Einleitung
Macht es einen Unterschied, ob Klienten1 in der Therapie »nur« reden oder ob sie auch schreiben? Falls ein Unterschied feststellbar ist, worin besteht er? Wenn ich Schreiben in der Therapie einsetze, wie kann ich es effektiv nutzen? Kann therapeutisches Schreiben auch kontraproduktiv sein? Fragen wie diese treiben mich seit Jahren um, ausgelöst durch zweierlei: zum einen durch berufliche Erfahrungen mit Schreiben in therapeutischem Kontext, zum anderen durch persönliche Erfahrungen mit Schreiben – in Krisen, bei Ambivalenzen, als Mittel zur Selbstreflexion. Für mich bedeutet Schreiben Nähe zu mir. Anaïs Nin formuliert es treffend (Nin 1974, S. 214):
»Wir schreiben […] um unser Bewusstsein vom Leben zu vertiefen […] Wir schreiben, um das Leben zweimal zu kosten: im Augenblick und in der Rückschau […] Wir schreiben, um unser Leben zu transzendieren, um darüber hinauszugreifen. […] Wir schreiben, um unsere Welt zu erweitern, wenn wir uns stranguliert fühlen, eingeengt und einsam.«
Schreibend kann ich die Zeit anhalten, ich kann innehalten und nachdenken, nacherzählen, nachempfinden – eben das Leben ein zweites Mal kosten. Schreibe ich nicht, zerrinnt mir das Leben zwischen den Fingern.
Viele Menschen schreiben und damit meine ich, sie schreiben mehr als ihren Einkaufszettel oder Zahlen auf einen Zahlschein. Es verschafft ihnen – so wie mir – Erleichterung, bringt Klarheit, unterstützt sie, wenn sie sich entscheiden müssen. Schreibend ordnen wir Gedanken, die ansonsten auf uns einstürzen würden. Schreibend entdecken wir Auswege aus scheinbaren Sackgassen, schreibend eröffnen sich neue Perspektiven. Gut, könnten wir sagen, das schaffen wir auch, wenn wir nur reden, also mündlich. Aber die Rede ist flüchtig – gesprochene Gedanken verschwinden. Schreiben wir Erkenntnisse hingegen auf, dann sind sie festgehalten: Schwarz auf weiß stehen sie da, jederzeit nachlesbar. Und das ist wichtig, denn oft vergessen wir in Zeiten der Krise unsere Stärken, wichtige Erfahrungen und Erkenntnisse.
Denke ich ans Schreiben, weckt das sofort Erinnerungen an erste, frühe Schreiberfahrungen. Schnell taucht ein bestimmtes Erlebnis auf: die Erfindung des Kaugummis. Die Geschichte der künstlichen Kaumasse oder besser, meine Fantasien dazu, sind eng mit meiner Schreibgeschichte verbunden. Meine Volksschullehrerin mochte mich nicht besonders, ich spürte ihre Abneigung, vernahm ihren beißenden Spott. War es, weil ich eine Städterin und als neu Zugezogene im Dorf ein Fremdkörper war oder weil ich die Schule nicht so wichtig nahm, das Spielen interessanter fand? Doch dann brachte sie uns ein Aufsatzthema mit, an dem ich entbrannte: »Wie der Kaugummi entstand.« Ich, sonst eine eher zurückhaltende Schreiberin, erfand die Geschichte eines ausgetretenen Turnschuhs auf der Flucht vor Mr. Wrigley. Die Lehrerin hatte mir nicht nur mangelnde Fähigkeit zur Integration unterstellt, sondern auch wenig Fantasie zugetraut. Der Text überraschte sie, sie gab ihn mir zurück mit der Bemerkung: »Hätt’ ich gar nicht von dir erwartet.« Von nun an war sie freundlicher zu mir. Ich erfuhr erstmals, dass man am Schreiben entflammen kann und dass Texte wirken, etwas verändern können.
Das Schreiben ließ mich nicht mehr los, ich wollte dranbleiben. Das Studium der Germanistik sollte mir diese Nähe garantieren. Aber spätestens als ich die ersten Seminararbeiten verfasste, merkte ich: Das hat mit dem, was ich mit Schreiben verbinde, mit Lust, Kreativität, Lebendigkeit nicht mehr viel zu tun. Nach Abschluss des Studiums arbeitete ich als Journalistin. Ich verfasste Porträts über Liesl Karlstadt, Marieluise Fleißer, Elfriede Jelinek, ich interviewte Verlegerinnen, Künstlerinnen. Die Flowgefühle, die die kindliche Schreiberin empfand, stellten sich wieder ein. Doch der hohe Produktionsdruck, die schlechten Arbeitsbedingungen und die ungesunde Lebensweise ließen die Freude am Schreiben mit den Jahren seltener werden, bis ich eines Tages feststellte: Das Schreiben macht so keinen Spaß mehr.
Also absolvierte ich eine mehrjährige, poesietherapeutische Ausbildung und entwickelte anschließend Konzepte für Schreibgruppen. Ich war erstaunt über die große Nachfrage – es schien gerade so, als hätte ich eine Marktnische entdeckt. Schreibend hatten Teilnehmer die Möglichkeit, Themen, die sie beschäftigen oder belasten, zu bearbeiten. Gruppen wie »Mutter – Tochter«, »Arbeiten – das ganze Leben?« oder »Geschichte(n) meines Lebens« laufen auch nach vielen Jahren noch mit großem Erfolg. Bereits zu Beginn meiner schreibtherapeutischen Tätigkeit fiel mir die hohe Wirksamkeit auf, das Feedback der Teilnehmer bestätigte meinen Eindruck. Viele berichten nach einem Wochenendseminar oder auch Monate später, welch starken Effekt das Schreiben über die Mutterbeziehung oder über das Verhältnis zur Arbeit hatte.
Dem poesietherapeutischen Curriculum folgte eine Ausbildung zur Psychotherapeutin2 der Fachrichtung »Systemische Familientherapie«. Nun konnte ich alle meine unterschiedlichen Talente und meine verschiedenen beruflichen Ausbildungen und Erfahrungen – Literaturwissenschaft, Journalismus, Poesie- und Psychotherapie – zusammenführen und nutzen. Seit Jahren verknüpfe ich die systemische Psychotherapie mit Schreibinterventionen. Während ich es in den ersten Berufsjahren noch recht unsystematisch einsetzte, stieg mit zunehmender Erfahrung das Verlangen nach methodischem Vorgehen. Es entstand das Bedürfnis, mich wissenschaftlich mit therapeutischem Schreiben in der systemischen Psychotherapie zu befassen und seinen gezielten Einsatz zu erforschen. Ich begann meine eigene Praxis verstärkt zu reflektieren und zu systematisieren. Wer selbst begeistert schreibt, wer die vielfältigen Wirkungen des Schreibens am eigenen Leib erfährt, unterliegt der Gefahr zu denken: Das, was mir hilft, gilt auch für andere. Kenneth Gergens Warnung (Gergen 2002, S. 31) kam mir in den Sinn: »Je mehr wir jedoch von der Wirklichkeit und Wahrheit unserer eigenen Überzeugungen ausgehen, umso mehr missachten wir alternative Wirklichkeiten.« So entstehen blinde Flecken. Ganz ausschließen können wir sie nie, aber wir können sie minimieren. Deshalb holte ich immer häufiger Feedback von meinen Klienten ein: Wie sinnhaft erleben sie die Schreibinterventionen? Wo liegt der Unterschied zwischen mündlichen und schriftlichen Interventionen? Welche Wirkungen stellen sie fest? Wie sich dabei zeigte, geht therapeutisches Schreiben in seinen Wirkungen weit über das Sich-von-der-Seele-Schreiben hinaus.
Dass Erzählungen Gegenstand der Therapie sind, ist, spätestens seit sich der narrative Ansatz etabliert hat, eine Selbstverständlichkeit. Doch dass aus mündlichen Erzählungen Texte werden, ist noch wenig untersucht worden. Fachleute unterschiedlichster Disziplinen klagen gebetsmühlenartig über das hauchdünne empirische Eis, auf dem sie sich bewegen, wenn sie schreibtherapeutisch arbeiten. Obwohl viele Menschen zur Feder greifen, wissen wir wenig darüber, wann Schreiben hilft, wann es schadet, wie Texte gestaltet sein müssen, um heilsame Effekte hervorzubringen. Diese Diskrepanz ist auffallend. Es ist, als läge ein äußerst fruchtbares Feld vor uns, aber nur wenige beackern es. Nur wenige beforschen es. Schreibtherapeutisch arbeiten hingegen viele.
»Es lohnt sich, einen Stift zu haben«3 sucht nach Antworten auf die aufgeworfenen Fragen. Das Buch zeigt die Vielfalt schriftlicher Interventionen und ihre Einsatzmöglichkeiten in der systemischen Psychotherapie. Beispiele aus meiner therapeutischen Arbeit geben Einblick in meine Praxis.
Wie es sich fügte. Zur Struktur des Buches
Kapitel 1 fragt nach Parallelen zwischen den beiden Systemen Literatur und Therapie und ihren relevanten Umwelten. Wie nutzen Therapeuten Literatur? Statt von Frau Meier erzählen sie von Effi Briest, statt von Familie Müller von den Brüdern Karamasow. Dies deshalb, weil Literatur und Therapie um ähnliche Themen kreisen: um Konflikte, schwieriges Lieben und den Tod. Wie profitieren Schriftsteller von der therapeutischen Wirkung von Literatur? Ein Blick zurück in die Antike, in die deutsche Klassik und in die Gegenwart zeigt: Literatur wurde schon immer eine heilende Wirkung zugeschrieben.
Kapitel 2 wirft einen Blick über den systemischen Tellerrand. Es ist nicht die systemische Therapie, die federführend bei der Entwicklung des therapeutischen Schreibens war. Integrative Kollegen waren weiter, haben eine eigene Methode, die Poesie- und Bibliotherapie, entwickelt. Wie arbeiten andere therapeutische Schulen mit Schreiben? Welche Herangehensweisen wählen systemische Therapeuten, wenn sie schreiben oder ihre Klienten zum Schreiben motivieren?
Was ich in Kapitel 2 abgrenzend zu anderen Ansätzen skizziere, vertiefe ich in Kapitel 3. Hier zeige ich Varianten, wie wir systemische Methoden schreibend umsetzen können....