Tatherrschaft der Deutschen
Das Deportieren und Morden geschah auf Initiative der Deutschen. Deutsche steuerten die bürokratischen Routinen des Erfassens, Ghettoisierens und Enteignens. Sie entwickelten die technischen Mittel des Mordens. Sie organisierten die Deportationen, die Massenerschießungen und Todeslager. Sie entfesselten die Gewalt gegen Juden in den besetzten und verbündeten Staaten. Keine Frage: Die Regierung Hitler übte die Tatherrschaft aus.
Doch kann ein Völkermord nicht allein von den Initiatoren begangen werden. Wer die Praxis der Judenverfolgung in verschiedenen Ländern untersucht, stößt unweigerlich darauf, wie geschickt die deutschen Eroberer überall in Europa bereits vorhandene nationalistische, national-soziale und antisemitische Bestrebungen einbezogen, um ihre Ziele durchzusetzen. Ohne zumindest passive Unterstützung, ohne die vielen arbeitsteilig helfenden Verwaltungsbeamten, Polizisten, Politiker und tausende einheimische Mordgesellen in manchen Staaten hätte sich das monströse Projekt nicht mit der atemberaubenden Geschwindigkeit verwirklichen lassen. Der Holocaust kann weder in seinen schnellen noch in seinen stockenden Abläufen begriffen werden, wenn man nur die deutschen Kommandozentralen im Blick hat.
Beispielsweise äußerte der rumänische Staatsführer Ion Antonescu zur Judenfrage, nachdem er von Hitlers Kriegsplan gegen die Sowjetunion erfahren hatte: »Rumänien muss energisch, methodisch und nachhaltig von dem ganzen Geschmeiß befreit werden, das die Lebenssäfte des Volkes ausgesaugt hat. Die internationale Lage ist günstig, und wir dürfen den Moment nicht verpassen.«[5] Antonescu – und nicht nur er – wollte die Ausnahmesituation nutzen. Herbeigeführt worden war sie von Deutschland. Erst dann zerbrachen die zivilen, moralischen und rechtlichen Normen an so vielen Orten Europas endgültig.
Wie sehr der Krieg aus zuvor zwar vorurteilsbeladenen, aber halbwegs friedlichen Menschen Mörder machen kann, mussten hunderttausende Juden bereits zwischen 1918 und 1921 erfahren. Deshalb ist eines der Kapitel dieses Buches den osteuropäischen Freiheitspogromen, Bürger- und Nationalitätenkriegen gewidmet, die dem Ersten Weltkrieg folgten. Damals ermordeten Soldaten und Milizionäre verschiedener Konfliktparteien mehr als hunderttausend keiner Kriegspartei angehörende Juden – Männer, Frauen und Kinder. Weitreichende kriegerische Destruktion bildete den Ausgangspunkt für den Massenraubmord an einer seit langem neidisch beäugten, drangsalierten, diskriminierten, von Zeit zu Zeit terrorisierten und zugleich überheblich verachteten Minderheit. Diese von nationalistischen Polen, Ukrainern und Russen, von roten, weißen, anarchistischen oder einfach marodierenden Truppen verübten Schreckenstaten fanden in den Hauptsiedlungsgebieten der Juden statt – ausgelöst vom Krieg, begangen an einer von den anderen Bevölkerungsgruppen deutlich unterschiedenen, besonders wehrlosen Minderheit. Saul Friedländer hat in seinem monumentalen Werk über den Holocaust darauf hingewiesen, dass sich in den Jahren 1939 bis 1945 »nicht eine einzige gesellschaftliche Gruppe« in Europa mit den verfolgten Juden solidarisch erklärt habe, und folgerte: »So konnten sich nationalsozialistische und ihnen verwandte politische Strategien bis zu ihren extremsten Konsequenzen entfalten, ohne dass irgendwelche nennenswerten Gegenkräfte sie daran gehindert hätten.«[6] In diesem Buch geht es um die Vorgeschichten. Wie, warum und in welchen unterschiedlichen Formen nahm der Antisemitismus in Europa seit 1880 in einer Weise zu, die es den deutschen Verfolgern und Mördern schließlich ermöglichte, in fast allen besetzten und verbündeten Ländern Unterstützung für ihr Projekt »Endlösung« zu finden?
Ursprünglich hatte die Berliner Wannseekonferenz am 9. Dezember 1941 stattfinden und sich mit der Deportation der deutschen Juden befassen sollen. Dazu eingeladen hatte Reinhard Heydrich, der Chef des Reichssicherheitshauptamts. Doch sagte er den Termin kurzfristig ab. Gründe nannte er nicht, stellte jedoch eine neue Einladung in Aussicht. Sie erfolgte für den 20. Januar 1942. Zwischenzeitlich hatten die Führer des Deutschen Reichs das Thema stark erweitert. Jetzt stand statt der deutschen die »Endlösung der europäischen Judenfrage« auf der Tagesordnung.[7] Heydrich erläuterte den Versammelten das Vorhaben und warb um konstruktive Mitarbeit – um die »Parallelisierung der Linienführung«. In einigen der besetzten und verbündeten Länder vermutete er gewisse Widerstände gegen das Großprojekt »Endlösung«, in anderen nicht. Davon etwas abweichend trug auch Unterstaatssekretär Martin Luther vom Auswärtigen Amt vor, wie er die Bereitschaft in einzelnen Staaten beurteilte, die Juden zu verhaften und die Todestransporte abzufertigen – im Protokoll umschrieben als »tiefgehende Behandlung des Problems«.
Heydrich: »Die Behandlung des Problems in den einzelnen Ländern wird im Hinblick auf die allgemeine Haltung und Auffassung auf gewisse Schwierigkeiten stoßen. (…) In der Slowakei und Kroatien ist die Angelegenheit nicht mehr allzu schwer, da die wesentlichsten Kernfragen in dieser Hinsicht dort bereits einer Lösung zugeführt wurden. In Rumänien hat die Regierung inzwischen ebenfalls einen Judenbeauftragten eingesetzt. Zur Regelung der Frage in Ungarn ist erforderlich, in Zeitkürze einen Berater für Judenfragen der ungarischen Regierung aufzuoktroyieren.« Mit seinem italienischen Kollegen wollte Heydrich selbst verhandeln. Im besetzten und unbesetzten Frankreich, so verbreitete er optimistisch, werde »die Erfassung der Juden zur Evakuierung aller Wahrscheinlichkeit nach ohne große Schwierigkeiten vor sich gehen können«. Als »Kernfragen«, die das Projekt »Endlösung« erleichtern würden, betrachtete Heydrich die Entrechtung, Enteignung und soziale Isolierung der Juden auf Initiative oder mit Hilfe der jeweiligen nationalen Autoritäten. Was die eroberten Gebiete der Sowjetunion anging, verwies er auf die bereits gesammelten Erfahrungen: Deutsche Einsatzkommandos hatten bis zu diesem Zeitpunkt gemeinsam mit rumänischen, ukrainischen, lettischen und litauischen Helfern bereits 800000 Juden ermordet.
Staatssekretär Luther schränkte ein, »dass bei tiefgehender Behandlung dieses Problems in einigen Ländern, so in den nordischen Staaten, Schwierigkeiten auftauchen werden«. Daher sei es ratsam, »diese Länder vorerst noch zurückzustellen«, was »in Anbetracht der hier in Frage kommenden geringen Judenzahlen« nicht ins Gewicht falle. »Für den Südosten und Westen Europas« sah er »keine großen Schwierigkeiten«. Wie Adolf Eichmann protokollierte, wurden abschließend »die verschiedenen Arten der Lösungsmöglichkeiten besprochen, wobei sowohl seitens des Gauleiters Dr. Meyer [Ministerium für die besetzten Ostgebiete] als auch seitens des Staatssekretärs [der deutschen Zivilverwaltung im besetzten Polen] Dr. Bühler der Standpunkt vertreten wurde, gewisse vorbereitende Arbeiten im Zuge der Endlösung gleich in den betreffenden Gebieten selbst durchzuführen, wobei jedoch eine Beunruhigung der Bevölkerung vermieden werden müsse«.
Unter »vorbereitenden Arbeiten« verstanden die 15 versammelten Herren, acht davon mit Doktortitel, den bereits begonnenen Aufbau von Vergasungseinrichtungen und Experimente mit unterschiedlichen Methoden des Massenmords. Bald nach der Konferenz notierte Joseph Goebbels Ende März 1942: »Es wird hier ein ziemlich barbarisches, nicht näher zu beschreibendes Verfahren angewandt, und von den Juden selbst bleibt nicht mehr viel übrig.«[8]
Das war der Plan. Die Durchführung wich davon ab. In Belgien fielen 45 Prozent der Juden den deutschen Eindringlingen in die Hände, allerdings mit erheblichen regionalen Unterschieden. Im flämischen Antwerpen wurden unter tätiger Mitwirkung der städtischen Polizei von 30000 jüdischen Einwohnern 65 Prozent gefasst, im wallonischen Brüssel von 22000 nur 37 Prozent, weil Behörden und nichtjüdische Nachbarn dort deutlich weniger kooperierten.
In Ungarn deportierten etwa 20000 einheimische Gendarmen 437402 Juden mit Hilfe der ungarischen Staatsbahn Richtung Auschwitz. Das geschah zwischen dem 15. Mai und dem 9. Juli 1944. Erst an der slowakischen Grenze übernahmen Deutsche die Transporte. Die Todgeweihten stammten aus den Provinzen, hatten überwiegend traditionell gelebt, die meisten sprachen untereinander Jiddisch. Budapester Politiker und Bürger verachteten sie als »Galizier«. Von den Deportierten überlebten ungefähr 60000 als Zwangsarbeiter die letzten Kriegsmonate. Anfang Juli 1944 leitete Eichmann den bis dahin zurückgestellten Abtransport der etwa 150000 gut assimilierten Budapester Juden ein. Jetzt verweigerte die ungarische Regierung die Mitwirkung. Allein auf sich und seinen Stab gestellt, konnte Eichmann nur noch drei Züge mit zuvor schon ghettoisierten Juden abfertigen lassen. Drei Tage später reiste er nach Berlin zurück, weil er ohne ungarische Beihilfe nichts mehr ausrichten konnte. So überstand die große Mehrheit der Budapester Juden die Zeit des Mordens.[9]
Am Krieg gegen die Sowjetunion beteiligte sich das mit Deutschland verbündete Rumänien. Von Deutschen gedeckt, ermuntert und manchmal von...