2 Es ist selten zu früh …
Bei der Vorbeugung (Prävention) von Krankheiten lassen sich grundsätzlich mehrere Ansätze und Herangehensweisen unterscheiden. In Abhängigkeit vom Zeitpunkt des Eingreifens (Intervention), d. h. der Durchführung einer präventiven Maßnahme, sind die Begriffe „primäre“, „sekundäre“ und „tertiäre“ Prävention gebräuchlich (nach Caplan, 1964 bzw. WHO, 1998). Bei der primären Prävention werden alle Personen einbezogen, für die die vorbeugende Maßnahme nützlich sein könnte. Nützlich heißt hierbei auch, dass Aufwand und Nutzen in einem günstigen Verhältnis stehen (Effizienz). Dabei sollte die Primärprävention zu einem Zeitpunkt stattfinden, an dem das Auftreten von Krankheitssymptomen bei den einbezogenen Personen unwahrscheinlich ist (ein Beispiel für primärpräventive Maßnahmen sind Impfungen). Ziel ist die Verhinderung des Auftretens einer Erkrankung (oder mit dem Fachbegriff: die Verringerung der Inzidenzrate). Liegt der Zeitpunkt einer Maßnahme später und werden Personen anvisiert, bei denen bereits erste Krankheitssymptome beobachtet werden können, bewegen wir uns im Bereich der Sekundärprävention. Ziele sind hierbei das möglichst frühzeitige Einleiten einer optimalen Behandlung oder die Verhinderung eines vollständigen Krankheitsausbruchs. Dadurch kann insgesamt die Häufigkeit des Auftretens der Krankheit gesenkt werden (Fachbegriff: Senkung der Prävalenzrate). Ein Beispiel hierfür sind Vorsorgeuntersuchungen. Ist eine Krankheit bereits ausgebrochen, kann versucht werden, eine Verschlimmerung zu verhindern oder die Folgen einer Erkrankung zu lindern. Daher wird der Begriff „tertiäre Prävention“ oft gleichbedeutend mit „Rehabilitation“ (wörtlich: Wiederherstellung) verwendet.
2.1 … doch manchmal zu spät?
Nach dieser grundsätzlichen Unterscheidung von Präventionsmaßnahmen erscheint es nahe liegend, einen möglichst frühen Einsatz von präventiven Interventionen zu fordern, weil nur dadurch viel Leid und Behandlungskosten vermieden werden können. Dies ist jedoch zu kurz gedacht, denn auch Prävention verursacht Kosten, und je früher sie einsetzt, desto mehr Personen müssen einbezogen werden (bei der Sekundär- und Tertiärprävention findet ja durch das Auftreten der Krankheit eine starke Einschränkung – Selektion – des Adressatenkreises statt). Hinzu kommt, dass präventive Maßnahmen auch schaden können. Bekanntes Beispiel hierfür sind Nebenwirkungen von Impfungen. Je mehr Personen in die Prävention einbezogen werden, desto größer sind, neben dem möglichen Nutzen, also auch die Kosten und der mögliche Schaden präventiver Maßnahmen (siehe hierzu auch Carter et al., 1997). Daher empfiehlt die Weltgesundheitsorganisation (WHO, 1998), auch bei der primären Prävention nach Möglichkeit besonders geeignete Personenkreise auszuwählen. Ein solches Vorgehen wird „indiziert“, „selektiv“ oder „zielgruppenorientiert“ genannt.
Bei der Konzeption unserer Programme orientierten wir uns an den Erkenntnissen und Fakten, wie sie in Kapitel 1 dargestellt wurden. Unter Berücksichtigung der vielfältigen Besonderheiten, aber auch Gemeinsamkeiten der unterschiedlichen Gesundheits- und Essstörungen lassen sich eine Reihe von Aspekten ableiten, die für eine Erfolg versprechende präventive Maßnahme von Bedeutung sind (siehe auch Empfehlungen der WHO, 2005):
- Aufgrund des frühen Einsetzens der Magersucht (Häufigkeitsgipfel der Erkrankung bei 15 Jahren) muss eine primäre Präventionsmaßnahme spätestens ab dem 13. Lebensjahr (6. Klasse) erfolgen;
- Da Mädchen von Essstörungen zehnmal häufiger betroffen sind als Jungen, sollten sie als Zielgruppe bei der Prävention von Magersucht, Bulimie und Binge-Eating besonders berücksichtigt werden;
- Getrennte Programme (oder zumindest Programmteile) für verschiedene Essstörungen sind aufgrund der jeweiligen Besonderheiten (z. B. Dynamik des Hungerns oder der „Fressanfälle“) notwendig, andererseits gibt es aber auch Gemeinsamkeiten (z. B. Schuld- und Schamgefühle, vgl. Grabhorn et al., 2005), die ein übergeordnetes Gesamtkonzept nahe legen;
- Aufgrund der eingeschränkten Heilungschancen durch Therapie sollten primärpräventive Maßnahmen (Aufklärung und Information auch für (noch) nicht Betroffene) im Vordergrund stehen und mit sekundärpräventiven Maßnahmen flankiert werden (z. B. Angebot von Hilfemöglichkeiten);
- Die Intervention sollte nicht bei einzelnen Mädchen und Jungen, sondern stets in Gruppen von Gleichaltrigen (Peers) ansetzen, da diese in der relevanten Altersgruppe den wichtigsten Einfluss auf das Verhalten haben und die Auseinandersetzung in der Gruppe notwendige soziale Ressourcen zur Bewältigung der anstehenden Entwicklungsaufgaben stärkt;
- Der Einfluss von Medien (insbesondere Zeitschriften und Fernsehen) sollte berücksichtigt werden, da das hier beförderte Schönheitsideal hoch mit der Verbreitung der Magersucht korreliert;
- Der Informationsstand bei Betroffenen, Eltern und Lehrern sollte ungefähr gleich sein, um eine konstruktive Auseinandersetzung zwischen diesen Bezugsgruppen zu ermöglichen;
- Den in unserem Gesundheitssystem zunehmend diskutierten ungleich verteilten Zugangschancen zu Hilfsangeboten sollte durch ein möglichst niederschwelliges und sozial gerechtes Angebot entgegengewirkt werden (von daher eignet sich z. B. der Zugang über die Schule besser als über das Internet, da in der Schule alle erreicht werden und das Angebot für die Adressaten kostenlos ist);
- Um nicht dem Vorwurf des populistischen Strohfeuers anheim zu fallen, sollte das Programm auch auf lange Sicht in den normalen Schulunterricht bzw. das reguläre Curriculum integriert werden können; dies ist am ehesten gewährleistet, wenn die Intervention kurz ist, von den Lehrern selbst durchgeführt werden kann, und wenn ihre Inhalte nicht von aktuellen Modeerscheinungen geprägt sind.
Darüber hinaus sollte ein modernes Präventionskonzept aus wissenschaftlicher, aber auch aus ökonomischer Sicht zwei weitere Voraussetzungen erfüllen:
- Durchführung einer wissenschaftlichen Evaluation nach (inter-)nationalen Standards (siehe Sanders, 2006 bzw. Kapitel 6);
- Theoretische Fundierung zur Begründung der eingesetzten Interventionsstrategien (siehe Kapitel 2.3).
Grundsätzlich sollten bei der Prävention von Gesundheits- und Essstörungen zwei Stoßrichtungen erkennbar sein:
- Vorbeugung: Was kann getan werden, um das Auftreten einer Störung zu verhindern?
- Frühzeitige Einleitung einer lückenlosen Behandlungskette: Wie wird sichergestellt, dass bereits bei ersten Krankheitszeichen möglichst rasch eine professionelle Behandlung eingeleitet wird?
Welche Maßnahmen im Einzelnen in unseren Programmen eingesetzt werden, um Gesundheits- und Essstörungen vorzubeugen, wird in den Kapiteln 3, 4 und 5 beschrieben. An dieser Stelle möchte ich kurz auf die Vermeidung verschiedener Fehler aufmerksam machen, die in der Vergangenheit den Erfolg präventiver Bemühungen verhindert haben:
Häufige Fehler bei der Konzeption von Präventionsmaßnahmen
- Wettbewerb anfachen: Insbesondere bei der Entstehung der Magersucht kann häufig ein extremes Konkurrenzverhalten beobachtet werden (vgl. Kapitel 1.1.3). Die Mädchen haben hierbei verinnerlicht, Zuwendung und Aufmerksamkeit nur über herausragende Leistungen bekommen zu können. Aufgaben und Übungen innerhalb eines Präventionsprogramms sollten daher Kooperation und Gruppenarbeit fördern und vor allem solche Wettbewerbssituationen vermeiden, bei denen sich Einzelne hervortun können.
- Perfektionismus fördern: Ebenso wie übersteigertes Konkurrenzverhalten ist auch der Drang, alles möglichst tadellos zu machen, ein Symptom, vor allem der Magersucht. Dies geht so weit, dass die meisten Lebensinhalte ausgeblendet werden, um letztlich nur noch eine einzige Sache im Blick zu haben: das eigene Essverhalten (siehe auch Tabelle 1.4). Bei Übungen und Aufgaben sollte daher Originalität, Spaß und Gemeinschaftlichkeit im Mittelpunkt stehen und nicht perfekte Ausführung.
- Aufmerksam machen: Eine Gefahr von Primärprävention ist die Vermittlung neuer Inhalte, die unter Umständen die Adressaten, in unserem Fall die Zwölfjährigen, erst „auf dumme Gedanken bringt“. Dies gilt insbesondere für „Techniken“ zur Gewichtsabnahme, wie Erbrechen oder Medikamentenmissbrauch. Diese Gefahr ist jedoch aufgrund der hohen medialen Präsenz von Essstörungen und des bereits mitgebrachten Wissens, insbesondere der Mädchen, heutzutage relativ gering. Unserer Erfahrung nach sind es eher die Eltern, die z. B. davon überrascht sind, wie viele Mädchen zumindest gelegentlich absichtlich erbrechen, nachdem sie vermeintlich zu viel gegessen haben. Die Mädchen selbst sind durch Pop-Stars wie Yvonne Catterfeld oder die Gruppe Pink! längst „aufgeklärt“ (siehe hierzu das 2005 erschienene Video zu „Stupid Girls“).
- Glorifizierung (Pro Ana): In den letzten Jahren sind im Internet Foren aufgetaucht, in denen sich von Magersucht Betroffene gegenseitig in der Aufrechterhaltung und Geheimhaltung ihrer...