2. Die deutsche Frage
In seiner fulminanten Rede vor dem griechischen Parlament geißelte der frühere griechische Finanzminister Yanis Varoufakis die Bedingungen des «Rettungsplans», die Griechenland von den europäischen Staatsführern, insbesondere von Berlin, aufgezwungen würden, als ein «neues Versailles». Diese bewusste Anspielung auf die strengen, einer Bestrafung gleichkommenden Friedensbedingungen, die dem kaiserlichen Deutschland nach dem Ende des Ersten Weltkriegs auferlegt wurden, vor allem die «Reparationszahlungen», zu denen man Deutschland verpflichtete, wurde weltweit von den Medien und den Politikern aufgegriffen. Weithin wurde die Vorgehensweise Berlins als zu hart, als «brachial» verurteilt. «Der Mann mit der Knarre», urteilte der Londoner Bürgermeister Boris Johnson, «ist der deutsche Finanzminister Wolfgang Schäuble» und «es sind jetzt die Deutschen, die den Ton angeben». Hat also die Eurokrise etwas zuwege gebracht, was der deutsche Kaiser und später Hitler auf militärischem Weg nicht erreichen konnten, nämlich die Durchsetzung der deutschen Vorherrschaft in Europa? Und hat der verstorbene Soziologe Ulrich Beck recht, der etwas weniger übertrieben feststellte, dass die deutsche Kanzlerin Angela Merkel eine berechnende «Merkiavelli» sei, deren Ziel in der «Germanisierung» Europas bestehe?
Die kurze Antwort auf diese Fragen lautet «Nein». Deutschland unterdrückt weder die Griechen noch andere Länder der Eurozone. Niemand hat diese vormals souveränen Staaten zum Beitritt zur Währungsunion gezwungen, weder mit Waffengewalt noch auf andere Weise. Es war ein Tanz, bei dem diese Länder unbedingt dabei sein wollten, wobei manche eher wie hässliche Stiefschwestern wirkten, die ihrem ökonomischen Körper Gewalt antaten, damit sie in die Schuhe der geforderten Konvergenzkriterien passten. Zudem will auch keines dieser Länder aus der Währungsgemeinschaft ausscheiden, denn sie möchten nicht ihre gescheiterten nationalen Politiken wieder aufnehmen, denen sie durch «Europa» zu entkommen versuchten. Aus Meinungsumfragen geht hervor, dass sich eine große Mehrheit der Griechen, wenn sie vor die Wahl gestellt werden, ob sie zur Drachme und zur nationalen Souveränität zurückkehren oder die deutsche Führung in Europa akzeptieren wollen, für Letzteres entscheidet. Dasselbe gilt mehr oder weniger auch für die übrigen Mitgliedsländer der Währungsunion. Es gibt für diese Länder nur eines, was noch schlimmer ist, als in der Eurozone von Deutschland beherrscht zu werden, nämlich in der Eurozone nicht von Deutschland beherrscht zu werden. Was immer hier vor sich geht, es ist keineswegs eine Wiederherstellung des Zweiten oder gar des Dritten Reiches.
Dennoch ist die gegenwärtige Krise zum großen Teil das Produkt eines deutschen Problems und auch des imperialen deutschen Erbes. Um zu verstehen, warum es überhaupt die Europäische Union gibt und warum sie heute eine solch offenkundige Schwäche zur Schau stellt, müssen wir uns einem Thema zuwenden, das die Geschichte unseres Kontinents stärker als alles andere bestimmt hat: der deutschen Frage. Über die Jahrhunderte war dies ein Streit darum, wer den Raum im Herzen Europas beherrschen sollte. In jüngerer Zeit ist es eine Debatte über die Frage, wie man Deutschland einhegen kann und/oder wie man seine Kräfte am besten zum Wohle Europas mobilisieren kann.18
Deutschland (bzw. die verschiedenen politischen Gebilde, unter denen die Deutschen lebten) war spätestens seit dem 16. Jahrhundert der Dreh- und Angelpunkt des europäischen Staatensystems. Seine zentrale geographische Lage machte es zum Tummelplatz Europas, zu einem Territorium, auf dem eine Vielzahl ausländischer Armeen um die Vorherrschaft auf dem Kontinent rangen – die Türken, die Spanier, die Franzosen, die Briten,19 die Franzosen und die Schweden, um nur die wichtigsten zu nennen. Durch seinen Bevölkerungsreichtum, die Arbeitsamkeit seiner Einwohner und die Tapferkeit seiner Soldaten wurde Deutschland zur begehrtesten Beute im Staatensystem. Es wurde zu einem Diktum der europäischen Politik, dass dieses Gebiet, wie ein schwedischer Diplomat Mitte des 17. Jahrhunderts bemerkte, «ein angenehmer und dicht bevölkerter Teil der Welt mit einer kriegerischen Bevölkerung [ist] und dass es kein anderes Land unter der Sonne [gibt], das sich in einer besseren Lage befindet, um eine Universalmonarchie zu errichten und die unumschränkte Vorherrschaft über Europa zu erlangen als Deutschland».20
In den vergangenen 500 Jahren fürchtete man weniger, dass Deutschland selbst das europäische Kräftegleichgewicht stören und durcheinanderbringen könnte, sondern dass eine äußere Macht die Deutschen dazu benutzen könnte. Denn das «Heilige Römische Reich Deutscher Nation» war ein zersplittertes politisches Gebilde, das durch einen erbitterten Machtkampf zwischen der kaiserlichen Zentralgewalt und den mächtigen Landesfürsten, den Katholiken und den Protestanten geprägt war. Dadurch entstand ein politisches Vakuum im Herzen Europas, das Instabilität exportierte und die Begehrlichkeiten der Nachbarn weckte. Am verheerendsten kam das im Dreißigjährigen Krieg zum Ausdruck, aber auch in den türkischen Vorstößen nach Europa sowie in den Revolutionskriegen und den Befreiungskriegen gegen Napoleon. Seine zentrale Lage in Europa erwies sich somit als Fluch für Deutschland. Der Philosoph Wilhelm Leibniz beklagte 1670, Deutschland sei «der Ball, den sich [die Mächte] gegenseitig zuspielen … das Schlachtfeld, auf dem der Kampf um die Vorherrschaft über Europa ausgetragen wird».21
Aus diesem Grund versuchten die europäischen Staatsführer Deutschland auf eine neue politische Grundlage zu stellen, damit sich die Deutschen nicht immer entweder gegenseitig an die Kehle gingen oder zu Füßen ihrer Nachbarn lagen. Dies erforderte Institutionen, die innere Spannungen entschärften, nötigenfalls auch durch Interventionen von außen, und die gemeinsamen Energien zur Verteidigung der Außengrenzen des Reiches mobilisierten. Die deutsche Politik war daher durch eine sorgfältig austarierte Machtteilung zwischen der kaiserlichen Gewalt und der Vertretung der Reichsstände, dem Reichstag, gekennzeichnet. Frankreich und Schweden wurden im Westfälischen Frieden von 1648 zu Garantiemächten bestimmt und erhielten das Recht, in die deutschen Angelegenheiten einzugreifen, wenn dies erforderlich war, um den Frieden zu bewahren oder eine ausländische Einmischung abzuwehren. Im 18. Jahrhundert wurde auch Russland formell dieses Privileg eingeräumt. Der Deutsche Bund von 1815, der Nachfolger des Heiligen Römischen Reiches, war auf ähnliche Weise konstruiert, um sicherzustellen, dass Deutschland nicht in einen Bürgerkrieg abglitt und stark genug blieb, um Eindringlinge von außen abzuwehren, aber auch nie so stark wurde, dass es für seine Nachbarn eine Gefahr darstellte.
Dies führte zu einer politischen Kultur in Deutschland, die bis zur Lähmung durch Präzedenzfälle, Rechtsförmigkeit, Gesetze und Verfahren bestimmt wurde. Die Deutschen waren sich ihrer Schwächen wohlbewusst und versuchten vergeblich, sie durch eine langwierige und letztlich wirkungslose «Reichsreformdebatte» zu überwinden.
Im 17. und 18. Jahrhundert hielten sich die Deutschen meist an die Regeln, die anderen aber nicht. Nach einer langen Agonie brach das Heilige Römische Reich unter dem Ansturm des revolutionären Frankreichs und Napoleons zusammen.22 Später wurde der Deutsche Bund, der den französischen Revanchismus nicht in die Schranken zu verweisen vermochte, von Bismarck und den Nationalliberalen zerstört, denen es 1871 gelang, ein geeintes Deutschland zu schaffen. Dadurch wandelten sich die Deutschen von Objekten des Staatensystems zu Subjekten und wurden zu einer machtvollen Stimme in Europa und der Welt.
Doch die Entstehung einer konsolidierten Macht im Herzen des Kontinents veränderte schließlich bekanntermaßen das gesamte europäische und letztlich auch das globale Kräftegleichgewicht grundlegend. Das zweite Deutsche Reich und das Dritte Reich erwiesen sich nach Henry Kissingers berühmten Worten als «zu groß für Europa und zu klein für die Welt». Das 1871 gegründete Deutsche Reich, ursprünglich ein Bund von Fürstentümern, entwickelte zwar zunehmend zentralistischere Züge, doch fest verwurzelte föderalistische Traditionen und das den Einzelstaaten vorbehaltene Recht der Erhebung direkter Steuern sorgten dafür, dass das Reich in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts sein politisches Gewicht nicht voll zur Geltung bringen konnte. In dieser Hinsicht unterschied sich das Deutsche Reich deutlich vom Vereinigten Königreich und von Frankreich, die eine geringere Bevölkerung besaßen. Dennoch bedurfte es eines Bündnisses...