Solidarität und Erlösung
Rut und Boas, Noomi und der Messias
I.
„Wo du hingehst, da will auch ich hingehen, und wo du bleibst, da will auch ich sein …“ singt Polly ihrem geliebten Macheath in Bertolt Brechts und Kurt Weills „Dreigroschenoper“. In diesem herzergreifenden Lied werden die Träume von der Liebe, die ein Leben lang währt, in sehnsüchtige Worte und Klänge umgesetzt, doch zugleich verfremdet und ironisiert – denn im gleichen Augenblick ist allen klar, dass in den Verhältnissen, wie sie nun einmal sind, auch die Liebe den Gesetzen von Angebot und Nachfrage, Kaufen und Verkaufen, kurz dem Verfall aller menschlichen Werte zum Opfer fällt. Trotzdem wird bis auf den heutigen Tag die Hoffnung aufrechterhalten oder auch nur die Illusion gepflegt, dass in einer immer stärker zerfallenden Welt die Liebe eine unberührte Insel der Seligen sein könnte, in der die Widersprüche aufgelöst sind zugunsten eines harmonischen Lebens zu zweit – „bis dass der Tod euch scheidet“.
Was in der Hochzeitskultur in romantischer Verkleidung daherkommt, steht in der Bibel – jedoch ursprünglich in einem anderen Zusammenhang. Das Buch Rut erzählt von einer Familie aus Betlehem, die als Wirtschaftsflüchtlinge in ein anderes Land, nach Moab, fliehen. Dort heiraten die Söhne moabitische Frauen, die nach dem frühen Tod der Männer zusammen mit ihrer ebenfalls verwitweten jüdischen Schwiegermutter Noomi allein und auf sich gestellt sind. Die eine, Orpa, wird versuchen, in ihrem Herkunftsland eine neue Lebensperspektive zu finden. Die andere, Rut, beschließt, ihrer Schwiegermutter in deren Heimat zu folgen: „Rede mir nicht ein, dass ich dich verlassen und von dir umkehren sollte. Wo du hingehst, da will auch ich hingehen; wo du bleibst, da bleibe ich auch. Dein Volk ist mein Volk, und dein Gott ist mein Gott. Wo du stirbst, da sterbe ich auch, da will ich auch begraben werden. Der Herr tue mir dies und das, nur der Tod wird mich und dich scheiden.“ (Rut 1,16f.)
II.
Das ist der Auftakt einer Geschichte, die von Liebe erzählt, von Liebe in ihren vielfältigen Formen. In ihr wird deutlich werden, dass sich die Liebe nicht auf ein „Leben zu zweit“ beschränkt, sondern sich in unterschiedlichen Lebenskontexten als Lebenselixier erweist. Am Anfang dieser Liebesgeschichte steht eine Frauenfreundschaft, eine Solidarität zwischen zwei Frauen, die gemeinsam etwas erreichen, was jede für sich wohl nicht geschafft hätte. Dabei hätte die eine von beiden, Rut, die besseren Chancen gehabt. Sie würde doch in ihrer Heimat einen neuen Mann finden, sagt die verständnisvolle Noomi, und für Kinder sei es auch noch nicht zu spät. Doch Rut will bei ihr bleiben und die ungewisse Zukunft mit ihr teilen. Die Worte, mit denen sie ihren Beschluss begründet, gelten einer Beziehung, die durch keine Institution gesichert und mit keinem Ritual gewürdigt wird. In einer Zeit, in der Frauen weder allein noch zu zweit einen Anspruch auf gesichertes Auskommen und gesellschaftliches Ansehen hatten, ist Ruts Entschluss ein Dokument höchster persönlicher Freiheit, eine in großer Unabhängigkeit getroffene Entscheidung für ein selbstbestimmtes solidarisches Leben, mit der die sozialen Schranken, in denen sich Beziehungen einzurichten haben, überschritten werden.
Doch das ist nicht die einzige Grenzüberschreitung, die sich in der Geschichte von Rut und Noomi ereignet. „Dein Volk ist mein Volk, und dein Gott ist mein Gott“ bedeutet die Transzendierung nationaler und religiöser Grenzen zugunsten einer Solidargemeinschaft, mit der am Ende neue Horizonte eröffnet werden: Rut wird einen Sohn gebären, der auch Noomis Kind ist, und von ihm wird der Messias abstammen, der endzeitliche Erlöser der Welt.
III.
Aber noch ist es nicht so weit. Bevor der Blick am Ende der Geschichte in die Weite geht, bleibt er bei den beiden Frauen und ihrem mühsamen Weg über die Grenze zurück nach Juda, in die Heimatstadt Noomis, nach Betlehem. „Nennt mich nicht mehr Noomi, die Liebliche, sondern Mara, die Bittere“, sagt Noomi bei ihrer Ankunft. Nichts deutet darauf hin, dass es hier noch eine Zukunft gibt für sie und für Rut, die fremde Schwiegertochter aus dem reichen „Grünland Moab“. In den biblischen Traditionen ist Moab eher ein Ort des fremden, des anderen Glaubens, der feindlichen Bedrohung, der überlegenen, aber auch verachteten heidnischen Kultur. Was sucht die Moabiterin in Betlehem, wo sie sich, wie ihre Schwiegermutter ohne Ehemann und Einkunftsquelle, auf der untersten Stufe der sozialen Leiter befindet, abhängig von den Almosen, mit denen Witwen gerade eben am Leben erhalten werden?
Dass Rut bereit ist, mit Noomi dieses Schicksal zu teilen, macht sie zu einer großen Liebenden. Der Gedanke, dass die Liebe stärker ist als der Tod, wird auf eigentümliche Weise in der Geschichte von Rut und Noomi variiert. Denn das, was Noomi an Schicksalsschlägen widerfährt, macht sie, wie sie sagt, zu einer „toten Frau“. Ihre Söhne sind gestorben, ohne Kinder gezeugt zu haben; damit ist die Geschichte ihrer Familie zu Ende. Damit sind aber auch die traditionellen Beziehungsmöglichkeiten erschöpft. Darin liegt die eigentliche Bitterkeit, die Noomi beklagt. Nach biblischer Tradition besteht der Schrecken des Todes in der unaufhebbaren Beziehungslosigkeit. Das bedeutet aber auch umgekehrt, dass der Verlust von Beziehungen, dass Einsamkeit und Verlassenheit bereits als Macht des Todes mitten im Leben erfahren werden. Es ist Rut, die sich dieser Macht der Todes widersetzt: Sie ist fest entschlossen, bei Noomi zu bleiben. „Das für die Entscheidung der Rut gebrauchte Verbum ‚dabaq‘ weist ein Bedeutungsspektrum auf, das vom konkreten Gestus der Umarmung bis hin zum theologischen Terminus der bedingungslosen Gottesliebe reicht: Es meint die feste Entschlossenheit, sich an eine Person oder auch an eine Sache, koste es, was es wolle, aus Liebe zu binden“, schreibt Erich Zenger, „in ihrer Liebe bindet sich Rut an alle Dimensionen der sozialen und religiösen Existenz der Noomi: Sie lässt ihren eigenen Ursprung und ihre bisherigen Bindungen zurück, doch in ihrer Lebensgemeinschaft mit Noomi werden ihr ein neues Gottesverhältnis und eine neue soziale Heimat geschenkt. Das ist die Paradoxie der Liebe: Wer sich dem anderen vorbehaltlos hingibt, findet sich selbst in seiner Hingabe neu wieder. Nicht wer nimmt, empfängt – sondern wer gibt!“1
Doch die Geschichte der beiden Frauen und ihrer Freundschaft ist nicht nur durch vorbehaltlose Liebe gekennzeichnet. Ebenso wichtig und in gewisser Weise weiter greifend ist die Erfahrung der Solidarität. Vielfach taucht im Buch Rut der Begriff hesed auf, der die Treue und gegenseitige Verpflichtung innerhalb eines Bundesverhältnisses bezeichnet und insbesondere die Treue Gottes zu seinem Volk beschreibt. Bemerkenswert ist nun aber, dass zu Beginn der Geschichte von Rut und Noomi von dieser Treue Gottes wenig zu spüren ist: „Mit leeren Händen hat der Herr mich heimkehren lassen“, klagt Noomi, „der Herr hat gegen mich gesprochen, und der Allmächtige hat mir Schlimmes angetan.“ (Rut 1,21) Die Treue, die Gott „vermissen“ lässt, kommt ihr durch Rut, die heidnische Moabiterin, entgegen. Dass Gott durch Menschen handelt, und zwar über nationale und religiöse Grenzen hinweg, ist für die Erzähler(innen) dieser Geschichte offenbar von großer Bedeutung.
Was immer nach diesem Auftakt sonst noch in der Erzählung von Rut geschieht – es ist die Geschichte einer selbst gewählten Frauenfreundschaft, mit der alle weiteren Entwicklungen in Gang gesetzt und möglich gemacht werden. Am Ende des ersten Kapitels heißt es: „So zogen sie miteinander nach Betlehem.“ (Rut 1,19) „Der Erzähler gebraucht hier die Dualform, die ein Paar bezeichnet. Rut ist nicht mehr die abhängige Schwiegertochter, sie sind ein ‚Paar‘, das hinfort sein Leben teilen will.“2 Eine neue Beziehungsmöglichkeit ist gewagt worden, in der neue Dimensionen des Lebens gegen die Mächte des Todes eröffnet werden.
III.
Erst im zweiten Kapitel des Buches von Rut kommt es zu jener Beziehung, die scheinbar der eigentliche Sinn und Zweck der Geschichte ist. Rut tut das, was Witwen üblicherweise während der Erntezeit tun: Sie sammelt auf den abgeernteten Feldern die liegen gebliebenen Ähren. Es sind die Felder, die Boas, einem entfernten Verwandten der Noomi, gehören. Nach allem, was wir von den Sozialgesetzen des alten Israel wissen, hat er das Recht und die Pflicht, sich um die verwitwete Frau zu kümmern. Der biblische Text vermittelt zwar den Eindruck, Rut sei zufällig gerade auf Boas’ Feldern gelandet. Aber, wie Meir Shalev richtig bemerkt, „wäre es tatsächlich nur ‚Zufall‘ gewesen, dann einer von der besonders glücklichen Sorte“3.
Die Erzählung wendet sich nun zunächst Boas zu und beschreibt ihn als freundlichen und sozial handelnden Grundbesitzer, der die fremde junge Frau...