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Fault Lines - Verwerfungen

Warum sie noch immer die Weltwirtschaft bedrohen und was jetzt zu tun ist

AutorRajan Raghuram G.
VerlagFinanzBuch Verlag
Erscheinungsjahr2012
Seitenanzahl320 Seiten
ISBN9783862482597
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis21,99 EUR
Aus der Finanzkrise ist über die Währungskrise längst eine weltweite Bedrohung des Finanzsystems geworden. Die akuten Brandherde der globalen Finanzstruktur scheinen zwar immer wieder unter Kontrolle, doch unter der Oberfläche brodelt es weiter. Genau hier setzt mit Raghuram Rajan einer der profiliertesten Ökonomen unserer Zeit an und zeigt auf, warum die fundamentalen volkswirtschaftlichen Ungleichgewichte zwischen den Nationen nach wie vor die Weltwirtschaft bedrohen. Aber welche Folgen haben diese Unterschiede der Wirtschaftsregionen, welche Rolle spielt eine überproportionale Exportorientierung wie die Deutschlands, Japans oder Chinas? Und wie lassen sich die Akteure eines vollkommen aus dem Ruder geratenen Finanzsystems wieder in geordnete Bahnen lenken? Sicher ist: Die Weltwirtschaft wird so schnell nicht zur Ruhe kommen. Wie also lässt sich die Zukunft gestalten? Welche schmerzhaften und womöglich unpopulären Reformen sind notwendig? Und in welche Richtung müssen die ersten Schritte auf einem langen Weg in Richtung Gesundung der Finanzmärkte führen? Die Antworten legt Rajan schlüssig dar und zeigt damit, dass er zu den wichtigsten Stimmen einer neuen Ökonomie gehört.

Raghuram G. Rajan war Chefökonom des Internationalen Währungsfonds und lehrt an der Universität von Chicago. Er ist Absolvent des MIT und einer von bisher nur vier Empfängern des renommierten Fischer Black Prize. Rajan gilt als international anerkannter Experte für die »Zähmung« der Finanzmärkte.

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Leseprobe

Kapitel 1 –
Gebt ihnen Kredite


Jane arbeitet seit 32 Jahren als Sekretärin in einer großen gemeinnützigen Forschungsgesellschaft. Sie war schon in der Schule sehr flink auf der Schreibmaschine und belegte anschließend einige kaufmännische Kurse. Nachdem sie ein Jahr am College studiert hatte, beschloss sie, dass die Kosten einer College-Ausbildung den Nutzen überstiegen. Arbeitsstellen für Schreibkräfte gab es zuhauf und das Gehalt erschien ihr attraktiv. Ihre erste Anstellung bekam sie bei der Forschungsgesellschaft, in der sie zunächst für zwei Vorgesetzte arbeitete. Ihre Hauptaufgaben bestanden darin, Berichte und Forschungspapiere zu tippen, die gewaltigen Papierstapel zu sortieren und abzulegen, die sich ständig weiter auftürmten, und das Telefon für ihre beiden Vorgesetzten zu bedienen.

Im Verlauf der Jahre wurden viele Menschen, die in ähnlichen Positionen wie Jane begonnen hatten, entlassen. Mit der Einführung von Computern – zunächst Großrechner und dann PCs – wurden Tipparbeiten, wie sie bisher von Sekretärinnen erledigt wurden, überflüssig. Vorgesetzte und Manager der unteren und mittleren Führungsebene lernten, ihre eigenen Dokumente zu erstellen. Die Erstellung von Präsentationen und Basisanalysen wurde ausgelagert, manchmal in weit entfernte Länder, in denen die einheimischen Arbeitskräfte die anfallende Arbeit über Nacht erledigten. Die meisten Ordner und Akten wurden elektronisch auf Disketten gespeichert und nicht mehr in klassischen Aktenschränken. Und da Janes Vorgesetzte zunehmend per E-Mail kommunizierten, wurden auch die Telefonanrufe weniger. Die Forschungsgesellschaft arbeitete nicht in einem hoch dynamischen Geschäftsfeld, in dem sie ständig im mündlichen Kontakt mit ihren Kunden stehen musste. So wurde Janes Sekretariatsstelle zunehmend überflüssig, und schließlich wurde ihr gekündigt.

Jane gehört jedoch zu den Menschen, die den Eroberungsfeldzug der Maschinen überlebt haben, und das liegt im Wesentlichen daran, dass sie sich völlig neu ausgerichtet hat. Und so fand sie schnell eine andere Stelle in der Organisation. Nun ist sie eine Art »Problemlöserin« für ihre neuen Chefs, das heißt, sie übernimmt Aufgaben, für die ihre Vorgesetzten keine Zeit haben, wie zum Beispiel die Auswahl von Restaurants und geeigneten Menüs für Geschäftsessen. Außerdem lädt sie Vortragsredner in die Forschungsgesellschaft ein und verwaltet ihre Terminkalender, beschwichtigt wütende Kunden und kümmert sich darum, dass sich jemand ihrer Probleme annimmt, oder sie klärt mit einem hartnäckigen Buchhalter Fragen zu einer unklaren Rechnung, die einer ihrer Vorgesetzten eingereicht hat. Weil sich Jane von einer reinen Schreibkraft zu einer echten Assistentin entwickelt hat und in dieser Funktion Tätigkeiten übernimmt, die keine Maschine ausführen kann, muss sie nun für mehr Vorgesetzte arbeiten, um ein einziges Gehalt zu verdienen – bei der letzten Zählung waren es neun. Die Arbeit ist sehr anstrengend, vor allem weil von allen Seiten Anforderungen an sie gestellt werden, aber Jane ist dankbar, dass sie überhaupt noch Arbeit hat. Außerdem ist ihre Arbeit nun interessanter.

Janes Vorgesetzte haben dagegen gewaltig von der Computer- und Kommunikationsrevolution profitiert. Die Forschungspapiere und Beiträge, die sie schreiben, finden eine wesentlich größere Verbreitung – in der Vergangenheit mussten sie fotokopiert und per Post an eine kleine Liste ernsthaft interessierter Leser versendet werden. Heute dagegen werden sie auf eine Website geladen und können im Handumdrehen von einer Vielzahl von Lesern abgerufen werden. Ihre Präsentationen sind optisch lebendiger und ihre Seminare interessanter, was bedeutet, dass ihr Publikum aufmerksamer zuhört. Regelmäßig erhalten sie Anfragen von wildfremden Menschen, die irgendwo im Netz auf eine Beschreibung ihrer Arbeit gestoßen sind und Janes Vorgesetzte als Vortragsredner, Berater oder Fachexperten engagieren möchten.

Worauf ich hier hinaus will, ist, dass der technologische Fortschritt für unterschiedliche Bevölkerungssegmente sehr unterschiedliche Folgen hatte, selbst für Arbeitnehmer wie Jane, die im Dienstleistungssektor arbeiten – und das ist inzwischen die Mehrheit der arbeitenden Bevölkerung. Routineaufgaben, die von Sekretärinnen und Sachbearbeitern mit Abitur oder sogar College-Erfahrung erledigt wurden, wurden automatisiert. Heute gibt es weitaus weniger Arbeitsstellen, für die das Abitur allein eine ausreichende Qualifizierung ist. Die kreativen Nichtroutinetätigkeiten, die üblicherweise von höher qualifizierten Arbeitnehmern ausgeführt werden, haben dagegen von der Technologie profitiert. Von Vorstandsvorsitzenden, die das jüngste Inventurergebnis ihres Unternehmens auf einen Tastendruck sehen können, bis zu Universitätsprofessoren, deren Präsentationen weltweit elektronisch abrufbar sind, sind der Einfluss und die Reichweite der qualifizierten und kreativen Arbeitnehmer gestiegen.7 Die Technologie hat ihre Produktivität gesteigert und gleichzeitig andere Arbeitskräfte überflüssig gemacht.

Langfristig ist der technologische Fortschritt jedoch gut für alle. Er hat mit mühseligen und monotonen Arbeiten aufgeräumt – es ist mit Sicherheit effizienter, leichter und umweltfreundlicher, ein Dokument in eine allgemein zugängliche Website einzustellen, anstatt viele tausend Briefmarken auf Umschläge zu kleben, die per Post versendet werden und letztlich im Papierkorb landen – und verschafft Arbeitnehmern gleichzeitig die Zeit und die Kapazitäten, um ihre höheren Talente einzusetzen. Kurzfristig kann der technologische Fortschritt jedoch zu extremen Erschütterungen führen, und diese können eine langfristige negative Wirkung entfalten, wenn die Menschen nicht die Mittel besitzen, um sich an die Entwicklungen anzupassen.

Amerika ist es früher schon – das heißt vor dem technologischen Wandel – gelungen, sich an neue Entwicklungen anzupassen. Als die Landwirtschaft Mitte des 19. Jahrhunderts zunehmend von der Industrie verdrängt wurde, entstand mit der Einführung einer elementaren Schulbildung in den USA die am besten ausgebildete Bevölkerung der Welt. Und als die Fabrikarbeit anspruchsvoller wurde und der Bedarf an Büroangestellten wuchs, die die unzähligen Aktivitäten in den neu entstehenden Unternehmen mit ihren vielen unterschiedlichen Abteilungen erledigten, stieg auch die Nachfrage nach Arbeitskräften mit einem höheren Schulabschluss. Anfang des 20. Jahrhunderts setzte die Highschool-Bewegung ein und ließ die breit qualifizierte Arbeitnehmerschaft entstehen, die in Amerikas Fabriken und Büros gebraucht wurde. Im Jahr 1910 besaß weniger als ein Zehntel der amerikanischen Arbeitnehmer einen Highschool-Abschluss. Im Jahr 1970, als Jane ihre berufliche Laufbahn begann, waren es mehr als drei Viertel.8

Während sich die USA früher sehr erfolgreich an Veränderungen angepasst haben, konnte das amerikanische Schul- und Ausbildungssystem laut den beiden Harvard-Ökonomen Claudia Goldin und Lawrence Katz dieses Mal nicht mit der Entwicklung der Technologie Schritt halten. Die eingangs beschriebenen technologischen Fortschritte bedeuten, dass viele Arbeitnehmer heute einen College-Abschluss brauchen, um die Tätigkeiten, für die sie eingestellt wurden, ausüben zu können. Das Angebot an College-Absolventen hat jedoch nicht mit der Nachfrage mitgehalten – tatsächlich ist sogar der Anteil an Highschool-Absolventen in jedem Geburtenjahrgang seit den 1970er-Jahren geringfügig gesunken.9 Diejenigen, die das Glück haben, mindestens einen Bachelor-Abschluss zu besitzen, konnten einen rasanten Anstieg ihrer Gehälter verzeichnen, da die Nachfrage nach Arbeitskräften mit einem akademischen Abschluss höher ist als das Angebot. Diejenigen jedoch, die keinen höheren Abschluss besitzen, und das sind laut Volkszählung von 200810 sieben von zehn Amerikanern, mussten erleben, wie ihre Löhne und Gehälter stagnierten oder sogar sanken.

Wenn diese Entwicklung mit einem schwachen sozialen Sicherheitsnetz und einer anhaltenden Arbeitsplatzunsicherheit einhergeht, weil immer mehr Arbeitsplätze Gefahr laufen, mit dem nächsten technologischen Fortschritt oder der nächsten Auslagerungswelle überflüssig zu werden, wird es für viele Amerikaner immer schwerer, optimistisch in die Zukunft zu blicken. Zwar haben sich die Amerikaner bei ihrer Suche nach neuen Chancen im Großen und Ganzen stets sehr flexibel gezeigt – oft waren sie bereit, ihre Wurzeln aufzugeben und für eine neue Arbeitsstelle in einen anderen Bundesstaat zu ziehen –, jedoch sind die Anforderungen, die an sie gestellt werden, inzwischen um ein Vielfaches höher. Viele müssen auf die Schulbank zurückkehren, um die Lücken einer mangelhaften Highschool-Ausbildung zu schließen, bevor sie ein Universitätsstudium aufnehmen können – und das für die ferne und möglicherweise wenig wahrscheinliche Aussicht auf eine Arbeitsstelle. Nur wenige besitzen die Stärke und den Willen, die damit verbundenen Belastungen auf sich zu nehmen. Die alleinerziehende Mutter von zwei Kindern, die mit zwei schlecht bezahlten Jobs mühselig über die Runden kommt, hat dazu einfach nicht die Möglichkeit.

Die Lücke, die aufgrund der Mängel in der Quantität und Qualität des Bildungsangebots zwischen der wachsenden Nachfrage und dem ungenügenden Angebot an hoch qualifizierten Arbeitskräften klafft, ist nur ein Grund für das zunehmende Einkommensgefälle, wenngleich vielleicht der wichtigste. Die zunehmende Ungleichheit führt in der Politik zu...

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