäste und alle Kellner in der Bar, und die Wellen von zwei Meeren, in denen die Sonne gleichzeitig versinkt, schlagen lautlos an den Strand.
Sie greift wieder in die Tüte.
Und hat wieder ein Reptil aus Perlen in der Hand.
Ein noch kleineres. Ein ganz kleines.
Meine Freundin rückt die Echse, die ich bin, und die Echse, die sie ist, ganz nahe zusammen und stellt die kleine Echse dazu. Und sagt nichts.
Da habe ich endlich etwas geahnt.
Ich gebe zu, das klingt, als hätte ich eine verdammt lange Leitung. Das ist an diesem Abend auch so. Aber Begriffsstutzigkeit ist nicht immer ein Zeichen von Dummheit. Andere Männer haben es mir später bestätigt: Egal, ob es dir mit klaren Worten gesagt wird oder entgegengeschrien; egal, ob dir ein angepinkeltes, verfärbtes Stäbchen unter die Nase gehalten wird oder die Düsseldorfer Tabelle; egal, ob du dabei das glücklichste Lächeln der Welt geschenkt bekommst oder drei Echsen aus Zulu-Perlen: Die Information, dass man Vater wird, braucht eine gewisse Zeit, bis sie ins männliche Bewusstsein gesickert ist.
Das ist nicht zufällig so. Um eine weitere Männer-Metapher anzuwenden: Die Mitteilung, dass man Vater wird, ist wie eine E-Mail, an der ein sehr großes Attachment hängt. Alle Programme, die gerade laufen, und alle, die auf der Festplatte warten, müssen sich diesem Attachment anpassen. Die komplette Software muss umgeschrieben werden. Und sogar die Hardware wird vielleicht umgebaut. So etwas runterzuladen dauert eben – sogar mit DSL.
Wobei ich wohl nur eine analoge Leitung habe an diesem Abend. Vielleicht auch kein Wunder: Gerade saßen wir noch in einer Bar am Kap der Guten Hoffnung und wollten Pläne schmieden, ob unsere nächste gemeinsame Expedition nach Indien oder nach Lateinamerika führt. Jetzt sind wir selber guter Hoffnung, und uns wird unter anderem klar, dass wir die nächste gemeinsame Fernreise verschieben müssen: um zehn bis fünfzehn Jahre. Es gibt wahrscheinlich wenige kinderfreundliche Hotels in Indien. Und selbst wenn das Kind hochbegabt wird, dürfte es eine Weile dauern, bis es Fotos machen kann oder aus dem Reiseführer Lateinamerika vorliest.
«Ich habe einmal in den Anden zwei Rucksacktouristen getroffen, die für ihren Fünfjährigen einen Esel gemietet hatten», spricht meine Freundin mehr zu sich selbst.
«Und?»
«Der Esel war störrisch, die beiden mussten ihn die Berge raufschieben. Und er hatte Flöhe. Sahen aber echt süß aus, die drei mit ihrem Esel.»
Um die peinliche Gesprächspause zu überbrücken, bestelle ich noch einen zweiten Doppelten. Meine Freundin nimmt auch noch einen Drink. Caipirinha, alkoholfrei. Alkoholfreier Caipirinha? Das fällt mir erst jetzt auf. Nur Wissende sehen.
Ich bin nicht der erste Mann, der in einer Bar am Ende der Welt von einer Schwangerschaft überrascht wird. Aber sollte Familie nicht eigentlich anders funktionieren? Verantwortliche Paare sprechen miteinander, bevor sie sich fortpflanzen. Sie betreiben Familienplanung. Und wir? Wir hatten auch über Kinder gesprochen. Selbstverständlich. Schließlich waren wir damals fast dreißig und schon ein paar Jahre zusammen. Da stellt sich die Kinderfrage. Und unsere Antwort war eindeutig und klar: Im Prinzip ja.
Weiter waren wir allerdings noch nicht gekommen: Wann, wo, wie haben wir nie gefragt. Es gab immer etwas Dringenderes, worüber wir uns unterhielten. Im Prinzip ja: Das war uns immer als ausreichende Antwort erschienen. Nachdem wir viele Eltern kennengelernt haben, weiß ich, dass es auch anders geht. Die meisten Paare in Deutschland wollen nur ein Kind, wenn vorher: erstens der Vater eine Festanstellung hat; zweitens die Mutter eine Festanstellung hat; drittens das Häuschen im Grünen bezogen ist; viertens das Kinderzimmer darin fertig eingerichtet ist; fünftens die angesagte Waldorf-Kita garantiert in zwei Jahren einen Platz frei hat; sechstens die Großeltern in den Vorruhestand eingetreten sind. Und, siebtens, das schwedische Au-pair-Mädchen schon auf gepackten Koffern sitzt.
Vielleicht sollte gerade ich nicht über genaue Planung spotten. Von meinem Kind wussten immerhin drei Zulu-Echsen eher als ich. Sind meine Freundin und ich darauf vorbereitet, Eltern zu werden? Wir haben erstens keine zwei Festanstellungen, sondern nur eine, die zweitens bezahlt wird wie eine halbe. Drittens wohnen wir in Berlin-Neukölln. Viertens haben wir selbst unsere Zimmer noch nicht fertig eingerichtet. Fünftens wissen wir nicht einmal, wo die nächste staatliche Kita liegt. Sechstens haben wir...