DAS VOLKSMÄRCHEN
Die Wurzeln des Volksmärchens liegen im Volk, in der Volksseele. Gemeinsam allen Märchen sind die Überreste eines in die älteste Zeit hinaufreichenden Glaubens, der sich in bildlicher Auffassung übersinnlicher Dinge ausspricht. Dies Mythische gleicht kleinen Stücken eines zersprungenen Edelsteins, die auf dem von Gras überwachsenen Boden zerstreut liegen und nur von dem schärfer blickenden Auge entdeckt werden. Die Bedeutung davon ist längst verloren, aber sie wird noch empfunden und gibt dem Märchen seinen Gehalt, während es zugleich die natürliche Lust an dem Wunderbaren befriedigt; niemals sind sie bloßes Farbenspiel gehaltloser Phantasie. (Kinder- und Hausmärchen der Brüder Grimm, 3. Band gegen Schluss). So charakterisieren Jakob und Wilhelm Grimm das Märchen.
Jakob Grimm benutzt eine Bildsprache (Beispiel: Stücke eines zersprungenen Edelsteins), um das deutlich zu machen, was den Märchen zugrunde liegt. Es manifestiert sich in ihnen offensichtlich die gehaltvolle Phantasie, die im Gegensatz zur Phantastik steht. Sie führen uns in die Welt des bildhaft anschaulichen Denkens, der Imagination. Sie vermitteln Erfahrungen des Ich mit einer nicht sichtbaren, übersinnlichen Welt. Woher kommen diese Bilder? Führen sie uns an die Wiege der Menschheit? Wollen sie uns etwas sagen? Haben sie nur Unterhaltungswert?
Die Antworten werden, je nach Märchen, variieren. Glaubt man aber der vielfältigern Literatur über die Bedeutung des Märchens, so haben viele dieser Bilder bei näherer Betrachtung mehr mit der Realität und mit uns zu tun, als sich beim ersten Blick vermuten lässt. Was damit gemeint ist, wird noch zu erarbeiten sein.
Das Element des Volksmärchens
Das Element des Märchens ist die Sprache, genauer gesagt, die Sprache des Volkes. Was aber hat die Menschen dazu bewogen, solche Geschichten zu erzählen? Keine Funde oder Dokumente geben uns Aufschluss über deren Entstehung. Wollen wir die Quellen dieser Erzählungen aufsuchen, so bewegen wir uns auf unsicherem Gelände. Sie wurden über Jahrhunderte von Erzählerinnen und Erzählern in allen Sprachen der Menschheit mündlich weitergegeben. Das geschah aber nicht in der Sprache, die den Alltag beherrscht, oder in jener nüchternen, die in Zeitungen oder Nachrichten verwendet wird. Das Märchen erzählt uns nichts über das Tagesgeschehen. Es erzählt von etwas, das einmal war, aber auch immer noch ist – …und wenn sie nicht gestorben sind, dann leben sie noch heute... Seine Sprache ist schlicht, aber nicht nüchtern. Sie ist nicht realistisch, aber auch nicht realitätsfern. Es ist eine epische, schöpferische, gefühlte Sprache, eine Sprache der Bilder. Sie führt uns in eine Welt, die vielgestaltig, farbig und von unendlicher Weite ist. Stammt sie aus einem archaischen Bewusstsein, einem Bewusstsein, das so weit weg von unserem Alltagsbewusstsein ist, dass wir damit heute nicht umgehen können? Nach Erich Fromm ist diese Bildsprache die einzige Universalsprache, die die Menschheit je hervorgebracht hat, … die gleiche für alle Kulturen im Laufe der Geschichte… Wenn wir sie verstehen, kommen wir mit dem Mythos in Berührung, der eine der bedeutsamsten Quellen der Weisheit ist, wir lernen die tieferen Schichten unserer Persönlichkeit kennen. (Erich Fromm: Märchen, Mythen, Träume, Deutsche Verlags-Anstalt, Jahr, S. 11 ff.).
Ist es möglich, diese Sprache verstehen zu lernen? Um einer Beantwortung dieser Frage näherzukommen, versuchen wir den Weg zu den Quellen des Märchens zu gehen.
Zum Inhalt des Märchens
Das Märchen moralisiert nicht, und wenn doch, so liegt es an der Bearbeitung. Es schildert eine Welt, die in Unordnung gerät, und den Weg, der gegangen werden kann, um Ordnung herzustellen. Es erzählt von einem König und einer Königin, einem goldenen Reich, einem Zustand der Vollendung, den der Held oder die Heldin verlässt oder verlassen muss, um schweren Prüfungen oder Demütigungen ausgesetzt zu werden, um letztendlich mit seinem Partner oder seiner Partnerin ein eigenes, neues Königreich zu gründen. Viele Märchen erzählen ebenso wie die Mythen von einem Abstieg, aber auch von einem Aufstieg in ein „neues Königreich“. Der Weg dahin ist schwer, aber das Ziel wird immer erreicht.
Märchen erzählen uns abenteuerliche Geschichten von Verzauberung und Erlösung, Drachenkämpfen, Armut und Reichtum in eindringlichen Bildern. Gelingt es uns dieser Universalsprache mit Verständnis näherzukommen, können wir erkennen, was Märchen sagen wollen. Sie sagen uns, wer wir sind, woher wir kommen und wohin wir gehen. Sie zeigen, was wir bewirken und verwirken können, erzählen vom Gelingen und Versagen. Sie geben uns Auskunft darüber, wie wir auf Krisen nach Enttäuschungen und Scheitern reagieren oder wie wir mit der Freude und dem Erfolg umgehen sollen. Sie zeigen uns unsere Abgründe, unsere Verletzlichkeit und unsere besonderen Aufgaben. Sie entfalten das ganze bunte Spektrum unserer seelischen und geistigen Qualitäten, verkörpert in den handelnden Personen, die gemeinsam das Bild einer Persönlichkeit ergeben. Die Märchenfiguren sind nicht Archetypen, sie sind Aspekte von Archetypen. Sie zeigen uns den Weg zu uns selbst, denn sie erzählen von unseren inneren Vorgängen. Für das Märchen gilt auch das, was Joseph Campbell von den Mythen sagt: Mythen (und Märchen, Ch. Horvat) sind ein Schlüssel zu den geistigen Entwicklungsmöglichkeiten des Menschen. (Joseph Campbell. Die Kraft der Mythen, Albatros Verlag, 2007, S. 17). Denn es schildert nicht die äußere, sichtbare Welt, sondern nährt und begleitet unsere Suche nach der Wahrheit. Betrachten wir Märchen genau, so werden wir in den Geschichten nicht nur einen Schlüssel zu den geistigen Entwicklungsmöglichkeiten des Menschen, sondern auch die Gesetzmäßigkeiten alles Lebendigen erkennen. Es ist wie ein Bindeglied zweier Welten, der sichtbaren und der unsichtbaren. Max Lüthi spricht davon, dass das Märchen uns keinen Augenblick im Zweifel lässt, dass es Wesentliches darstellen will, nicht Wirklichkeit. Gefühlswelt übersetzt es in Handlungen, die Innenwelt rückt es auf die Ebene des äußeren Geschehens. Es verzaubert das Ineinander und Nacheinander, den geistigen und seelischen Tiefgang, in ein Nebeneinander. (Max Lüthi: Das europäische Volksmärchen, UTB Francke 1947, S. 83)
Es spiegeln sich im Märchen aber nicht nur die Qualitäten wieder, die wir in uns tragen und die sich im Denken, Fühlen und Wollen äußern, sondern auch alle Schwellen unseres Lebenslaufs (Geburt, Reife, Hochzeit, Tod) und die Kraftfelder unserer Existenz (Leib, Seele, Geist). Märchenfiguren beleuchten einzelne Aspekte davon und können uns zu Selbsterkenntnis verhelfen. Das Königreich, von dem uns das Märchen erzählt, ist das Königreich unserer Seele. Die Seele aber ist wie ein unergründlicher tiefer See. Er kann sturmgepeitscht oder glatt und ruhig sein. Er kann uns verschlingen, wir können darin versinken, auf ihm mit einem Schiff fahren oder auf dem Rücken eines schwimmenden Tieres reiten. Die Entwicklung des Menschen verläuft in unvorhersehbaren horizontalen und vertikalen Bahnen. Das Ziel erreichen die Menschen, die den Aufbruch zu neuen Wegen wagen.
Die Unersättlichkeit unserer Begierden zeigt uns das Märchen Vom Fischer und seiner Frau (Grimm 19, s.D.). Wie verführbar wir sind, machen Rotkäppchen und Schneewittchen deutlich (s.D.).
Die Suche nach dem goldenen Mittelweg zwischen der Erdensucht und der Erdenflucht sehen wir in Aschenputtel und seinen beiden Schwestern (s.D.). Der Tanz mit dem Königssohn in den goldenen Schuhen als Ziel der seelischen Entwicklung wird möglich, wenn Demut und Fleiß den Weg bereiten.
Liebessehnsucht, Prüfungen und Mut zeichnen den Weg des Königssohns zur Jungfrau, der Königstochter vom goldenen Dache (ein Bild der Weisheit, der Sophia) als Ziel der geistigen Entwicklung (Der treue Johannes, Grimm 6). Denn erst, wenn die Seele von Hingabe und Verzicht gezähmt ist und nicht ziellos ihren Begierden folgt, wenn Entschlossenheit den Willen auszeichnet und das Denken sich mit den Herzenskräften verbindet, sind der Held und die Heldin reif für die Hochzeit, mit der viele Märchen enden.
Die Hexe, verknöchert und alt, ist ein Bild für die bloße Gewalt der Materie und für unsere Ängste. Die Stiefmutter weist uns darauf hin, dass wir uns den Forderungen und Gesetzmäßigkeiten der irdischen, materiellen Welt stellen müssen. Sie kann auch als Mutter der Materie gesehen werden und will den Blick auf die wahre Mutter, die Mutter der Seelen – und Lebenskräfte, verhindern (s.D. Aschenputtel).
Wir geraten immer wieder in die Dunkelheit, in die Krankheit, in die Verzweiflung (Bauch des Wolfes). Wir tragen aber auch Vollkommenheiten in uns, die als Prinz, und Prinzessin...