Brücken bauen in einer neuen Weltordnung1
Johannes Hahn
Im Namen aller darf ich Ilse Fischer für die Vorbereitung dieses Symposions danken. Ich freue mich, dass wir hier an diesem Ort, im Musée Regards de Provence2 in Marseille, sein dürfen, dieser privaten Kulturinitiative, die nicht nur hier in Frankreich etwas ganz Außergewöhnliches ist. Wir würden uns mehr derartige Initiativen europaweit wünschen. Im Vergleich zu anderen Gegenden der Welt haben wir diesbezüglich definitiv Aufholbedarf, da wir bei uns in Europa ein besonders hohes etatistisches Faible haben. Theoretisch kritisieren wir dies zwar, doch wir praktizieren es. Jeder von uns ist dazu eingeladen, dagegen etwas zu unternehmen. Am Ende denke ich, dass es die privaten Initiativen sind, die ein Land oder eine Gesellschaft wirklich vorantreiben. Daher schätze ich sehr, was Sie, sehr geehrte Adeline Granerau, sehr geehrter Pierre Dumon, hier durch die Renovierung dieses Baus geleistet haben. Wie ich gehört habe, war dieses Haus im Grunde die Marseiller Variante von Ellis Island3, allerdings mit einem schnelleren Durchlauf von nur ein bis zwei Tagen Aufenthalt für Einwanderungswillige. Hier wurden Neuankömmlinge gecheckt, um ihnen dann die Weiterreise nach Europa zu gewähren – also eigentlich eine erste Brücke nach Europa. Daher halte ich die Metapher im Titel der heutigen Veranstaltung für besonders treffend.
Wir Europäerinnen und Europäer sind im tatsächlichen und übertragenen Sinne Brückenbauer par excellence. Mein Mitarbeiter David Müller hat im Vorfeld dieser Veranstaltung festgestellt, dass ich in meiner Zeit als Regionalkommissar – innerhalb von knapp fünf Jahren – insgesamt rund 3250 Brückenbauten jeglicher Art genehmigt habe. Die Wochenenden mit einbezogen, sind das zwei genehmigte Brücken pro Tag. Jetzt habe ich natürlich nicht jedes einzelne Projekt eingehend studiert, aber es zeigt, wie intensiv in Europa im wahrsten Sinne des Wortes Brücken gebaut werden. Der einzige Wermutstropfen dabei ist, dass wir bei der Analyse dieser Zahlen festgestellt haben, dass fast die Hälfte dieser Brücken in Polen gebaut wurde, in einem Land, in dem momentan »Brücken« eher wieder abgerissen werden.
»Brücken« finden sich auch im Titel meiner Ausführung wieder: Brücken bauen in einer neuen Weltordnung. Wie immer in der Geschichte wird man erst in der Zukunft wissen, ob momentan tatsächlich eine neue Weltordnung heranwächst. Gefühlsmäßig teilen wir heute schon die Einschätzung, dass dem so ist. Nicht jedes Jahr kann eine neue Weltordnung entstehen. Das Jahr 2017 ist allerdings für Mittel- und Nordeuropäer ein ganz besonderes Jahr, denn es ist das Luther-Jahr schlechthin. Mit seinem reformatorischen Ansatz hat Luther unter anderem den Grundstein für die Bildungsqualität in Mittel- und Nordeuropa geschaffen. Diese wirkt sich bis heute auf die – um ein neumodisches Wort zu verwenden – Performance unserer Gesellschaften aus.
Die Zeit um das Jahr 1517 war durch eine Reihe hoch spannender Ereignisse gekennzeichnet, es war eine Art »Achsenzeit« für die Menschheitsgeschichte. Nicht nur Luther schlug seine Thesen in Wittenberg an, auch Erasmus veröffentlichte seine Friedensklage, aus der Schumann und Monet 450 Jahre später abschrieben, da er sich in seinem Friedensplädoyer schon damals durchaus kritisch mit den heranwachsenden Nationalstaaten auseinandergesetzt hatte.
Kopernikus ist für vieles berühmt, aber kaum dafür, dass er der Erste war, der eine Geldwerttheorie entwickelt hat; das schreibt man allgemein einem Italiener, der diese rund fünfzig Jahre später veröffentlichte zu, aber es war Kopernikus, der sich als Erster damit im Baltikum beschäftigt hatte. Die Spanier haben in diesen Jahren erstmals südamerikanischen Boden in Yucatan betreten. Die Portugiesen sind zunächst einmal in die andere Richtung ausgeschwärmt, und Magellan, der später auf den Philippinen erschlagen wurde, hat erfolgreich die erste Weltumsegelung initiiert. Um die gleiche Zeit drang Zheng He, ein berühmter chinesischer Admiral, mit seiner Flotte bei mehreren Expeditionen bis in den Pazifik, nach Arabien und Ostafrika vor. Aus uns bis heute nicht bekannten Gründen hat der damalige chinesische Kaiser entschieden, diese Aktivität einzustellen, und China hat sich seitdem bis vor Kurzem vor allem auf sich selbst konzentriert.
Wie würde sich die Welt heute darstellen, wenn die chinesische Expansion von vor 500 Jahren weitergeführt worden wäre und sich verfestigt hätte, wenn nicht gleichzeitig die Europäer ihrerseits versucht hätten, letztlich erfolgreich, andere Teile der Welt zu erobern und Kontakte zu schaffen? Das geschah nicht immer in einer Art und Weise, die man aus heutiger Sicht gutheißen könnte, aber es hat das Fundament für die heutige globale Bedeutung Europas in den verschiedensten Bereichen gelegt. Diese Bedeutung hat Europa bis heute behalten, trotz Einschränkungen, denen wir unterworfen wurden und denen wir immer noch unterworfen sind.
Im Jahre 1900 lebten in Europa noch 25 Prozent der Weltbevölkerung, heute sind wir bei sechs bis sieben Prozent, Tendenz weiter fallend. Nichtsdestotrotz ist Europa im Stande, noch immer knapp ein Viertel der Weltwirtschaftsleistung und 40 Prozent der globalen Sozialleistungen zu erbringen, und all das auf einem flächenmäßig bescheidenen Territorium. In meinem Büro hängt eine Weltkarte mit dem Titel Upside Down, die ich mir einmal in Neuseeland gekauft habe. Wir sind ja gewohnt, die Welt aus einer sehr euro-zentristischen Perspektive zu betrachten. Aus australischer oder neuseeländischer Perspektive sind jedoch Australien und Neuseeland auf dieser Karte in der Mitte oben und Europa ist rechts unten – deutlich erkennbar als Fortsetzung der eurasischen Landmasse. So kann man die Welt eben auch betrachten. Dies unterstreicht vielmehr die kulturelle, wirtschaftliche und politische Leistung Europas. Die Frage bleibt, wie wir, unter sich verändernden globalen Bedingungen, diese Position halten können. Es geht mir dabei nicht darum, etwas zu verteidigen oder zu bewahren, es geht darum, unseren materiellen und immateriellen Weltstandard halten zu können. Vergessen wir nicht, dass wir Europäerinnen und Europäer im globalen Maßstab in einem Paradies leben, in dem wir gleichzeitig individuelle Freiheiten und materiellen Wohlstand genießen.
Dies wird oftmals nicht so wahrgenommen. Natürlich gibt es auch in Europa leider wieder zunehmende Verarmungen, aber im globalen Vergleich ist die Situation hier im Großen und Ganzen relativ einzigartig. Das ist auch der Grund, weshalb Europa eine derartige Attraktivität mit sich bringt. Wir sollten auch nicht vergessen – das führt uns auch zum Bild des »Brückenbaus« –, dass das Wohlstandsgefälle und auch das politische Zustandsgefälle zwischen Europa und seinen Nachbarn extrem hoch ist. Ich war diese Woche – ich gebe zu, es war eine etwas ambitionierte Woche – schon in Armenien, Tunesien und Libyen. Tunesien und Libyen sind gerade einmal eineinhalb bis zwei Flugstunden von hier entfernt. In Libyen herrscht politisches und humanitäres Chaos, und in Tunesien kämpfen wir darum, die zarte Pflanze der Demokratie in einem arabischen Land unter schwierigen Umständen zu entwickeln, zu erhalten und zu gießen. In Armenien gedeihen die Dinge nicht so schlecht, aber auch dort sehen wir uns noch ganz massiv mit dem Erbe der Sowjetunion konfrontiert. Und das alles geschieht in der unmittelbaren Nachbarschaft Europas.
Vergessen wir auch nicht, dass wir, resultierend aus all diesen Umwälzungen, in unserer Nachbarschaft rund 20 bis 25 Millionen Flüchtlinge oder Binnenflüchtlinge haben, die sich aufgrund diverser Konflikte in der Region aufhalten. Aus europäischer Sicht sehen wir Libyen als das Absprungsland für afrikanische oder asiatische Migranten und Flüchtlinge nach Europa. Aber wenn man sich die Situation in Libyen selbst anschaut, dann wird einem bewusst, dass aufgrund des seit sechs Jahren anhaltenden Bürgerkrieges die Anzahl der Binnenflüchtlinge innerhalb Libyens von einer Million rund dreimal so hoch ist wie die Zahl der Flüchtlinge nach Europa. Die Situation ist sehr heterogen, und aus europäischer Sicht müssten wir jedes Interesse haben, die Lage zu stabilisieren. Dies geht aber nur, wenn wir in Kontakt treten und Verständnis schaffen. Aus europäischer Sicht betrachten wir Libyen ausschließlich aus der Migrationsperspektive. Meine Reise war der erste Besuch eines Kommissars seit einigen Jahren. Die Libyer stehen der Europäischen Union sehr skeptisch gegenüber, da es die Europäer waren, die gemeinsam mit den Amerikanern dieses Chaos, in dem sich das Land heute befindet, mit zu verantworten haben. Die politische Unordnung und das politische Chaos haben es Menschenhändlern möglich gemacht, Libyen als Absprungort für den Menschenhandel nach Europa zu etablieren. Über 95 Prozent der Flüchtlinge, die nach Europa wollen, kommen heutzutage über Libyen. Das Einzige, was uns Europäer jetzt...