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Erzähltheorie

Eine Einführung (Reclams Universal-Bibliothek)

AutorTilmann Köppe, Tom Kindt
VerlagReclam Verlag
Erscheinungsjahr2014
Seitenanzahl294 Seiten
ISBN9783159605470
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis8,99 EUR
In letzter Zeit haben Erkenntnisse aus den Filmwissenschaften, den Kognitionswissenschaften und der Comic-Theorie zu einer Weiterentwicklung der Erzähltheorie geführt. Die damit verbundenen grundsätzlichen Fragen werden in dieser Einführung diskutiert: Was ist überhaupt eine Erzählung? Aus welchen Grundbausteinen setzen sich Erzähltexte zusammen? Haben Erzählungen immer einen Erzähler? Was ist eine Figur? Was sind deren fiktive Erzähl-Welten? Wie lassen sich Tempo, Ordnung und Frequenz von Erzählungen gestalten? Aus welcher Perspektive kann erzählt werden? Wie zuverlässig wird erzählt? Und wovon hängt die Zuverlässigkeit einer erzählerischen Darstellung ab?

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Leseprobe

2 Die Erzählung

2.1 Mehrdeutigkeit von ›Erzählung‹

Der Ausdruck ›Erzählung‹ ist mehrdeutig.71 Gemeint sein kann erstens der Akt des Erzählens (»Anna begann mit ihrer Erzählung um zehn Minuten nach fünf.«). Eine solche Erzählung ist etwas, das jemand tut, also eine Handlung, die sich in der Zeit erstreckt. Zweitens bezeichnet man mit ›Erzählung‹ auch das Ergebnis eines Erzählaktes, und zwar wiederum in zweierlei Sinn: Zum einen können wir das konkrete Produkt des Erzählaktes meinen, also einen Text (»Schnitzlers Erzählung ist drei Seiten lang.«), der in mehreren Exemplaren (sogenannten token) vorliegen kann. Zum anderen sprechen wir aber auch in einem anderen Sinne vom Ergebnis von Erzählakten, etwa dann, wenn wir sagen, dass eine bestimmte Erzählung in verschiedenen Versionen vorliegt oder dass wir die letzte Episode der Erzählung enttäuschend finden oder nicht mehr im Gedächtnis haben. Gemeint ist damit der Gehalt eines Erzählaktes oder -textes, d. h. das, von dem diese handeln bzw. berichten. Schließlich ist ›Erzählung‹ auch noch ein Gattungsbegriff für solche Erzählungen, die man aufgrund ihrer relativen Kürze nicht zu den erzählerischen Langformen (Romane, Autobiographien usw.) zählen möchte.

Um Missverständnisse zu vermeiden, bezeichnen wir im folgenden die Erzählung im Handlungssinn als ›Akt der Erzählung‹ oder auch kurz als ›das Erzählen‹. Den Ausdruck ›Erzählung‹ reservieren wir für das konkrete Produkt des Erzählens, also den Erzähltext. Den Inhalt oder Gehalt einer solchen Erzählung bezeichnen wir zusammenfassend als ›das Erzählte‹. Wie sich in Kapitel 2.4 zeigen wird, ist es weiterhin nützlich, literarische Erzählungen von jenen mustergültigen Erzählungen, wie wir sie zunächst einführen, zu unterscheiden. In Bezug auf erstere sprechen wir daher auch von (komplexen, literarischen) ›Erzählwerken‹. Der Gattungsbegriff der Erzählung wird in dieser Einführung keine Rolle spielen.

Erzählen, Erzählung, Erzähltes

Die im Schaubild durch Pfeile repräsentierten Beziehungen zwischen Erzählen, Erzählung und Erzähltem lassen sich präzise bestimmen: 1. Das Erzählen bringt die Erzählung (kausal) hervor. 2. Zugleich müssen wir über einen Begriff der Erzählung verfügen, um eine Sprachhandlung als Erzählen identifizieren zu können. 3. Die Beziehung zwischen Erzählung und Erzähltem ist semantisch: Das Erzählte ist das, von dem die Erzählung handelt bzw. das, was die Erzählung in einem elementaren Sinne repräsentiert oder ›bedeutet‹.

In diesem Kapitel stellen wir zwei Definitionen von ›Erzählung‹ vor. Das Erzählen als Akt wird in diesem Kapitel ebenfalls eine wichtige Rolle spielen, wenn wir den Unterschied zwischen fiktionalen Erzählungen und nicht-fiktionalen Erzählungen erläutern (s. Abschn. 2.3). Der Begriff des Erzählten ist Gegenstand von Kapitel 3 und wird dort weiter ausdifferenziert werden.

2.2 Das Problem einer Definition von ›Erzählung‹

Der Begriff der Erzählung im Sinne von ›Erzähltext‹ kann unterschiedlich eng oder weit gefasst werden, d. h., wir können unterschiedlich anspruchsvolle Bedingungen aufstellen, die ein sprachliches Gebilde erfüllen muss, um als Erzählung eingestuft zu werden. Strenggenommen haben wir es also nicht mit nur einem Begriff von Erzählung zu tun, sondern mit mehreren. Im folgenden wollen wir sowohl einen weiten (›minimalistischen‹) als auch einen engeren (›anspruchsvollen‹) Begriff von Erzählung vorstellen. Für beide Begriffe gibt es sinnvolle Anwendungskontexte, d. h., beide Begriffe haben – sowohl im Alltag als auch in der Narratologie – ihre Berechtigung. Die Frage nach der richtigen Definition von ›Erzählung‹ ist daher verfehlt; man muss sich aber, wenn man den Begriff ›Erzählung‹ verwendet, darüber im klaren sein, welchen der Begriffe man meint, um Missverständnisse zu vermeiden.

Wir beginnen unsere Diskussion mit der minimalistischen Definition. Die engere, ›anspruchsvolle‹ Definition zeichnet sich dadurch aus, dass sie zusätzliche Bedingungen aufführt, die naturgemäß von weniger Texten erfüllt werden.

2.2.1 Eine minimalistische Definition von ›Erzählung‹

In einem weiten Sinne lässt sich der Begriff ›Erzählung‹ wie folgt definieren: Ein Text ist genau dann eine Erzählung, wenn er von mindestens zwei Ereignissen handelt, die temporal geordnet sowie in mindestens einer weiteren sinnhaften Weise miteinander verknüpft sind.

Die einzelnen Bestandteile dieser Definition müssen nun näher erläutert werden. Zunächst verlangt der Ausdruck ›Text‹ Aufmerksamkeit. Er steht hier gewissermaßen als Abkürzung für sprachliche Äußerungen, die die in der Textlinguistik erforschten Bedingungen für Textualität erfüllen. Texte zeichnen sich demnach durch Kohärenz und Geschlossenheit aus, die durch grammatische Mittel (etwa Strukturen der Wiederaufnahme) sowie inhaltlich-thematisch oder pragmatisch erzeugt werden.72 Da gemäß unserer minimalistischen Definition Erzählungen von mindestens zwei Ereignissen handeln, die in sinnhafter Weise verknüpft und inhaltlich-thematisch geschlossen sind, erfüllen sie per definitionem die Bedingungen für Textualität.

Die Feststellung, dass Erzählungen Texte (im erläuterten Sinne) sind, ist gleichwohl nicht so trivial, wie es den Anschein haben mag. Das erkennt man mit Blick auf zwei Problemfelder, auf denen diese Feststellung in Frage gestellt wird:

(1) Unter anderem in der Geschichtstheorie und Biographie-Forschung ist die Frage kontrovers diskutiert worden, ob Erzählungen erfunden oder vorgefunden werden.73 Mit dieser zugespitzten Frage werden verschiedene Probleme angesprochen, etwa, wie kreativ Historiker oder Autoren von Biographien eigentlich sind, und letztlich auch, als wie glaubwürdig, verlässlich oder objektiv ihre Produkte gelten können. Dies sind komplizierte Fragen, und sie erfordern komplexe Antworten, die wir an dieser Stelle nicht in Angriff nehmen können. Fest steht jedoch: Da Texte Artefakte, d. h. etwas Gemachtes, und Erzählungen Texte sind, sind Erzählungen ebenfalls Artefakte. Mancher Erzähler findet seinen Stoff vor, also das, von dem er erzählt, aber das ändert nichts daran, dass die Erzählung selbst erst durch seinen Erzählakt in die Welt kommt. Die Textualitätsbedingung impliziert insofern, dass Erzählungen von ihren Autoren nicht vorgefunden, sondern vielmehr erschaffen werden. Dies gilt, wohlgemerkt, sowohl für nicht-fiktionale als auch für fiktionale Erzählungen (s. Kap. 2.3).

(2) Die Textualitätsbedingung impliziert nicht nur, dass Erzählungen Artefakte sind, sondern auch, dass es sich um sprachliche Artefakte handelt. Gibt es auch nicht-sprachliche Erzählungen? Diese Frage muss man für unterschiedliche nicht-sprachliche Medien gesondert beantworten, und wir müssen uns hier mit Andeutungen begnügen. Bilder sind keine Erzählungen. Sie können aber zu Erzählungen anregen oder Episoden aus Erzählungen (und, seltener, ganze Erzählungen) darstellen. Das bedeutet: Anhand der auf dem Bild dargestellten Szenerie kann man eine Erzählung rekonstruieren. Bilderzyklen können ganze Ereignisfolgen darstellen und auch Hinweise auf die Verknüpfung der Ereignisse enthalten.

Comics, die Bilder und Sprache kombinieren, tun dies systematisch;74 manchmal liegt es nahe, sie als bebilderte Erzählungen einzustufen, manchmal mag es angemessener sein, sie als Bildfolgen zu beschreiben, anhand derer sich eine Erzählung rekonstruieren lässt.

Ähnliches gilt für Spielfilme, Dokumentationen und weitere audiovisuelle Medien, in denen Ereignisse dargestellt werden, die den Stoff oder Inhalt einer Erzählung abgeben können. Wenn ein Film seinen Zuschauern eine sorgfältige Auswahl von Ereignissen präsentiert, deren temporale und andere Arten der Verknüpfungen offensichtlich sind, liegt es auch nahe zu sagen, der Film ›erzähle eine Geschichte‹. In diesem Fall kann man das Medium Film zu den semiotischen Hervorbringungen (zu den ›Texten‹ in einem erweiterten Sinne) zählen wollen, die von etwas ›Erzähltem‹ handeln. Damit wird dann jedoch zum einen der Begriff des Textes in einem relativ weiten Sinne gebraucht. Zum anderen wird der Begriff der Erzählung vom Begriff des Erzählens gelöst: Die Produktion eines Spielfilmes ist ein langwieriger Prozess, den als ›Erzählakt‹ zu bezeichnen merkwürdig klingt;75 typische Produktionsstufen beim Spielfilm wären etwa die Erstellung des Drehbuchs, die Leistung der Schauspieler im Rahmen einer bestimmten Inszenierung sowie schließlich die Postproduktion (Auswahl des Materials, Vertonung, Schnitt usw.). Insofern wäre es natürlicher zu sagen, dass dem Film ein Drehbuch zugrunde liegt, das aus einem Erzählakt hervorgegangen ist – und ein Drehbuch ist ein Text im engeren Sinne. Gerade komplexe Filme präsentieren ihren Zuschauern schließlich ein vielschichtiges Geschehen, das den Stoff vieler unterschiedlicher Erzählungen bieten kann. Hier liegt es dann eher nahe zu sagen, dass sich anhand des Filmes (genauer: auf der Basis des im Film Gezeigten) mindestens eine Erzählung rekonstruieren lässt. Diese Rekonstruktionen...

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