Formen und Diagnosen der Essstörungen
»Gestörtes Essverhalten« ist ebenso schwer zu definieren wie »normales Essen«. Jedenfalls ist gestörtes Essverhalten für sich genommen keine Krankheit.
Essstörungen hingegen sind im medizinischen Sinn schwerwiegende Krankheiten. Es gibt im Wesentlichen drei Formen:
die Magersucht (Anorexia nervosa, AN),
die Ess-Brech-Sucht (Bulimia nervosa oder Bulimie, BN),
und die Esssucht (Binge-Eating-Disorder, BED).
Kennzeichnende Symptome dieser Krankheiten sind in diagnostischen Leitlinien und Klassifikationsverzeichnissen festgelegt. In der Bundesrepublik ist die Codierung von Krankheiten nach ICD (International Classification of Diseases) vorgeschrieben, gültig ist noch die 10. Version, die 11. Revision wird demnächst erwartet. Speziell für psychiatrische Erkrankungen wird hauptsächlich an Universitäten und Forschungseinrichtungen eine Codierung der American Psychiatric Association verwendet, nämlich DSM (Diagnostic and Statistical Manual of Mental Diseases). Gültig ist seit 2013 DSM-5.
In diesem Buch geben wir die offiziellen Diagnosekriterien der einzelnen Essstörungen in etwas vereinfachter Form wieder.
1. Magersucht (Anorexia nervosa, AN)
Symptome nach ICD-10:
a. Zu niedriges Körpergewicht, BMI 17,5 oder weniger.
b. Der Gewichtsverlust wurde selbst herbeigeführt.
c. Große Angst, dick zu werden.
d. Verzerrte Wahrnehmung von Gewicht und Figur und übertriebener Einfluss des Gewichts auf das Selbstwertgefühl.
e. Ausbleiben der Monatsblutung (Amenorrhö). Bei Krankheitsbeginn vor der Pubertät kommt der Zyklus nicht in Gang.
Im DSM-5 gibt es zwei wichtige Änderungen: Es heißt nicht mehr: »Der Gewichtsverlust wurde selbst herbeigeführt«, sondern es besteht eine »in Relation zum Bedarf eingeschränkte Energiezufuhr«. Diese Formulierung wünschen wir uns auch für ICD-11. Außerdem wurde das Merkmal »Amenorrhö« gestrichen.
Bei der Magersucht können zwei Formen unterschieden werden:
eine restriktive (asketische, passive) Form; das bedeutet, die Verminderung des Gewichtes erfolgt durch Hungern und übermäßige Bewegung
eine bulimische (Binge-purging- oder aktive) Form; das heißt die Gewichtsreduktion wird durch aktive Maßnahmen herbeigeführt wie Erbrechen, Missbrauch von abführenden oder entwässernden Medikamenten etc.
2. Ess-Brech-Sucht (Bulimia nervosa oder Bulimie, BN)
Bulimie heißt so viel wie Stierhunger und bedeutet das Verschlingen großer Nahrungsmengen, das in der Regel nicht durch ein Hungergefühl ausgelöst wird. Im Zusammenhang mit Magersucht ist bulimisches Verhalten seit Langem bekannt. Die wissenschaftliche Diskussion, ob die Bulimie als eigenständige Krankheit von der Magersucht abgegrenzt werden soll, wurde dadurch entschieden, dass die Bulimie als eigene Essstörung ab 1980 in die Diagnoseverzeichnisse aufgenommen wurde.
Die wichtigsten Diagnosekriterien der Bulimie sind, vereinfacht, folgende Symptome:
a. Heißhungeranfälle, bei denen große Mengen Nahrung verschlungen werden.
b. Kompensatorische Maßnahmen zur Vermeidung einer Gewichtszunahme.
c. Ausgeprägte Abhängigkeit des Selbstwertgefühls von Körpergewicht und Figur.
d. Die Störung tritt nicht ausschließlich bei einer Episode von Magersucht auf.
Nicht immer werden große Mengen an Nahrung zu sich genommen. Entscheidend ist der momentane Verlust der Kontrolle über Art und Menge eigentlich verbotener Nahrungsmittel, zum Beispiel Schokolade oder Ähnliches.
Als kompensatorisch werden alle Maßnahmen bezeichnet, die bewusst eingesetzt werden können, um eine Gewichtszunahme zu vermeiden. Sehr häufig ist freiwilliges Erbrechen, das manche perfekt beherrschen. Menschen, die Schwierigkeiten haben, zu erbrechen, benutzen Abführmittel, entwässernde Medikamente oder andere Stoffe, die gewichtsreduzierend wirken (zum Beispiel Schilddrüsenhormone). Einige Patientinnen oder Patienten verordnen sich nach einem Essanfall für mehrere Tage eine Nulldiät oder bewegen sich übermäßig. Schwierig zu beurteilen sind körperliche Bewegungsprogramme. Die Grenze zwischen üblichem sportlichem Training und krankhaft gesteigertem Bewegungsdrang ist oft nicht klar zu ziehen.
3. Esssucht (Binge-Eating-Disorder, BED)
Nach ICD-10 ist diese Form einer Essstörung keine eigenständige Krankheit, sondern eine besondere Form der Bulimie. Im DSM-5 wird sie als eigene Essstörung beschrieben.
Im Unterschied zur Bulimie unternehmen die Betroffenen keine kompensatorischen Maßnahmen zur Gewichtsregulierung, sodass es allmählich zu einer Gewichtszunahme kommt. Die Essanfälle sind mit einer erheblichen psychischen Belastung verbunden wie Ekel vor sich selbst, Niedergeschlagenheit und quälenden Schuldgefühlen nach einem Essanfall. Nicht das Übergewicht ist für die Diagnose entscheidend, sondern die mit dem gestörten Essverhalten einhergehenden psychischen Störungen.
Essstörung als Querschnittsdiagnose
Als Querschnittsdiagnose verstehen wir die Feststellung einer bestimmten Essstörungsform zu einem bestimmten Zeitpunkt. Nicht selten kommt es im Krankheitsverlauf zu einem Übergang von einer Essstörungsform in eine andere. Etwa die Hälfte der ursprünglich restriktiv Magersüchtigen kann im Verlauf der Krankheit die strikte Nahrungseinschränkung nicht durchhalten. Es kommt zunächst sporadisch, schließlich immer häufiger und dann regelmäßig zu Heißhungeranfällen, etwa, wenn eine Magersüchtige dem Druck in der Familie, zu essen, nicht länger standhalten kann. Es entwickelt sich dann ein bulimisches Verhalten und aus einer Anorexia nervosa vom asketischen Typ wird eine Anorexia nervosa vom Binge-purging-Typ. Kommt es unter diesem Verhalten zu einer Gewichtszunahme und steigt der BMI über den Wert von 17,5, so muss die Essstörung bei der gleichen Patientin als Bulimia nervosa bezeichnet werden. Umgekehrt kann eine Kranke mit Übergewicht eines Tages kompensatorische Maßnahmen zur Gewichtsverminderung einsetzen, also bulimisches Verhalten praktizieren, sodass schließlich die Diagnose einer Bulimia nervosa gestellt werden muss. Bei erfolgreicher Gewichtsreduktion und unverändertem Krankheitsverhalten tritt schließlich eine Magersucht vom Binge-purging-Typ auf. Somit kann es beim gleichen kranken Menschen durch eine Verschiebung von Symptomen im Zeitverlauf zu verschiedenen Diagnosen einer Essstörung kommen.
Begleitkrankheiten (Komorbidität)
Patientinnen und Patienten mit einer Essstörung leiden nicht selten unter zusätzlichen psychiatrischen Störungen oder Erkrankungen. Bis zu drei Viertel der Kranken mit Magersucht und Bulimie erfüllen die Kriterien einer Depression. Zwangssymptome treten gehäuft bei Magersüchtigen auf. Von Angststörungen sind häufiger bulimisch Kranke betroffen. Ein Missbrauch von Alkohol und anderen Stoffen findet sich häufiger bei bulimischen Patientinnen und Patienten im Vergleich zu Magersüchtigen. Bei einigen Patientinnen und Patienten verschwinden komorbide psychiatrische Störungen im Verlauf der Behandlung der Essstörung. Andererseits können sich durch Zurücktreten der Symptome der Essstörung begleitende...