Vorwort
Was brachte mich auf die Idee, dieses Buch zu schreiben? Es waren Berichte von Patientinnen, die in ihren stationären Aufenthalten hörten, dass Essstörungen nicht heilbar seien, oder sie lasen in Fachbüchern, es gebe nur einen fragilen Zustand des »Stillstandes«, der bei psychischen Belastungen wieder zu einem gravierenden Rückfall führen würde, und man müsse sich mit der Krankheit arrangieren. Die Zweifel von Fachleuten, jedoch auch von Angehörigen und von Journalisten, an der Möglichkeit einer vollständigen Genesung von Essstörungen erschienen mir völlig unberechtigt, da ich und meine ebenfalls spezialisierten ambulant tätigen Kolleginnen eine Vielzahl dieser Patientinnen bis zur völligen Heilung behandelt haben und wir auch oft über Jahre noch deren Lebensweg verfolgen konnten. Wir wissen und konnten es in einer großen Anzahl von Fällen erleben: Heilung ist möglich!
Diese Erfahrungen, die ich mehr als drei Jahrzehnte lang in meiner auf die Behandlung essgestörter Patienten und Patientinnen spezialisierten, ambulanten psychotherapeutischen Arbeit sammeln konnte, möchte ich öffentlich machen. Durch die langjährige Praxis konnte ich Heilungsprozesse einer sehr großen Zahl von ambulant behandelten Patientinnen begleiten, manche kurz, die meisten aber lang dauernd, teilweise über mehrere Jahre hinweg. Diese Arbeit brauchte sowohl von den Patientinnen als auch von mir als Therapeutin viel Wissen, Geduld, Hartnäckigkeit, Mut und Hoffnung, dass dies der richtige Weg zum Gesundwerden sei. Wäre ich nicht von Anfang an in einem psychotherapeutischen Prozess davon überzeugt, dass ein Erfolg möglich ist, wie sollte ich selbst als Therapeutin die Energie aufbringen, die Patientin zu unterstützen? Und wie sollte dann eine Patientin ohne den Glauben an eine Genesung motiviert sein, diesen anstrengenden Weg zu gehen?
Anfang der 80er-Jahre, als ich mit der therapeutischen Arbeit begann, gab es nur spärliche Informationen und Literatur hinsichtlich der Essstörungen, die überwiegend aus dem feministischen Bereich stammten. Die ambulanten Behandlungskonzepte musste man sich selbst »zusammenbasteln«. In ganz Deutschland waren diese neuen integrativen Konzepte damals sehr gefragt, und ich gab sie in zahllosen Seminaren weiter, die ich für einen Berufsverband und verschiedene Ausbildungsinstitute abhielt. Interessanterweise kann ich heute rückblickend feststellen, dass die damaligen Grundlagen, die »roten Fäden« meines Psychotherapiekonzeptes, im Wesentlichen gleich geblieben sind: 1. normal essen lernen, 2. Ursachen und Funktionen der Essstörung herausfinden und bearbeiten, 3. die Körperwahrnehmung verbessern (Feistner, 1995). Sie sind als Grundlage in viele andere Therapiekonzepte eingeflossen.
Durch die tägliche therapeutische Arbeit kamen bei meinem Therapiekonzept über die Jahre dann viele Ergänzungen, neue Aspekte, Ideen, Schwerpunkte und Übungen dazu, denn ich beschäftigte mich ständig damit, wie ich die Arbeit noch besser, wirkungsvoller und leichter machen könnte. Auch durch zahlreiche Fortbildungen und den permanenten Austausch mit Kolleginnen kamen neue Impulse und neue Faktoren in das Therapiekonzept, wobei meine methodenintegrative Arbeitsweise dies erleichterte. Die Verhaltenstherapie wurde ergänzt durch Familientherapie und durch eine tiefenpsychologische Sichtweise in meiner Zusatzausbildung, die ich 1998 abschloss. Ein Transaktionsanalyse-Grundkurs und zahlreiche Körpertherapiefortbildungen gaben mir neue Ideen. Vieles davon wurde in dem von mir herausgegebenen Buch »Ambulante Therapie von Essstörungen« 2006 bereits dargestellt.
In den letzten zehn Jahren verfeinerte ich das Methodenrepertoire nochmals. Dazu kam meine Traumatherapie-Ausbildung (EMDR), die eine Lücke in der Behandlung von traumatisierten Essstörungs-Patientinnen schloss. (Hätte ich die nur schon 30 Jahre früher gehabt!) So sammelten sich weitere Erfahrungen, Kompetenzen und Wissen bezüglich der Behandlung essgestörter Menschen an, von denen diese profitieren konnten.
Zunehmend vertiefte ich mich dann in den letzten fünf Jahren in das Thema Heilung bei Essstörungen, denn darum geht es ja letztendlich in diesen Psychotherapien. Dazu recherchierte ich in Fachbüchern, was denn andere Autoren zu diesem Thema schreiben, und war erstaunt, wie spärlich die Ergebnisse ausfielen. In den deutschen Standardwerken zum Thema Essstörungen wird der überwiegende Teil der Publikationen der Psychopathologie gewidmet. Das Thema Heilung kommt höchstens in einem kleinen Schlusskapitel vor; das Stichwort »Heilung« oder »Genesung« fand ich fast nie. Ich hinterfrage mögliche Gründe dafür im Kapitel 1.
»Die Kunst des Heilens lehren der Patient und der erfahrene Psychotherapeut.« (Sulz, 2015) Welches Konzept und welche Übungen haben sich in meiner ambulanten Praxis bewährt? Die detaillierte, fallbezogene Darstellung meines Therapiekonzeptes soll Kolleginnen inspirieren, mit einem praxiserprobten, in sich stimmigen Behandlungskonzept zu arbeiten. Mein ambulantes Integratives Therapiekonzept, so wie ich es derzeit praktiziere, ergänzt durch Beispiele von Patientinnen, beschreibe ich in den Kapiteln 2 und 3.
Patientinnen und Therapeutinnen beschäftigt von der ersten Therapiestunde an die wichtige Frage, mit welcher Dynamik sich der Heilungsprozess entwickelt, welche Heilungsphasen und Heilungsfaktoren es gibt, wie lange die Psychotherapie dauern wird (Kapitel 4) und welche Rahmenbedingungen sich günstig oder ungünstig auf den Heilungsprozess auswirken (Kapitel 5).
Welche Faktoren aus der Sicht der Patientinnen und aufseiten der Therapeutinnen die Genesung in der ambulanten Therapie fördern und welche Wirkfaktoren entscheidend sind, erläutere ich im Kapitel 6.
Wichtig war mir bei diesem Buch, dass die psychotherapeutische Kompetenz und Erfahrung von Kolleginnen, die ebenfalls bereits viele Jahre spezialisiert mit Essstörungs-Patientinnen arbeiten, einfließen sollte. Da alle sehr ausgelastet sind mit Praxisarbeit und Familie, konnte ich sie nicht mit langwierigem Artikelschreiben belasten. Mir kam deshalb die Idee, sie bezüglich ihrer langjährigen therapeutischen Erfahrungen zu interviewen. Kaum war diese Idee geboren, meldete sich eine Medizin-Journalistik-Studentin, Ramona Ostermeier, bei mir mit dem Wunsch, ein Interview zum Thema Heilung bei Essstörungen mit mir zu machen. Ich willigte ein und fragte, ob sie weitere Interviews führen möchte. Unter der Bedingung, dass ich den Interviewleitfaden dazu entwickle, willigte sie ein, die Interviews mit erfahrenen ambulanten Therapeutinnen hinsichtlich der Heilung bei Essstörungs-Therapien durchzuführen (Kapitel 7).
Obwohl meine Arbeit praxisorientiert und fallbezogen ist, vermisste ich zunehmend die theoretischen Grundlagen, nämlich einerseits Heilungskriterien für Essstörungen und andererseits einen Fragebogen, mit dem der Heilungsgrad einer Essstörungs-Patientin festgestellt werden kann. Die gebräuchlichen Fragebögen beleuchten nämlich nur die Krankheitsseite, d. h. die Symptomreduktion anstatt den Heilungsfortschritt. Diese Ergebnisse verwunderten mich sehr, und ich weiß bis heute nicht, warum sich in der wissenschaftlichen Forschung deutscher Universitäten (anders als z. B. in Schweden, Norwegen, den Niederlanden und Australien) bisher kaum jemand für diese doch sehr relevanten Themen interessierte. Mein Plan war demzufolge, mit meinen zeitlich und finanziell beschränkten Möglichkeiten vor Ort einen Beitrag zur Erforschung zu leisten, indem ich als externe Betreuerin zwei Themen für psychologische Bachelor-Arbeiten vergab: »Heilungskriterien bei Essstörungen« und »Fragebogen zur Erfassung des Heilungsgrades bei Essstörungen«. Bei der vertieften Literaturrecherche zum Thema Heilungskriterien stellte sich dann heraus, dass eine niederländische Wissenschaftlerin der Universität Leiden, Greta Noordenbos, diese Arbeit bereits gemacht hatte. Frau Ruhl konnte in ihrer Bachelor-Arbeit diese Heilungskriterien übersetzen und nochmals an deutschen Psychotherapeutinnen überprüfen (Kapitel 8).
In einem Buch über Heilung bei Essstörungen darf natürlich die Frage nicht fehlen: Wie viele Patientinnen werden geheilt? Meiner Ansicht nach sind die wissenschaftlich gewonnenen Heilungsraten allerdings nur bedingt aussagefähig. Deshalb hätte ich sie am liebsten...