Keynes und seine Enkel
Im Jahr 1930 befasste sich der britische Ökonom John Maynard Keynes mit einem für einen Ökonomen recht untypischen Thema. In seinem Aufsatz Die ökonomischen Möglichkeiten unserer Enkel ging es Keynes um nichts Geringeres als die wohlbegründete Spekulation darüber, wie es um die Wirtschafts- und Arbeitswelt zu Beginn des 21. Jahrhunderts bestellt sein könnte. Für die Generation seiner Enkel – also uns – sah er eine denkwürdige Zukunft:
Bis in hundert Jahren würde die Menschheit ihr »ökonomisches Problem« gelöst haben. Unter jenem ›Problem‹ verstand Keynes die Notwendigkeit, durch Arbeit für die eigene Lebensgrundlage zu sorgen. Nahrung, Kleidung, Behausung in menschenwürdigem Maße würden im Jahr 2030 durch maximal drei Arbeitsstunden am Tag gesichert sein. Dank eines kontinuierlichen technischen Fortschritts – Keynes dachte hier vor allem an eine Automatisierung der Landwirtschaft und Lebensmittelherstellung – würden seine Enkel nur noch ein Viertel des Aufwandes betreiben müssen, um ihre Existenz zu sichern. Die Sechzigstundenwoche der 1930er Jahre würde auf eine Fünfzehnstundenwoche schrumpfen.
Keynes wusste freilich, dass ein solch epochaler Wandel mehr bedurfte als technischer Innovation und der Steigerung von Produktivitätsraten. Wie alle Ökonomen seiner Zeit war auch er kein reiner Zahlenfuchs, sondern ebenso Philosoph wie Historiker. Dank seiner universalistischen Ausbildung in Cambridge und seines besonderen Gespürs für die Eigenheiten der menschlichen Spezies wusste er um die potenziell unersättliche Natur menschlicher Bedürfnisse. Diese teilte er in zwei Kategorien ein: in absolute Bedürfnisse, die den Menschen immer begleiten, wie das Grundbedürfnis nach Nahrung, Wärme oder einer Behausung; und in relative Bedürfnisse, deren Befriedigung in erster Linie dazu dient, sich seinem Nachbarn gegenüber erhaben zu fühlen. Stets unstillbar, sind Letztere auch der Motor für all die Bemühungen, immer mehr Geld anzuhäufen. Was die absoluten Bedürfnisse betraf, war Keynes optimistisch: Sie würden durch den Fortschritt bald für jedermann abgedeckt sein, worauf sich die Menschen nicht wirtschaftlichen Aktivitäten hingeben könnten.
Eine Fünfzehnstundenwoche würde natürlich voraussetzen, dass wir Enkel mit unserer neu gewonnenen Freiheit umzugehen wüssten. Freie Zeit – und hier war Keynes sicher nicht naiv – war ein Mysterium, Faszinosum und Tremendum zugleich, denn: Die Menschen, so wusste Keynes, waren viel zu lange darauf hin trainiert worden, nach neuen Einkommenszuwächsen zu streben. Würden sie in der Lage sein, die Früchte ihrer Arbeit zu genießen, die freie Zeit zu füllen, sich sinnvoll zu beschäftigen, anstatt unaufhörlich und immer mehr materielle Güter anzuhäufen?
Dazu müsste sich aber die Mentalität der Menschen verändern, insbesondere ihre Beziehung zum Geld. Denn der Wandel steht und fällt für Keynes damit, wie der Mensch sein Verhältnis zum Geld austariert: Wenn der Mensch seine »Liebe zum Geld« (»the love of money«) nicht aufzugeben bereit ist, wird er unweigerlich unfrei und zur ewigen Unruhe verdammt bleiben. Gelingt es ihm hingegen, Geld als das zu sehen, was es ist, ein Behelf, um sich die notwendigen ›Lebensmittel‹ einzukaufen, würde der Mensch befreit werden, befreit vom Zwang, mehr zu verdienen und die Nachbarn mit immer neuen Konsumgütern zu übertrumpfen.
»Natürlich«, mutmaßt Keynes über die Zeit seiner Enkel, »wird es immer noch viele Menschen geben, die blind Wohlstandsgewinne jagen, bis sie einen plausiblen Ersatz hierfür finden. Aber der Rest von uns wird nicht mehr dazu gezwungen sein, ihnen zu applaudieren und sie darin zu bestärken. Wir werden stattdessen jene höchst angenehmen Menschen ehren, die uns beibringen, das Vorhandene unmittelbar zu genießen.«
»Es wird ein Bedürfnis daher nicht sowohl von denen,
welche es auf unmittelbare Weise haben,
als vielmehr durch solche hervorgebracht,
welche durch sein Entstehen einen Gewinn suchen.«
Georg Wilhelm Friedrich Hegel
Ein Vierteljahrhundert bevor Keynes seine Gedanken über die Zukunft seiner Enkel zu Papier gebracht hatte, machte sein Zeitgenosse, der deutsche Nationalökonom Max Weber, die bemerkenswerte Beobachtung, dass deutsche Fabrikarbeiter bei jeder Erhöhung des Stücklohnes früher nach Hause gingen. Sie entschieden sich also für mehr freie Zeit, anstatt den erhöhten Stücklohn bei gleicher Arbeitszeit in ein höheres Entgelt zu verwandeln. Mit solchen Arbeitern war kein Kapitalismus zu machen. Für eine Wirtschaftsform, die auf Wachstum ausgerichtet war, sei es nötig, die Arbeiter einem »Erziehungsprozess« zu unterwerfen, notierte Max Weber im Jahr 1905 in seinem Hauptwerk Die Protestantische Ethik oder der Geist des Kapitalismus1. Ihnen müssten die »rechte Gesinnung« und ein »Verantwortlichkeitsgefühl« für einen wachstumsorientierten Produktionsprozess erst anerzogen werden. Ohne diese, erkannte er, waren kapitalistische Steigerungsraten unmöglich.
Die Arbeiter zu Beginn des vergangenen Jahrhunderts aber kamen aus einer anderen Welt: Sie waren vor der deutschen Industrialisierung in Verhältnissen groß geworden, in denen sie ihr ›Tagwerk‹ in Handwerksbetrieben oder in der Landwirtschaft vollbracht hatten. Ein Schmied musste nicht jährlich mehr Pferde beschlagen, als im Dorf tatsächlich zur Verfügung standen. Ein Knecht musste nicht jedes Jahr mehr Felder bestellen, gab es doch ohnehin nur die begrenzten Flächen des bäuerlichen Betriebs. Ein Auskommen zu haben – darin bestand der Sinn der täglichen Arbeit in dieser vorindustriellen Welt. War das Feld erst bestellt, konnte man getrost nach Hause gehen und sich im wahrsten Sinne des Wortes Müßiggang ›leisten‹.
Aus ebendieser bedächtigen Kreislaufwirtschaft wechselten Webers Arbeiter am Ende des 19. Jahrhunderts in eine Welt der Fabriken, die kein begrenztes Tagwerk mehr erforderte, sondern eine beständige Steigerung: schnellere Abläufe, höhere Stückzahlen, flinkere Handgriffe – am besten Jahr um Jahr. Als Anreiz wurden dafür höhere Löhne ausgezahlt. Aber die Fabrikbesitzer mussten sich doch so einiges einfallen lassen, bis die Arbeiter diese höheren Löhne auch zum Anlass nahmen, tatsächlich länger an der Werkbank zu stehen. Warum sollten sie auch mehr Zeit als zum Überleben nötig in die Erwerbstätigkeit stecken?
Heute, über hundert Jahre nach Max Webers Beschreibung der ländlich geprägten Arbeiter mit der hohen Freizeitpräferenz, finden wir bemerkenswerterweise das umgekehrte Phänomen: Menschen bleiben bis weit nach Feierabend in ihren Büros und an ihren E-Mail-Eingängen sitzen, ohne durch ein zusätzliches Entgelt dazu motiviert werden zu müssen. Diese modernen ›Helden der Arbeit‹ leisten unbezahlte Überstunden, und nicht wenige fühlen sich gut dabei. Während Max Webers Fabrikarbeiter zum Ärger der Fabrikherren bereits eine Minute vor Arbeitsschluss am Fabriktor standen, um dem verhassten Unternehmer keine Sekunde ihres Feierabends zu schenken, lassen heutzutage in Deutschland Millionen Arbeitnehmer ihre Mittagspausen und Feierabende ausfallen, um ein dringendes Projekt innerhalb der ›Deadline‹ zu Ende zu bringen. Ansonsten würde sie ein schlechtes Gewissen plagen. Sie tun dies nicht einmal innerhalb des Achtstundentages, der in der Weimarer Republik von der Arbeiterbewegung erkämpft wurde. Die Angestellten des neuen Jahrtausends arbeiten »freiwillig« länger, und dank der Segnungen des Smartphones gern auch am Wochenende oder im Urlaub. In einem Spiegel-Interview antwortete unlängst der Arbeitspsychologe Matthias Burisch auf die Frage, ob all das arbeitsbedingte Mail- und Internet-Checken wirklich nötig sei: »Viele, die am Handy hängen, wissen mit sich sonst einfach nichts mehr anzufangen. Ich sehe etwa in Flughäfen ganz selten Geschäftsleute, die einfach mal nichts tun – und damit Zeit haben nachzudenken.«
Max Webers Fabrikarbeiter um 1900 sehnten sich nach mehr freier Zeit. Aus Arbeiterinterviews der Jahrhundertwende wissen wir von den mannigfachen Interessen vieler Metalldreher oder Schlosser. In ihrer Freizeit betrieben sie Astronomie, pflegten einen eigenen kleinen Acker, bildeten sich als Botaniker weiter oder verbrachten ihre Abende mit dem Arbeitertheater. Nicht wenige gaben ihren Zwiespalt zu Protokoll, so gerne zu lesen, dass sie die halbe Nacht wach blieben und am nächsten Tag in der Fabrik nie ausgeschlafen waren. Bei dieser Arbeitermentalität hatte Keynes allen Grund zu der Annahme, dass jeder Produktivitätszuwachs auch in Zukunft von den Arbeitnehmern in freie Zeit umgemünzt werden würde. Heute aber brennen nachts die Lichter nicht in den heimischen Lesestuben, sondern in Firmenbüros. Arbeits-E-Mails werden oft auch noch nach Mitternacht verschickt. Die Deutschen leisten sogar die meisten Überstunden im Vergleich zu ihren europäischen Nachbarn. Der EU-Sozialkommissar László Andor stellte im Herbst 2014 fest: »In keinem Land der Euro-Zone gibt es einen so großen Unterschied zwischen der tarifvertraglich vereinbarten Wochenarbeitszeit und der tatsächlichen Wochenarbeitszeit wie in Deutschland.«
Die meisten dieser Überstunden werden unbezahlt und ohne einen Freizeitausgleich geleistet. Dabei hat sich die Produktivität der deutschen Arbeitnehmer pro Arbeitsstunde allein zwischen 1975 und 2014 verdoppelt.2 In diesem Zeitraum stagnierten zugleich die Reallöhne oder sind gesunken. Der Deutsche arbeitet also seit vier Jahrzehnten deutlich mehr, für weniger Geld und ohne Unmutsbekundungen.
Was ist passiert zwischen 1905 und 2015?...