Kapitel 2
(Washington, 13.4.2005)
Dieses Jahr fing nicht gut an. Weder für die Welt noch für mich. Sein Anfang war durch die Wellen des Tsunami geprägt. Man musste sich die Frage stellen: Will uns damit unser Planet nicht etwas mitteilen, uns vor etwas warnen, uns zu etwas aufrufen? Oder: Geht es nur um eines der Milliarden kosmischer Ereignisse, die die Geschichte der Welt bilden, oder geht es noch um etwas anderes? Der Zufall wollte es, dass ich in dieser Zeit oder kurz vorher mit Dáša im Rahmen meiner «großen Asienreise» in diesen Gegenden hatte sein sollen, doch sie musste unterbrochen werden, kaum dass sie angefangen hatte. Schuld hatte die Tatsache, dass ich gefallen war. Gleich am ersten Tag war ich nämlich so dumm hingefallen, dass ich mir den Oberschenkelhalsknochen brach, einen wichtigen Verbindungsknochen zwischen Hüfte und Becken, und mich in einem Rollstuhl fortbewegen musste. Das war in Taiwan passiert, und deshalb sind wir nur zwei Tage dort geblieben, um den offiziellen Teil des Programms zu absolvieren, und dann sind wir nach Hause zurückgekehrt. Wir hatten einige Länder besuchen sollen, die öffentlichen Pflichten waren mit Ruhepausen und Besichtigungen kombiniert. In der letzten Zeit falle ich häufig. (Ich bin zum Beispiel heute nacht in unserem Haus in Georgetown hingefallen, aber mir ist zum Glück nichts geschehen.) Es scheint, dass ich am häufigsten in Asien hinfalle. Ich bin im Königspalast in Bangkok hingefallen (drei Rippenbrüche), in einem Luxushotel in Seoul, vor einem Jahr in einem Hotel in Neu Delhi (drei Rippenbrüche). Der indische Sturz vereitelte unseren ersten Versuch einer «großen Asienreise», dieselbe, die kaum ein Jahr später mein taiwanesischer Sturz unmöglich machte. Machen wir noch einen dritten Versuch? Ich weiß nicht. Meine asiatischen Stürze haben einen sehr ähnlichen Verlauf: Glücklich (ohne an Erstickungsanfällen zu leiden) absolviere ich einen mehrstündigen Flug um den halben Erdball, komme ins Hotel, packe alles aus, bereite die Dinge für den nächsten Tag vor, lese die entsprechenden Unterlagen, dann gönne ich mir ein gutes Abendessen mit einem guten Wein und lege mich hin zu einem langen und festen Schlaf, von dem ich mir verspreche, dass ich den nächsten Tag wirklich frisch beginne. Selbstverständlich nehme ich irgendeine Schlaftablette. Die Zeitverschiebung, das andere Klima, der Wein, die Tablette und die Erleichterung darüber, dass ich die Reise hinter mir habe, führen zu einer gewissen Art von Betäubung – und wenn ich dann in der Nacht in einem mir völlig unbekannten und normalerweise sehr ausgedehnten Präsidentenappartement das entsprechende Örtchen suche, geschieht es: Ich fliege der Länge nach hin. In erheblichem Maße bin ich an den Stürzen, die immer vielen Leuten, vor allem aber Dáša, das Leben kompliziert machen, selbst schuld: Ich nehme die Verantwortung für alles zu ernst, durchlebe alles zu sehr und verjage schließlich ein wenig übertrieben (durch die Kombination nicht zueinander passender Instrumente) alle Sorgen in dem Bemühen, das Gehirn gründlich zu durchlüften. Das Jahr 2005 begann also für mich mit einem Oberschenkelhalsbruch, Rollstuhlfahren und Aufenthalten im Krankenhaus. Vor allem aber stand der Anfang im Zeichen meiner insgesamt schlechten Stimmung, der Unfähigkeit, mich auf eine anständige Arbeit zu konzentrieren, eines alarmierenden Grades von Vergesslichkeit und des immer stärkeren Gefühls meines Ungenügens und des Zweifels am Sinn dessen, was ich mache und wie ich es mache.
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Dissident zu sein bedeutete zu kritisieren, auf die Widersprüche zwischen dem Gesagten und der Wirklichkeit hinzuweisen, die Falschheit der Sprache zu analysieren, die Verletzung von Menschen- und Bürgerrechten darzulegen oder Proteste zu organisieren. Es ging also eher um eine destruktive Tätigkeit. Ein Politiker muss zwar ständig etwas einreißen, aber zugleich stärker und mit größerer Energie etwas aufbauen, ein Ziel haben, eine Vorstellung, wohin er die Gesellschaft bringen will. Wann haben Sie sich das zum ersten Mal klar gemacht?
Ich glaube nicht, dass mein öffentliches Wirken, bevor ich eine politische Funktion angenommen habe, nur destruktiv war. Ich habe im Gegenteil das Gefühl, dass ich ausschließlich kritisiert habe, weil ich sah, wie entfernt die Welt um mich mich herum von all meinen Vorstellungen darüber ist, wie die Dinge richtig sein sollten. Meine Vorstellungen, besonders während meiner Kindheit und Jugend, waren ohne Zweifel ziemlich naiv, aber das heißt nicht, dass ich sie nicht gehabt hätte. Ich bin ein sehr konstruktiver Typ, und etwas «nur so» niederreißen, ohne zu wissen, warum es niedergerissen werden soll, könnte ich nicht. Als ich mich dann plötzlich in einer politischen Funktion befand, musste ich mir überhaupt keine politischen Ideale oder Ziele ausdenken; es genügte, das umzusetzen, was ich mir mein ganzes Leben lang gedacht hatte. Eine andere Frage ist selbstverständlich, wie man in diesem oder jenem realen Zustand der Dinge seine Ziele erreicht oder auf sie zugeht. Das Leben ist unter anderem deswegen schön, weil es in vieler Hinsicht unvorhersehbar ist und also niemand jemals vollständig auf alles, was kommt, vorbereitet ist oder sein kann. Ich muss lächeln, wenn ich hin und wieder den Vorwurf höre, wir seien auf unsere Revolution nicht vorbereitet gewesen, wir hätten keine neue demokratische Verfassung und alle notwendigen Gesetze in petto gehabt, ja, noch nicht einmal gewusst, wer welchen Ministerposten bekommt usw. usw. Vollständig auf die Geschichte vorbereitete Menschen sind mir ziemlich verdächtig. Sie stehen den Kommunisten nahe, die hochmütig denken, dass sie die Welt vollständig verstanden haben und also absolut wissen, wie was sein wird. Und wenn dann alles ein wenig anders ist, versuchen sie mit Gewalt, die Welt ihrer Vorstellung anzupassen.
Als Sie eine politische Funktion übernommen haben, mussten Sie ohne Zweifel darüber nachdenken, für wen Sie Politik machen. Haben Sie vom ersten Augenblick daran gedacht, dass unsere Leute sich in den letzten zwanzig Jahren von der Politik abgewendet haben, kein Interesse an ihr haben und dass, nachdem die revolutionäre Euphorie verflogen ist, die Situation mehr oder weniger in alte Geleise zurückkehrt?
Ich hatte, glaube ich, nie große Illusionen. Unsere Gesellschaft war zwar wirklich in den letzten zwanzig Jahren sittlich gelähmt, woher auch die ostentative Abwendung von allem Öffentlichen kommt, aber das damals massenhafte Auftreten der Sorge um sich selbst und des Desinteresses am anderen war wiederum nichts so völlig Neues oder Überraschendes. Man kann belegen, wie opportunistisch sich ein großer Teil der Bevölkerung in den fünfziger Jahren verhalten hat, als es üblich war, in den Betrieben Forderungen nach der Todesstrafe für diese oder jene «Feinde des Sozialismus» zu unterschreiben, oder wie gering die Unterstützung in der Gesellschaft für unseren einheimischen Widerstand während des Krieges war. Nur ein Tor hätte sich denken können, dass sich ein Volk oder die ganze Menschheit von einem Tag auf den anderen ändert und alle anfangen, sich vorausschauend, nicht-egoistisch, altruistisch zu verhalten, dass alle möglichen Menschen bereit sein werden, Opfer für die gute Sache zu bringen usw. usw. Ich habe mir selbstverständlich nicht einmal zur Zeit unserer «samtenen Revolution» so etwas gedacht. Auf der anderen Seite aber weiß ich, dass von Zeit zu Zeit das Fass der Ungeduld überläuft, die Menschen zur Besinnung kommen und Dinge geschehen, die man noch kurz vorher für schwer vorstellbar hielt. Ein solches Aufraffen – bei uns pflegt das so einmal alle zwanzig Jahre zu passieren – hält verständlicherweise nicht lange vor, und es wäre sogar auf seine Weise gegen die Natur, wenn es dauerhaft anhalten würde. Es geht darum, diese Zeit so gut wie möglich für bestimmte unumkehrbare System- und andere Änderungen zu nutzen, die dann immerhin garantieren, dass alles ein bisschen besser wird als vor diesem Aufraffen. Ich habe den Eindruck, dass ich auch in der Zeit unserer Revolution zu den nüchternen, sachlichen, vorsichtigen Menschen gehörte, die nichts Unmögliches versucht haben. Das bedeutet nicht, dass ich der Atmosphäre der Zeit in keinem Moment erlegen wäre. Zum Glück geschah das aber nicht in der Sphäre der grundsätzlichen politischen Entscheidungen, sondern eher auf dem Gebiet der Rhetorik oder in der Art und Weise meines «unkonventionellen» präsidialen Verhaltens. Manchmal habe ich, kurz gesagt, wohl Dinge getan, die ich ein Jahr später so nicht mehr getan hätte und die man mir später – und zu Recht – nicht hätte durchgehen lassen. Die Hauptsache allerdings ist, dass trotz allem, was uns heute so ärgert, die gegenwärtigen Verhältnisse unvergleichlich viel besser sind als während des Kommunismus. Unser Land ist darüber hinaus Bestandteil eines so festen Systems internationaler Beziehungen und Garantien, dass jeder Typ von Unterjochung, der von außen kommt, praktisch ausgeschlossen erscheint. Ich denke, dass wir eine derartige Gewissheit während unserer ganzen dramatischen Geschichte nicht hatten.
Wie haben Sie sich gegen die wachsende Bewunderung gewehrt, die einem normalerweise ein wenig das Gehirn verdunkelt? Ich erinnere mich, wie Professor Milan Machovec hinter den Kulissen des Realistischen Theaters zu Ihnen sagte: Sie sind mehr als Gott!
Ich weiß nicht, ob er das gesagt hat, aber wenn er das gesagt hat, dann hat er es ohne Zweifel ein wenig als Scherz, ein wenig als Metapher gemeint. Er wollte wohl am ehesten sagen, dass ich – zumindest in diesen Tagen – einen fast unwahrscheinlich...