Kapitel 1
Evidenzbasierte Förderung von Kindern und Jugendlichen mit intellektueller Beeinträchtigung – Chancen und Grenzen des Konzepts
Jan Kuhl & Nils Euker
1.1 Evidenzbasierung in der Sonderpädagogik – Ausgangspunkte der aktuellen Diskussion
Derzeit existiert im sonderpädagogischen Feld eine unüberschaubare Vielzahl von Förderprogrammen und Interventionsmöglichkeiten. Allerdings finden sich auf diesem Markt der Möglichkeiten etliche Verfahren mit spektakulären Erfolgsversprechungen, aber ohne Wirksamkeitsnachweise (Nußbeck, 2007; Hartmann, 2013a). Für den Praktiker stellt es eine hohe Anforderung dar, aus dieser Vielfalt die richtigen Methoden für die sehr spezifischen Bedarfe und Problemlagen der einzelnen Schülerinnen und Schüler auszuwählen (Nußbeck, 2007).
Auf welcher Grundlage aber treffen Praktiker nun diese komplexen Entscheidungen? Dies mag im Einzelfall sehr unterschiedlich sein; grundsätzlich kritisiert eine Reihe von Autoren (z.B. Grünke, 2006; Mitchell, 2008), dass sich die Auswahl zu wenig an der nachgewiesenen Wirksamkeit von Fördermethoden orientiert. Heward (2003) geht sogar so weit, einen Artikel mit dem provokanten Titel «Ten faulty notions about teaching and learning that hinder the effectiveness of special education» zu überschreiben, in dem er beklagt, dass sich zu viele Lehrer im sonderpädagogischen Feld auf nachweislich unwirksame oder sogar kontraindizierte Annahmen und Konzepte stützen. Die Forschung, so Heward, habe zwar sinnvoll nutzbares Wissen produziert, aber trotzdem verwende man in der Sonderpädagogik zu wenig forschungsbasierte Instruktionsprogramme. Auch Grünke (2006) konstatiert, dass die Verbreitung von Fördermethoden in der Praxis in keinem Zusammenhang mit der in Studien nachgewiesenen Wirksamkeit steht. Über die Verbreitung von Fördermethoden liegen zwar keine validen empirischen Daten vor, aber es existieren Studien darüber, was Lehrkräfte über die Wirksamkeit von Methoden wissen. In einer Studie von Nougaret, Scruggs und Mastropieri (2005) zeigte sich, dass amerikanische Sonderpädagogen über recht fundierte Kenntnisse hinsichtlich der Wirksamkeit von Unterrichts- und Interventionsmethoden für lernschwache Schüler verfügen. Dies gilt für Lehrkräfte an deutschen Schulen leider nicht im gleichen Maß. So gelang es Förder- und Grundschullehrkräften in einer Studie von Runow und Borchert (2003) kaum, die empirisch ermittelte Effektivität von Fördermethoden korrekt zu beurteilen. Lediglich 4 der 20 zu bewertenden Methoden wurden einigermaßen adäquat eingeordnet. Erstaunlicherweise schnitten die Förderschullehrkräfte nicht besser ab als die Grundschullehrkräfte. Man möchte meinen, dass sich die Zeiten seit dem Erscheinen dieser Arbeit gewandelt haben und inzwischen vor allem junge Lehrerinnen und Lehrer gut über die Effektivität von Förderansätzen informiert sind. Eine Untersuchung von Hintz und Grünke (2009) legt indessen nahe, dass dem nicht so ist. In dieser Studie wurden rund 200 Studierende der Sonderpädagogik und des kombinierten Grund-, Haupt- und Realschullehramts aufgefordert, die Wirksamkeit von Interventionen für den Schriftspracherwerb von lernschwachen Kindern einzuschätzen. Dabei zeigte sich, dass beide Gruppen tendenziell die Effektivität von wirksamen Interventionen unterschätzen und von unwirksamen überschätzen. Die Sonderpädagogen hatten keinen Kompetenzvorsprung vor den Regelschullehrkräften und tendierten sogar stärker dazu, nachweislich untaugliche Methoden anzuwenden.
Die bisher aufgeführten Befunde sind in keiner Weise repräsentativ, legen aber die Vermutung nahe, dass in der Sonderpädagogik noch kaum Wert auf empirische Wirksamkeitsnachweise von Interventionen gelegt wird. Anscheinend herrscht tendenziell immer noch der Glaube vor, dass die kompetente Lehrkraft aufgrund ihrer Expertise in der Lage ist, die Güte einer Methode zu beurteilen und entsprechende Entscheidungen zu treffen. Eine Studie von Stough und Palmer (2003) zeigte aber, dass die Auswahl einer Methode anhand von wissenschaftlichen Befunden der Auswahl anhand von persönlicher Erfahrung und Überzeugung überlegen ist.
Man sollte die unzureichende Nutzung von wissenschaftlich generiertem Wissen nicht vorschnell als Verschulden der Praktiker anprangern. Vielmehr sind die Ursachen im – unzureichenden – Zusammenspiel von Wissenschaft und Praxis zu sehen. Auch zeichnen sich seit einigen Jahren gegenläufige Tendenzen ab. Seit den PISA-Studien und dem Erscheinen der Hattie-Studie diskutiert man über empirische Bildungsforschung auch in populären Medien. Hinzu kommt eine verstärkte Empirisierung der deutschen Bildungswissenschaft und (Sonder-)Pädagogik. Insgesamt hat dies dazu geführt, dass empirisch gestützte Ansätze von Unterricht und Förderung verstärkt diskutiert werden.
1.2 Evidenzbasierte Praxis als Gegenentwurf
Dass empirische Erkenntnisse in der Praxis zu wenig beachtet werden und Professionelle häufig sogar auf pseudowissenschaftliche und anderweitig unseriöse Interventionsansätze zurückgreifen, sieht Hartmann (2013a) als ein grundlegendes Problem helfender Berufe. Dies mag unter anderem daran liegen, dass fragwürdige Konzepte häufig sehr beeindruckende Wirkungen behaupten und klare, widerspruchsfreie Weltsichten propagieren. Seriöse Ansätze können zwar positive und nachhaltige Effekte vorlegen, aber diese sind meist weniger imposant. Zum Wesen seriöser Wissenschaft gehört es nun einmal, Fehlschläge, Nichtwissen und Widersprüche einzuräumen.
Diese Überlegungen von Hartmann (2013a) könnten auch erklären, warum gerade die Sonderpädagogen in der Studie von Hintz und Grünke (2009) die Wirksamkeit von nachweislich unwirksamen Interventionen überschätzen. Der Hinweis, dass gerade die Not der Betroffenen und ihrer Angehörigen Professionelle offen für umstrittene Methoden macht, könnte auch verständlich machen, warum solche Ansätze gerade in der Pädagogik für Menschen mit intellektueller Beeinträchtigung immer wieder hart diskutiert werden (siehe zusammenfassend dazu Adam, 2008).
Inzwischen kritisieren aber auch im deutschsprachigen Raum immer mehr Wissenschaftler (und auch Praktiker) den Rückgriff auf fragwürdige Therapie- und Interventionsansätze im pädagogischen Bereich und die Nichtbeachtung von empirischen Befunden. Als Gegenentwurf wird vor allem das Konzept der Evidenzbasierten Praxis (EbP) diskutiert (siehe z.B. Hartmann, 2013a, 2013b; Motsch, 2012; Nußbeck, 2007, 2013; Schlosser & Wendt, 2008). Bei der EbP handelt es sich im Prinzip um eine Adaption des Konzepts der evidence-based medicine für therapeutische und/oder pädagogische Handlungsfelder. Die evidence-based medicine ist eine Entwicklungslinie der Medizin, die sich explizit verpflichtet, bei Behandlungsentscheidungen die aktuell besten empirischen Befunde zu verwenden. Um für einen Patienten die bestmögliche Behandlung zu gewährleisten, will man die individuelle klinische Expertise des Praktikers mit empirischen Befunden aus hochwertiger systematischer Forschung verbinden (Sackett, Rosenberg, Gray, Haynes & Richardson, 1996). Die individuelle klinische Expertise des Praktikers wird als «interne Evidenz» bezeichnet, und die Ergebnisse wissenschaftlicher Studien bilden die «externe Evidenz» (Beushausen, 2012; Bürki & Steiner, 2012). Ein wichtiger Grundsatz des Konzepts ist, dass weder interne noch externe Evidenz für sich allein eine optimale Behandlung gewährleisten. Denn auch exzellente empirische Befunde lassen sich nicht ohne weiteres auf jeden Einzelfall anwenden (Sackett et al., 1996). Bei der Übertragung in den deutschen Sprachraum wurde der Begriff Evidenzbasierte Medizin (EbM) gewählt. Im Deutschen bezeichnet der Begriff Evidenz allerdings ursprünglich «das durch unmittelbare Anschauung oder Einsicht Erkennbare» (Beushausen, 2012, S. 100) und bedeutet damit fast das Gegenteil des englischen evidence, das mit «auf Beweisen beruhend» zu übersetzen ist (Bellmann & Müller, 2011; Beushausen, 2012). Dass «evidenzbasiert» aber im Zusammenhang mit Medizin schlicht als die Übersetzung von evidence-based zu verstehen ist, hat sich im deutschen Sprachraum inzwischen so etabliert, dass kaum noch Missverständnisse zu erwarten sind. Auch im Duden wird «empirisch erbrachter Nachweis der Wirksamkeit» als eine mögliche Bedeutung von «Evidenz» angeführt.
Die Übertragung des Konzepts der EbM auf sonderpädagogische Handlungsfelder als Evidenzbasierte Praxis (EbP) geht von der Annahme aus, dass die systematische Berücksichtigung empirischer Forschungsbefunde die Qualität sonderpädagogischer Förderung und Intervention deutlich verbessern könnte. Dabei geht es nicht um eine Beschneidung der Methodenvielfalt, sondern vielmehr um das Ende der Methodenbeliebigkeit (Motsch, 2012). Im Rahmen der EbP kann die Wirksamkeit von Maßnahmen unter den drei Gesichtspunkten Effectiveness, Efficacy und Efficiency beurteilt werden. Effectiveness (Effektivität) meint dabei die Gesamtwirksamkeit einer Maßnahme und die Überlegenheit gegenüber Maßnahmen des gleichen Geltungsbereichs. Effektivität kann auch als ökologische Validität bezeichnet werden. Unter Efficacy (interner Validität) versteht man hingegen die Wirksamkeit einzelner, isolierbarer Faktoren. Methodisch lässt sich die Efficacy überprüfen, indem alle anderen Wirkfaktoren experimentell oder statistisch gleich gehalten werden. Je besser die Situation aber kontrolliert wird, desto stärker entstehen Laborbedingungen, die eine Übertragung der Ergebnisse auf Realsituationen erschweren....