Unsere »Intelligenzmuskeln«
Dinge wahrzunehmen ist der Keim der Intelligenz.
Laozi (ca. 6. Jh. v. Chr.)
Wie ein Muskel wird auch unsere Intelligenz kraftvoller, wenn wir sie nutzen. Wenn das bei der kognitiven Intelligenz ebenso der Fall ist wie bei der kreativen, bei der sozialen oder der emotionalen Intelligenz, warum sollte es dann nicht auch bei der erotischen Intelligenz so sein? Auch sie muss sich doch schulen, stärken und verfeinern lassen. Ich wollte mehr darüber herausfinden. Und, siehe da: Natürlich gibt es viele Wege für ein sinnliches, erfülltes und harmonisches Sexualleben. In vielen alten Traditionen finden sich Rituale und Übungen, die dazu beitragen sollen, dass Sinnlichkeit und körperliche Liebe mit Erfüllung verbunden sind. Viele dieser Wege entstammen dem asiatischen Raum und wirken auf unseren europäisch geprägten Verstand leicht »zu spirituell« oder gar »esoterisch«. Doch warum sollten wir das Wissen dieser Traditionen nicht entstauben und an unsere Bedürfnisse anpassen? Ungeahnte Möglichkeiten des Erlebens – von faszinierenden Empfindungen bis hin zu außerordentlichen sexuellen Erfahrungen – stehen uns offen, wenn wir uns auf die alten Weisheitslehren einlassen und sie mit den praktischen Gegebenheiten einer modernen Partnerschaft kombinieren.
In diesem Buch wirst du lernen, wie sensible und begabte Menschen eine tiefe Selbstliebe als Grundlage der erotischen Intelligenz entwickeln, ihre Liebe entfalten und beglückende Sexualität erleben können. Besonders hochsensible Menschen verfügen über ausgeprägte sinnliche Fähigkeiten, die oft noch brachliegen. Das muss nicht so bleiben. Du kannst das in dir verborgene Sinnesinstrumentarium (wieder) beleben. Der Schlüssel dafür ist die Entwicklung der erotischen Intelligenz – eine innere Haltung, mit der man sich seiner eigenen Sinnlichkeit bewusst wird, sie gezielt nutzt und genießt. Damit können wir uns emotional voll und ganz für die Liebe öffnen, uns tief mit einem Partner verbinden, verborgene Zwischentöne in der Beziehung wahrnehmen und neue Dimensionen der Sexualität entdecken.
Gibt es auch in der Liebe Genies?
Ist ein sinnlicher, kluger, sensibler und intelligenter Mensch auch ein Genie in der Liebe? Leider nein. Doch warum ist es für hochsensible und intelligente Menschen oft so schwer, wirklich Nähe zuzulassen und eine erfüllende Partnerschaft zu leben?
Auch wenn hochsensible Menschen über eine besondere Liebesfähigkeit verfügen, erleben sie sich in Partnerschaften häufig als unzureichend: zu sensibel, zu wenig belastbar, nicht durchsetzungsfähig, zu wenig selbstbewusst, nicht liebenswert. Sie können sich nicht vorstellen, dass andere sie gerade wegen ihrer Feinheit und ihres großen Empfindungsvermögens lieben und als Partner wählen. Sie sehen oft gar nicht, dass sie gerade wegen ihrer hohen Sensibilität eine besondere Liebesfähigkeit besitzen: Hochsensible können gut auf ihre Partner eingehen, sind besonders einfühlsam und lieben es, Vertrauen und Nähe herzustellen. Sie können sich emotional öffnen und erfahren tiefe seelische Verbundenheit. Sie sind treue, faire und verlässliche Partner mit einem ausgeprägten Sinn für Werte und Gerechtigkeit. Sie haben ein großes Herz und lieben gern und tief. Sie sind neugierig aufs Leben und entwickeln sich gern weiter. Und sie haben die großartige Fähigkeit, ihre Partner (und andere Menschen) zu fördern und sie in ihrer Selbstrealisierung zu unterstützen. Feinsinnige Menschen haben also ein fantastisches Potenzial, gesunde und heilsame Beziehungen zu verwirklichen und über die sinnliche Liebe den Zugang zur Einheit allen Seins, zur Einheit mit dem Göttlichen zu entdecken.
Sinnlichkeit und Genuss
Sinnlichkeit meint insbesondere die Erlebnisfähigkeit und -bereitschaft eines Menschen mit allen seinen Sinnen, auch und gerade im Bereich der Sexualität. Ein wirklich sinnlicher Mensch erfährt sein Leben und das Schöne und Anregende dieser Welt mit allen Sinnen. Er erlebt die Sexualität nicht nur mit seinem Unterleib, sondern mit Herz und Hirn, mit Haut und Haaren.
Jeder Mensch kann seine erotische Intelligenz damit erhöhen, dass er seine Sinnlichkeit nutzt, um bewusst die Schönheit dieser Welt in sich aufzunehmen und Ästhetik zu genießen, ganz gleich, ob es sich um die Schönheiten in der Natur oder in der Kultur handelt. Schon Kinder zeigen Sinnlichkeit, wenn sie zum Beispiel Dinge und Lebewesen ansehen und anfassen, die sie gernhaben oder schön finden, wenn sie gern musizieren, wenn sie herumtollen, wenn sie neugierig die Natur erleben.
Über sinnliche Liebe kann tiefe Liebe entstehen, denn sie ist tatsächlich das Tor zur Seele. Jede Sinneserfahrung ist vorübergehend und kann nicht auf Dauer Befriedigung schenken. Durch die Intensivierung der sinnlichen Wahrnehmung in der körperlichen Liebe ist aber eine tiefere Liebesfähigkeit möglich. Sinnliche Liebe ist also nicht Gier, Sinneslust, Wollust. Sinnliche Liebe ist Liebeskunst, sie ist ein Weg, wie wir alle die tiefste Liebe erfahren können.
Bei schätzungsweise 90 Prozent der Menschen ist die Liebesfähigkeit, die Fähigkeit zur Zuwendung, durch Verhärtung, Abkapselung und einen Gefühlspanzer gestört. Das wird durch eine Erziehung gefördert, die lineares Denken belohnt und den ganzheitlichen Ausdruck von Körper, Seele und Geist missachtet.
Das Wissen über die Liebe und darüber, wie man sich seelisch gesund hält, wird nirgendwo gelehrt. Nicht im Elternhaus und auch nicht in der Schule, wo wir nicht für uns selbst lernen, sondern eher für Gesellschaft und Staat. Erziehung und Schule vermitteln, dass es besser sei, Gefühle zu unterdrücken, als uns weiterzuentwickeln. Intellektuelle Leistung wird belohnt, während Sensibilität, Gefühl, Fantasie und Kreativität nicht gefördert, sondern als unpassend und störend abgewertet werden.
Liebe ist aber keine Sache des Verstandes, sondern eine Angelegenheit des Gefühls. Der Verstand hält die Gefühle in Schach. Er wacht über die Sinne, er will die Oberhand behalten und verhindert das sinnliche Aufgehen im Augenblick. Verstand und Gefühl sind scheinbare Gegensätze, können sich jedoch gegenseitig ergänzen, wobei der Einfluss des Fühlens auf das Denken meiner Erfahrung nach fruchtbarer ist als umgekehrt. Der Verstand wird zum Widersacher der Sensibilität, wenn er sich als Zensor einschaltet und vorrechnet, ob sich das Lieben lohnt oder nicht. Wenn sich das Denken in den Wahrnehmungsvorgang über die Sinne (die Sensibilität) einschaltet, entstehen Verzerrung und Täuschung. Man sieht die Wirklichkeit nicht mehr unvoreingenommen, sondern selektiv nach den Richtlinien des Denkens. Der Verstand ist es, der viele Menschen zu gelangweilten, stumpfen und gedrückten Wesen macht, denn er ist der große Zensor sinnlichen und sensiblen Erlebens.
Das Erspüren des Moments
Ein sensibler Mensch kann auch Schönheit erfahren, ohne von Normen und ästhetischen Maßstäben beeinflusst oder blockiert zu sein. Wenn das Denken (und Kalkulieren) ruhig geworden ist und die Sinne wach sind, können Genüsse, kann Ästhetik erfahren werden, die bisher verborgen blieben, weil der Verstand sie ignoriert hat. Gesellschaftliche Schönheitsideale verlieren dann an Bedeutung, denn das Erkennen, das sensitive Erleben ist wichtiger als die Bewertung der Dinge. Hochsensibel zu sein, bedeutet immer auch, offen zu sein für alles, was im jeweiligen Augenblick geschieht. Die Sinneswahrnehmungen werden durch analytisches Denken stumpf. Wenn das Denken die primäre Rolle übernimmt, bleibt kein Raum für Sensibilität und Sinnlichkeit. Aus einer prickelnden Liebe wird dann oft eine Zweckgemeinschaft. Die Liebe zeigt sich über die Sinne, nie über das Denken. Dazu müssen die Sinne offen, geschärft und wach sein. Es kommt nicht auf das Analysieren und Bewerten, sondern auf das Erleben an!
Liebe und das Streben nach sexueller Lust vermischen sich heutzutage leicht. Rein körperliche Befriedigung führt dann oft zu seelischer Leere. Erotisch intelligent zu sein bedeutet, sinnlich zu leben und in Verbindung mit der Sensibilität der Liebe einen Glanz zu verleihen und so seelische Erfüllung zu erleben.
Partnerschaften sind noch nie an der Liebe gescheitert. Sind sie zu »festen« Beziehungen geworden, wird das Rationale schnell zur Routine. Eine Ich-Stärke trifft auf die andere und es beginnt ein Kampf zwischen zwei Wesen, die voneinander etwas erwarten, erhoffen oder fordern. In jeder Beziehung zwischen zwei Menschen entstehen Reibungen. Wer Angst hat, wird den anderen mit seiner Angst belasten. Wer besitzgierig und eifersüchtig ist, wird um den anderen ein Gefängnis bauen. Wer einer Ideologie verfallen ist, wird den anderen bekehren wollen. Wer ein Vorurteil vertritt, wird den anderen davon überzeugen wollen. Doch all das muss nicht sein. Wer sinnlich lebt, also achtsam im Moment wahrnimmt, was jetzt wirklich ist, gibt all diesen Gedankenkonstrukten keinen Raum. Das Wesen der Liebe ist das absolute Akzeptieren dessen, was jetzt ist.
Teste deine erotische Intelligenz
Es gibt die erotische Intelligenz selbstverständlich in unterschiedlichen Ausprägungen. Mach daher am besten den folgenden kurzen Selbsttest. Er verschafft dir einen ersten Eindruck davon, wie stark deine erotische Intelligent ausgeprägt ist und was du noch entwickeln könntest. Ich werde dir in diesem Buch viele Möglichkeiten vorstellen, wie du sie veredeln kannst. Zuvor ist eine kurze Bestandsaufnahme sicher hilfreich. Hierfür habe ich einige Aussagen gesammelt. Notiere jeweils, wie sehr sie auf dich zutreffen.
Die Zahlen bedeuten:
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