Einleitung
Der Badezimmerspiegel ist vom Duschen noch ganz beschlagen. Man kann meinen Körper darin zwar nur erahnen, aber genug erkennen, um zu sehen, dass er keinem Seifenwerbespot entspringt. Ein Rest Schaum kitzelt mich am Fuß. Ich schaue nach unten und wackle mit meinen geduschten, schrumpeligen Zehen, die sich in eine grasgrüne Fußmatte schmiegen. Mein Blick wandert nach oben, an den knubbeligen Knien und den breiten Oberschenkeln entlang, vorbei an meinem prallen Bauch, bis ich mein Gesicht im Spiegel schemenhaft erkenne. Mit einer Hand reibe ich einen Teil der beschlagenen Oberfläche frei. Die Frau im Spiegel schaut mich mit großen braunen Augen an und rümpft die Nase. Reste von Wimperntusche verschmieren ihr rechtes Lid. Ich reibe die schwarzen Flecken weg, dabei bewegen sich meine knallroten Fingernägel im weiß gekachelten Bad wie kleine Leuchtbojen hin und her. Stolz betrachte ich die perfekt lackierten Nägel an meinen zehn dicken Fingern, die ich als Jugendliche so wenig leiden konnte. Ich wollte immer feingliedrige Hände haben wie die Models in den Werbespots für Handcreme. Das ist das Stichwort, denke ich schmunzelnd, greife zur Cremedose und gebe einen dicken Klecks daraus auf meine Hände. Ich creme meine glatte Stirn ein, streiche über meine runden Wangen und verteile den Rest der Creme auf meinem Hals. Abwechselnd plustere ich mein Gesicht auf, dann sauge ich die Wangen wieder ein. Erst bringe ich mein Doppelkinn so richtig zur Geltung, dann ziehe ich mein Gesicht straff und verstecke das Kinn mit gekonnten Posen.
Langsam verzieht sich der Dampf im Bad und gibt die Sicht auf meinen ganzen Körper frei. Keine verschwommenen Linien mehr, alles ist klar zu erkennen. Vor diesem Spiegel zu stehen, ganz nackt, macht mich nervös. Ich atme tief durch und lächle etwas unsicher meinem Spiegelbild entgegen. Ich betrachte mich und sehe sehr viel Körper. Eine große Fläche rosiger Haut, fleischig, prall, platzeinnehmend. An meinen Händen ist noch etwas Creme, ich streiche sie an meinem Bauch ab, genau da, wo kleine hellrosa Dehnungsstreifen um den Bauchnabel tanzen. Ich pike mit meinem Zeigefinger in das weiche Bauchfett und beobachte, wie es nachgibt. Ich pike mehrmals schnell hintereinander, und mein Bauch bewegt sich mit, als ob er kichern würde. Ich stimme in dieses Kichern ein und finde ihn schön, meinen runden blassrosa Bauch.
Jeden Tag, aber besonders in solchen Momenten, ist mir bewusst, dass mein Körper nicht unbedingt den heutigen Schönheitsidealen entspricht. Er passt in keine von spanischen Modeketten vorgegebenen Konfektionsgrößen, und er bekäme wahrscheinlich keine Hauptrolle in einer Netflix-Serie. Glaube ich den Klatschspalten, so muss mein Körper eine einzige Problemzone sein. Und wenn ich ehrlich bin, war ich die meiste Zeit meines Lebens selbst davon überzeugt: »Wenn ich nur zwanzig bis dreißig Kilo weniger wiegen würde, wenn ich nur mehr Sport treiben und auf den Abendsnack verzichten könnte, dann wäre mein Leben schöner und vor allem leichter.« Alle meine Unsicherheiten, jedes Scheitern führte ich auf mein Gewicht zurück. Ich stellte mir vor, was ich alles tun könnte, wenn ich schmaler wäre. »Deine beste Zeit kommt noch, Magda!«, dachte ich immer. Ich lebte so sehr in der Traumvorstellung eines schlanken Ichs, dass ich manchmal völlig vergaß, im Hier und Jetzt zu leben. Erst als Erwachsene fing ich an, mich kritisch damit auseinanderzusetzen. So veränderte sich langsam nicht nur mein Selbstbild, sondern auch mein Blick auf die Gesellschaft. Gerne viel (und nicht nur kleingeschnippelten Stangensellerie) zu essen und statt in der Muckibude zu schwitzen lieber faul rumzulungern, sehe ich heute nicht mehr als Todsünde an – auch nicht, wenn dicke Menschen das machen. Schlanke, sportliche und sellerieessende Menschen sind nicht die besseren Menschen. Und auch nicht zwangsläufig die gesünderen.
Dieses Buch ist das Resultat einer veränderten Perspektive auf meinen Körper, auf das Dicksein und auf eine Gesellschaft, die nicht gerade freundlich zu Dicken ist. Ich lade dich ein auf eine Berg- und Talfahrt durch mein Leben, in der ich ganz persönliche Erfahrungen, aber auch Diäten, die sogenannten »Dickenkrankheiten«, mediale Bilder über hochgewichtige Menschen oder den Body-Mass-Index unter eine fette Lupe lege. »Wer dick ist, hat versagt, ist faul und ungebildet«, so heißt es, mal mehr und mal weniger explizit. Woher kommen diese Klischees eigentlich? Ich bin sicher, dass du bestimmte Situationen wiedererkennst, über die ich schreibe: die gemeinen Sprüche in der Schule oder am Arbeitsplatz, die abschätzigen Blicke beim Sport oder in der Arztpraxis, die Scham beim Essen in der Öffentlichkeit, die zahlreichen ungebetenen Diättipps oder die ewige Suche nach passenden Klamotten. Rund und glücklich durchs Leben zu gehen, das scheint für viele ein Widerspruch zu sein. Ich bin nicht die Einzige, die das doof findet. Deshalb erzähle ich in diesem Buch auch von coolen Vorbildern, die die Nase voll haben von langweiligen und diskriminierenden Dickenklischees. Ich berichte von selbstbewussten Fatshionistas und engagierten Menschen, die sich in der Modewelt, beim Sport, im Netz oder in Vereinen für Körpervielfalt einsetzen. Und dafür, dass wir alle in Ruhe ein Eis schlecken können. Ohne ein schlechtes Gewissen zu haben.
Hier ist mein Vorschlag: Mach’s dir gemütlich, nimm dir etwas Zeit und die nötige Portion Lust, neu und anders über das Dicksein nachzudenken. Nach der Lektüre dieses Buches kann es sein, dass du so einige stereotype Vorstellungen über Bord wirfst. Und diese überteuerten Diätshakes gleich hinterher. Es kann sogar sein, dass du anfängst, anders über deinen Körper und die deiner Mitmenschen nachzudenken, entspannter mit dir selbst umgehst und vielleicht sogar etwas Zuneigung für deine Speckrollen entwickelst. »Wie bitte?«, wirst du vielleicht fragen. »Ich soll diesen – meinen – von Cellulitis befallenen Körper mögen?« Ich weiß, es ist schwer, liebevoller auf den eigenen Körper zu schauen. Ich selbst kann ein Lied davon singen, ach, was sage ich, eine ganze Oper, denn ich schaue auf viele Jahre der Selbstzweifel zurück. Immerhin wird uns ständig vorgegaukelt, dass schwabbelnde Arme, Hautdellen oder Doppelkinne nicht gerade zu den Must-haves der nächsten Saison gehören. Ich mache Schluss damit. Hier und jetzt: Liebe Diät-Industrie, wir müssen uns trennen! Versprochen: Es liegt nicht an mir, nur an dir.
Dieses Buch ist für alle, die die Schnauze voll haben von Diätwerbung und Kalorienzählen. Und für die, die Kalorien zählen, aber sich immer öfter die Frage stellen: »Warum eigentlich?« Es ist ein Buch für schlanke Menschen, die sich immer »zu dick« finden, und für dicke Menschen, die auf den nächsten Seiten den Respekt bekommen, der ihnen viel zu selten gezollt wird. Ich feiere die stolzen, selbstbewussten und die unsicheren oder schüchternen Dicken. Und ich lade all jene ein, die einfach mal hineinschauen wollen in die Welt der Dicken und hier nachlesen können, wie es sich mit fettem Bäuchlein durchs Leben spaziert. Fühlst du dich angesprochen? Dann: Herzlich willkommen, fatty, high five! Aber huch, du fragst dich jetzt sicherlich: »Dick? Wer ist hier eigentlich dick?«
Zu dick finden sich irgendwie die meisten. So war das auch immer bei mir, obwohl ich Phasen hatte, in denen ich sogar fast im Bereich des sogenannten »Normalgewichts« lag. Auf meinen Kinderfotos sehe ich jedes Jahr anders aus. Als Jugendliche durchlebte ich Gewichtsschwankungen, die locker im zweistelligen Bereich lagen. Wenn ich heute Fotos aus dieser Zeit anschaue, bin ich überrascht darüber, dass ich auf manchen Fotos höchstens ein bisschen Bauch hatte, mich damals aber trotzdem immer (zu) dick fühlte. Von klein auf hörte ich, dass ich Gewicht verlieren solle, weil mein Speck ja ganz schön gesundheitsgefährdend sei. Dieses Wissen hat sich in meinen Kopf eingebrannt und wirkte auch in Zeiten, in denen ich verhältnismäßig schmal war. Im Grunde genommen fühlte ich mich nie so richtig okay.
Es ist also gar nicht so leicht, lupenrein zu definieren, wen ich meine, wenn ich von dicken Menschen spreche. Es finden sich oftmals eben auch jene dick, deren Körper durchschnittlich sind, die aber bedingt durch mediale Bilder oder ein unrealistisches Selbstbild eine verzerrte Wahrnehmung haben. Es scheint auch zum guten Ton zu gehören, ab und zu dramatisch auszurufen, dass man ja »sooo fett« sei. Vielleicht in der Hoffnung, das eine oder andere Kompliment zu ergattern …? Der Body-Mass-Index als Referenzpunkt stinkt mir (später im Buch dazu mehr), und allein auf die Kilos zu schauen scheint mir auch nicht sinnvoll. Eine sehr große Person kann mit 90 Kilogramm schmal und eine sehr kleine Person schon mit 60 Kilogramm dick wirken. Eine andere Möglichkeit wäre, sich auf Konfektionsgrößen zu beziehen. Da diese aber nicht einheitlich sind, kann man Kleidergrößen als Indikatoren für Körperformen auch nicht gebrauchen. Wenn ich meinen Kleiderschrank öffne, ziehe ich Kleidungsstücke von Größe M (mit viel Stretch!) bis XXXL heraus. Nicht gerade sehr aussagekräftig, oder? Gut gefällt mir, was die britische Psychotherapeutin und Autorin Dr. Charlotte Cooper dazu zu sagen hat: Sie findet es sinnvoll, Dicksein in Bezug auf Erfahrungen zu definieren. Ob man als dünn, dick oder fett wahrgenommen wird, kann sich je nach Region, Klassenzugehörigkeit, Kultur oder Generation unterscheiden. Und die eigenen Erfahrungen haben maßgeblich mit der Umwelt zu tun, in der man aufwächst; sie beeinflussen den Blick auf den eigenen und auf andere Körper.
Langsam wird es kompliziert, also: Ab wann ist man denn nun...