Erstes Kapitel
Was macht den Menschen unglücklich?
Tiere sind glücklich, solange sie gesund sind und nicht unter Futtermangel leiden. Auch den Menschen, so meint man, sollte es nicht anders gehen, wenigstens in den allermeisten Fällen. Doch wer unglücklich ist, wird sich heutzutage nicht als Ausnahme, sondern als einer von Unzähligen fühlen, wer glücklich ist, bei geringem Nachdenken feststellen, daß nicht viele unter seinen Freunden dasselbe von sich sagen können. Und haben wir unsern Bekanntenkreis an uns vorbeiziehen lassen, dann sollten wir die Kunst erlernen, auch in fremden Zügen zu lesen, empfänglich zu werden für die Stimmungen aller, mit denen unsere Tagesverrichtungen uns zusammenführen.
»Ein Mal in jedem Antlitz nehm’ ich wahr,
Ein Mal der Schwäche, Mal des Leids und Wehs«
sagt Blake. So verschieden sich auch das Unglück gebärden mag, wir begegnen ihm überall. Nehmen wir einmal an, wir wären in New York, dieser typischen modernen Weltstadt, und stellten uns während der Arbeitsstunden an einer lebhaften Straßenecke oder am Wochenende an einer der großen Durchfahrtsstraßen auf, oder wir sähen bei einem abendlichen Tanzvergnügen zu. Unser eigenes Ich haben wir für den Augenblick völlig ausgeschaltet, um die Persönlichkeiten der Fremden nach der Reihe von uns Besitz ergreifen zu lassen. Da werden wir finden, daß jede von diesen verschiedenen Menschengruppen ihre besonderen Sorgen hat. Bei der Masse der Arbeitenden weist eine übermäßige Spannung der Gesichtszüge vielfach auf Angst, auch merken wir diesen Leuten an, daß sie an schlechter Verdauung leiden, für nichts außer für den Existenzkampf Interesse aufbringen, unfähig zu jeder spielerischen Leichtigkeit sind und in keiner Weise um ihre Mitmenschen wissen.
Auf der breiten Autostraße sehen wir am Wochenende, wie Männer und Frauen, von denen alle vermögend, manche sehr reich sind, ihrem Vergnügen nachjagen –, eine Jagd, die bei allen im gleichen Tempo vor sich geht, nämlich in dem des langsamsten Wagens der langen Reihe. Die Straße ist vor Autos nicht zu sehen und die Umgebung deshalb nicht, weil jeder Seitenblick sogleich einen Unfall nach sich ziehen würde; alle Autoinsassen haben nur den einen Wunsch, den andern Wagen vorzufahren, was bei der überfüllten Fahrbahn natürlich unmöglich ist; schweifen ihre Gedanken einmal von diesem Wunsche ab – bei denen, die nicht selber lenken, kommt das gelegentlich vor –, dann fühlen sie sich gleich maßlos angeödet, und über ihre Züge legt sich ein Ausdruck kleinlichen Mißvergnügens. Ab und zu einmal sieht man eine Wagenladung voll farbiger Ausflügler, bei denen es vergnügt zugeht; durch ihr formloses Benehmen erregt sie aber sogleich den allgemeinen Unwillen und fällt gewöhnlich, weil die Sache mit einem Zusammenstoß endet, der Polizei in die Hände: Lebensfreude an freien Tagen verträgt sich nun einmal nicht mit dem Gesetz.
Oder man sehe sich die Menschen während einer Abendgesellschaft an! Alle kommen sie mit dem festen Willen, sich zu amüsieren, mit derselben Art grimmiger Entschlußfestigkeit, die man zum Zahnarzt mitbringt. Da alle meinen, Trinken und Knutschen seien die Tore zum Lebensgenuß, betrinken sie sich so schnell wie möglich und mühen sich, die Antipathie, die ihnen ihr Partner nicht selten einflößt, zu unterdrücken. Nachdem gehörig gezecht worden ist, erfaßt die Männer dann heulendes Elend, und sie fangen an, darüber zu jammern, daß sie der Liebe ihrer Mütter unwürdig seien. Der einzige Erfolg der Trinkerei ist nämlich, daß sie Schuldgefühle freilegt, die der gesunde Menschenverstand in lichteren Augenblicken nicht aufkommen läßt.
Die Gründe für diese verschiedenen Arten von Unglück liegen teils in unserm Sozialsystem, teils an der seelischen Verfassung des einzelnen, die selbstverständlich wieder ihrerseits in hohem Grade ein Produkt des sozialen Systems ist. Bei anderer Gelegenheit habe ich mich über die sozialen Änderungen ausgesprochen, die nötig wären, um bessere Vorbedingungen für das menschliche Glück zu schaffen. In diesem Bande will ich nicht wieder auf die Abschaffung des Krieges, auf die wirtschaftliche Ausbeutung, auf die Erziehung in Grausamkeit und Angst zurückkommen. Ein Mittel zur Aufhebung der Kriege zu finden, ist zwar eine vitale Notwendigkeit unserer Kultur; kein solches Mittel aber hat Aussicht auf Erfolg, solange die Menschen so unglücklich sind, daß die gegenseitige Austilgung sie nicht so furchtbar dünkt wie der Zwang, dauernd das Licht des Tages zu ertragen. Auch der Armut muß ein Ende bereitet werden, sollen die Vorteile der Maschinenproduktion denen, die sie am nötigsten brauchen, in irgendeiner Weise zugute kommen; was aber nutzt es, alle reich zu machen, wenn auch die Reichen so jammervoll daran sind? Erziehung in Grausamkeit und Angst ist verwerflich; doch wer selbst der Sklave dieser Leidenschaft ist, wird sie auch als Erzieher weitergeben. Diese Betrachtungen führen uns zu dem Lebensproblem, vor das sich jeder einzelne gestellt sieht: Was kann der Mensch hier und jetzt als Mitglied unserer Gesellschaft, die an der Sehnsucht nach Besserem krankt, tun, um sich selbst ein Glück zu schaffen? Bei der Erörterung dieser Frage werde ich meine Aufmerksamkeit nur denjenigen zuwenden, die nicht Opfer einer hoffnungslosen äußeren Lage sind. Ich werde ein Einkommen voraussetzen, das ausreicht, um Nahrung und Obdach zu beschaffen, und einen Gesundheitszustand, der der gewöhnlichen körperlichen Betätigung nicht im Wege steht. Auch werde ich mich nicht mit den großen Katastrophen des Lebens befassen, wie etwa mit dem Verlust sämtlicher Kinder oder mit öffentlicher Entehrung. Zwar kann man auch darüber manches – und manches Wichtige – sagen, aber das liegt auf einer anderen Ebene, als ich sie jetzt beschreiten will. Augenblicklich kommt es mir darauf an, einen Ausweg aus dem gewöhnlichen Alltagsunglück zu finden, an dem die meisten Kulturmenschen kranken und das um so unerträglicher ist, als es keine deutlich erkennbare äußere Ursache hat und daher kaum heilbar scheint. Unglück solcher Art beruht, wie ich glaube, meist auf einer falschen Weltauffassung, falschen ethischen Begriffen und falschen Lebensgewohnheiten, die zur Vernichtung jener natürlichen Lebensfreudigkeit, jener Lust nach erreichbaren Freuden führen, von denen letzten Endes alles Menschenglück abhängt. Da all dies im Willensbereich des Individuums liegt, will ich zu zeigen versuchen, wie man es anders machen kann, um bei halbwegs annehmbaren äußeren Verhältnissen glücklich zu werden.
Vielleicht sind ein paar autobiographische Worte die beste Einführung in die Philosophie, die ich vertrete. Ich wurde nicht als ein glücklicher Mensch geboren. Als Kind hatte ich ein Lieblingslied, das so anfing: »Müde der Welt und mit meiner Sünde beladen …« Im Alter von fünf Jahren stellte ich die Betrachtung an, daß ich, falls ich siebzig Jahre alt würde, bisher nur den vierzehnten Teil meines Lebens hinter mir hätte, und ich empfand die meiner wartende lange Daseinsöde als beinahe unerträglich. Während meiner Jugendzeit war mir das Leben verhaßt, und ich spielte ständig mit dem Gedanken an Selbstmord, vor dem mich indessen der Wunsch bewahrte, mich weiter in der Mathematik zu vervollkommnen. Jetzt hingegen habe ich Freude am Leben; ja, ich könnte fast sagen, daß ich von Jahr zu Jahr mehr Freude daran gewinne. Das kommt teils, weil ich nun herausgefunden habe, welcher Art die Dinge sind, die ich am meisten begehre, und mir allmählich viele davon verschafft habe, teils weil ich gewisse Wunschobjekte – wie z. B. die Erlangung unbezweifelbaren Wissens über diesen oder jenen Gegenstand – zu meinem Vorteil als grundsätzlich unerreichbar fahren gelassen habe. Zum allergrößten Teil aber ist meine heutige Gemütsverfassung einer immer geringeren Beschäftigung mit mir selbst zu verdanken. Gleich vielen anderen, die wie ich auf eine puritanische Erziehung zurückblicken, war es mir Gewohnheit, über meine Sünden, Torheiten und Mängel nachzugrübeln. Ich erschien mir selbst – gewiß mit völligem Recht – als ein jammervolles Wesen. Allmählich lernte ich dann, mir und meinen Unzulänglichkeiten gegenüber gleichmütig zu bleiben; ich gelangte dahin, meine Aufmerksamkeit in wachsendem Maße äußeren Dingen zuzuwenden: den Zuständen in der Welt, verschiedenen Wissenszweigen, Menschen, für die ich Zuneigung empfand. Auch äußere Interessen tragen zwar ihre Leidensmöglichkeiten in sich: die Welt kann in Krieg versinken, Erkenntnis oft schwer zu erringen sein, Freunde können sterben. Doch Schmerzen dieser Art zerstören nicht wie jene, die dem Ekel am eignen Ich entspringen, den wesentlichen Gehalt des Daseins. Und jedes äußere Interesse belebt irgendeine Tätigkeit, die, solange es anhält, ein ausgezeichnetes Verhütungsmittel für die Langeweile ist. Ein Aufgehen in sich selbst dagegen verhilft zu keinerlei ersprießlicher Tätigkeit. Es vermag zur Abfassung eines Tagebuchs, zu einer psychoanalytischen Kur, vielleicht auch ins Kloster führen. Doch ein Mönch wird nicht glücklich sein, bevor das Einerlei seines Daseins ihm Vergessen der eigenen Seele gebracht hat. Das Glück, das er der Religion zuschreibt, könnte er auch als Straßenkehrer erlangt haben, wäre er gezwungen gewesen, einer zu sein und zu bleiben. Für die Unglücklichen, deren Selbstvertiefung zu fest eingewurzelt ist, um auf andere Art geheilt werden zu können, ist der einzige Weg zum Glück ein streng diszipliniertes Hinlenken des Geistes auf äußere Interessen.
Solch ein Aufgehen in sich selbst äußert sich ganz verschieden. Als drei besonders häufig vorkommende Typen wollen wir den Sünder, den Narzissten und den Größenwahnsinnigen...