1. Die Leiden des jungen Werther
Das Erscheinungsjahr des ‹Werther› – 1774 – ist ein wichtiges Datum, nicht nur für die deutsche Literaturgeschichte, sondern auch für die Weltliteratur. Die kurze, aber außerordentlich bedeutungsvolle philosophische und literarische Hegemonie Deutschlands, die zeitweilige Ablösung Frankreichs von der ideologischen Führung auf diesen Gebieten tritt mit dem Welterfolg des ‹Werther› zum erstenmal offenkundig zutage. Freilich hat die deutsche Literatur schon vor dem ‹Werther› Werke von weltliterarischer Bedeutung hervorgebracht. Es genügt, an Winckelmann, an Lessing, an Goethes ‹Götz von Berlichingen› zu erinnern. Die außerordentlich weite und tiefe Wirkung des ‹Werther› in der ganzen Welt hat aber diese führende Rolle der deutschen Aufklärung klar ins Licht gestellt.
Der deutschen Aufklärung? Hier stutzt der Leser, der an den Literaturlegenden der bürgerlichen Geschichte und der von ihnen abhängigen Vulgärsoziologie ‹geschult› wurde. Ist es ja ein Gemeinplatz sowohl der bürgerlichen Literaturgeschichte wie der Vulgärsoziologie, daß Aufklärung und ‹Sturm und Drang›, insbesondere der ‹Werther›, in ausschließendem Gegensatz zueinander stehen. Diese Literaturlegende beginnt bereits mit dem berühmten Buch der Romantikerin Frau von Staël über Deutschland. Sie wird dann auch von den bürgerlich-progressiven Literaturhistorikern übernommen und dringt durch die Vermittlung der bekannten Schriften von Georg Brandes in die pseudomarxistische Vulgärsoziologie ein. Es ist selbstverständlich, daß bürgerliche Literaturhistoriker der imperialistischen Periode, wie Gundolf, Korff, Strich usw., an dieser Legende begeistert weiterbauen. Ist sie doch das beste ideologische Mittel, eine chinesische Mauer zwischen Aufklärung und deutscher Klassik aufzurichten, die Aufklärung zugunsten der späteren reaktionären Tendenzen in der Romantik herabzusetzen.
Ist für eine Geschichtslegende ein so tiefes ideologisches Bedürfnis vorhanden wie der Haß der reaktionären Bourgeoisie gegen die revolutionäre Aufklärung, so ist es klar, daß die Zusammenklitterer solcher Geschichtslegenden sich überhaupt nicht um die offenkundigen Tatsachen der Geschichte kümmern, daß es ihnen ganz gleichgültig ist, wenn ihre Legenden den primitivsten Tatsachen ins Gesicht schlagen. Dies ist in der Wertherfrage ganz offenkundig der Fall. Denn auch die bürgerliche Literaturgeschichte ist gezwungen, in Richardson und Rousseau literarische Vorläufer des ‹Werther› anzuerkennen. Freilich ist es für das geistige Niveau der bürgerlichen Literaturhistoriker bezeichnend, daß die Feststellung des literarischen Zusammenhanges zwischen Richardson, Rousseau und Goethe unvermittelt neben der Behauptung des diametralen Gegensatzes zwischen ‹Werther› und der Aufklärung bestehen kann.
Die intelligenteren Reaktionäre spüren freilich etwas von diesem Widerspruch. Sie wollen aber die Frage dadurch lösen, daß sie bereits Rousseau in einen ausschließenden Gegensatz zur Aufklärung bringen, aus ihm einen Ahnherrn der reaktionären Romantik machen. Bei Richardson selbst versagt aber auch diese ‹Weisheit›. Richardson ist ein typischer bürgerlicher Aufklärer gewesen. Sein großer europäischer Erfolg spielte sich gerade in der progressiven Bourgeoisie ab; die ideologischen Vorkämpfer der europäischen Aufklärung, wie Diderot und Lessing, waren die begeisterten Verkünder seines Ruhmes.
Was ist nun der ideologische Inhalt dieser Geschichtslegende? Welches ideologische Bedürfnis der Bourgeoisie des 19. Jahrhunderts soll sie befriedigen? Dieser Inhalt ist außerordentlich dürftig und abstrakt, mag er in einzelnen Darlegungen mit noch so pompösen Phrasen aufgeputzt sein. Es handelt sich darum, daß die Aufklärung angeblich nur den ‹Verstand› berücksichtige. Der deutsche ‹Sturm und Drang› sei dagegen eine Revolte des ‹Gefühls›, des ‹Gemüts›, des ‹Triebes› gegen die Tyrannei des Verstandes. Diese kahle und leere Abstraktion dient dazu, die irrationalistischen Tendenzen der bürgerlichen Dekadenz zu verherrlichen, jede Tradition der revolutionären Periode der bürgerlichen Entwicklung zu verschütten. Bei liberalen Literaturhistorikern vom Typus Brandes’ erscheint diese Theorie noch in einer eklektischen, kompromißhaften Weise: die ideologische Überlegenheit der nicht mehr revolutionären Bourgeoisie des 19. Jahrhunderts über die revolutionäre Periode soll darin aufgezeigt werden, daß die spätere Entwicklung ‹konkreter› sei, daß sie auch das ‹Gemüt› usw. berücksichtige. Die offenen Reaktionäre wenden sich bereits ohne jeden Vorbehalt gegen die Aufklärung, verleumden sie mit offener Schamlosigkeit.
Worin bestand das Wesen des berüchtigten ‹Verstandes› in der Aufklärung? Klarerweise in einer rücksichtslosen Kritik der Religion, der theologisch verseuchten Philosophie, der Institutionen des Feudalabsolutismus, der feudalreligiösen Gebote der Moral usw. Daß dieser rücksichtslose Kampf der Aufklärer für die reaktionär gewordene Bourgeoisie ideologisch untragbar geworden ist, ist leicht zu verstehen. Folgt aber daraus, daß die Aufklärer, die als ideologische Avantgarde der revolutionären Bourgeoisie in Wissenschaft, Kunst und Leben nur das anerkannten, was einer Prüfung durch den menschlichen Verstand, einer Konfrontierung mit den Tatsachen des Lebens standhielt, irgendeine Verachtung oder Unterschätzung des menschlichen Gefühlsleben zeigten? Wir glauben, daß bereits die deutlich gestellte Frage die Abstraktheit und Unhaltbarkeit solcher reaktionären Konstruktionen klar bezeugt. Nur vom Standpunkt des nachrevolutionären Legitimismus, für welchen jede royalistische Tradition eine sentimentale, verlogene Gefühlsbetontheit erhält, bei welchem sich die unvolkstümlichen Traditionen der Aufklärung mit dieser unwahren Sentimentalität verschmelzen, nur von diesem Standpunkt aus scheint eine solche Konstruktion einleuchtend. Im Gegensatz zur bürgerlichen Literaturgeschichte und Vulgärsoziologie, die etwa Chateaubriand von Rousseau und Goethe herleitet, spricht Marx über ‹… diesen Schönschreiber, der aufs widerlichste den vornehmen Skeptizismus und Voltairianismus des 18. Jahrhunderts mit dem vornehmen Sentimentalismus und Romantizismus des 19. vereint›.
In der Aufklärung selbst steht die Frage vollkommen anders. Wenn – um nur ein Beispiel zu wählen, da unser Raum zur breiten Auseinandersetzung viel zu beschränkt ist – Lessing gegen die Theorie und Praxis des Tragikers Corneille kämpft, von welchem Standpunkt tut er es? Er geht gerade davon aus, daß die Konzeption des Tragischen bei Corneille unmenschlich ist, daß Corneille das menschliche Gemüt, das menschliche Gefühlsleben nicht berücksichtigt, daß er, befangen in den höfisch-adligen Konventionen seiner Zeit, tote und rein verstandesmäßige Konstruktionen bietet. Der große literaturtheoretische Kampf solcher Aufklärer wie Diderot und Lessing ging gegen die adeligen Konventionen. Sie bekämpfen diese auf der ganzen Linie, sowohl ihre verstandesmäßige Kälte wie ihre Vernunftwidrigkeit. Zwischen Lessings Kampf gegen diese Kälte der tragédie classique und seiner Proklamierung der Rechte des Verstandes, etwa in der Frage der Religion, besteht nicht der geringste innere Widerspruch. Denn jede große gesellschaftlich-geschichtliche Umwälzung bringt einen neuen Menschen hervor. In den ideologischen Kämpfen handelt es sich also um den Kampf für diesen konkreten neuen Menschen, gegen den alten Menschen der versinkenden und verhaßten alten Gesellschaftsordnung. Niemals aber geht es in Wirklichkeit (nur in der apologetischen Phantasie reaktionärer Ideologen) um den Kampf zwischen einer abstrakten und isolierten Eigenschaft des Menschen gegen eine andere isolierte und abstrakte Eigenschaft (Trieb gegen Verstand).
Erst die Zerstörung solcher Geschichtslegenden, solcher in der Wirklichkeit nie existierenden Widersprüche eröffnet den Weg zur Erkenntnis der wirklichen inneren Widersprüche der Aufklärung. Diese sind die ideologischen Widerspiegelungen der Widersprüche der bürgerlichen Revolution, ihres sozialen Inhalts und ihrer treibenden Kräfte, der Widersprüche der Entstehung, des Wachstums und der Entfaltung der bürgerlichen Gesellschaft selbst. Und diese Widersprüche sind im gesellschaftlichen Leben selbst natürlich nicht starr und ein für allemal gegeben. Sie tauchen vielmehr in außerordentlich ungleichmäßiger Weise, der Ungleichmäßigkeit der gesellschaftlichen Entwicklung entsprechend, auf, erhalten für eine bestimmte Entwicklungsstufe eine scheinbar befriedigende Lösung, um bei Weiterentwicklung der Gesellschaft auf höherer Stufe in verstärkter Form wieder zu erscheinen. Jene literarischen Polemiken unter den Aufklärern, jene Kritiken der Belletristik der Aufklärungszeit von den Aufklärern selbst, aus deren abstrahierender Entstellung die reaktionäre Literaturgeschichte ihre ‹Argumente› schöpft, sind also nur Spiegelbilder der Widersprüche der gesellschaftlichen Entwicklung selbst, Kämpfe einzelner Strömungen innerhalb der Aufklärung, Kämpfe einzelner Stufen der Aufklärung.
Mehring hat als erster die reaktionären Geschichtslegenden über den Charakter von Lessings Kampf gegen Voltaire zerstört. Er hat überzeugend nachgewiesen, daß Lessing von einer höheren Stufe der Aufklärung die zurückgebliebenen, kompromißhaften Züge Voltaires kritisiert hat. Besonders interessant ist diese Frage in bezug auf Rousseau. Bei Rousseau treten nämlich die ideologischen Seiten der plebejischen Durchführung der bürgerlichen Revolution zum erstenmal in dominierender Weise hervor und sind, der inneren Dialektik dieser Bewegung entsprechend, oft...