1. Zeitlage
Die Niederlage der bürgerlich-demokratischen Revolution im Jahre 1848 bedeutet eine große Wendung in der deutschen Literatur. Wir heben hier nur zwei Momente hervor: erstens den Abbruch jener revolutionär-demokratischen Entwicklungslinie, die in der Vorbereitungszeit der Großen Französischen Revolution ihren Anfang hat und in den vierziger Jahren ihren Gipfelpunkt erreichte. Politisch läßt sich diese Wendung dadurch am kürzesten charakterisieren, daß, während die Demokratie vor 1848 durch Erringen der Freiheit die nationale Einheit Deutschlands herstellen wollte, nunmehr die geistigen Führer des sich immer stärker zum Nationalliberalismus entwickelnden Bürgertums der ‹Einheit› den unbedingten Vorrang vor der ‹Freiheit› auch in der zeitlichen Aufeinanderfolge geben. Das heißt, sie bereiten die Kapitulation des deutschen Bürgertums vor dem Bismarck-Hohenzollernschen Preußen vor.
Diese Entwicklung kulminiert im patriotischen Jubel der Siege über Frankreich. Wenn man aber die geistige Entwicklung dieser Zeit näher untersucht, so sieht man, daß dieser Jubel zwar insofern objektiv berechtigt war, als die militärischen Siege der Hohenzollern tatsächlich die Erfüllung der zentralen Zielsetzung der bürgerlichen Revolution in Deutschland, nämlich die Herstellung der nationalen Einheit, bringen, die Art, wie diese Sehnsucht erfüllt wird, jedoch zugleich einen Bruch mit den besten sozialen und ideologischen, politischen und künstlerischen Traditionen Deutschlands bedeutet. Darum werden diese Siege geistig-seelisch vorbereitet teils durch eine prinzipienlose Anpassung an das Hohenzollern-Preußen, teils – bei den ehrlichsten und besten der damaligen geistigen Wortführer – durch eine tiefe Depression, eine von Erbitterung erfüllte Resignation. Nicht zufällig sind die Jahrzehnte nach der Niederlage der Revolution die Zeit der philosophischen Herrschaft Schopenhauers.
Zweitens bringt diese Periode den ersten großen Aufschwung des deutschen Kapitalismus. Aber die im Vergleich zu den westlichen Ländern verspätete Entwicklung in Deutschland nimmt diesem Aufschwung jene düster vorschreitende Großartigkeit, die sie in England und Frankreich hatte. Hier wie dort bringt die Verwandlung halbpatriarchalischer Verhältnisse in kapitalistische eine ungeheure Verelendung breiter werktätiger Massen mit sich. Während aber die Entstehungsgeschichte des Kapitalismus in England und Frankreich ein Gewitter ist, das die morschen Überreste des Mittelalters wegfegt, werden im Deutschland der Reaktion auch die elendesten und beengendsten Überbleibsel der vorkapitalistischen Zeit erhalten; nur das verschwindet allmählich, was unmittelbar ökonomisch mit der Entwicklung des Kapitalismus unvereinbar ist. Der deutsche Kapitalismus zersetzt jene primitiveren gesellschaftlichen Verhältnisse, die im 17. Jahrhundert in England, im 18. in Frankreich den Schwung der demokratischen Revolution sozial ermöglicht haben und die in Deutschland die gesellschaftliche Grundlage der Entwicklung der Philosophie von Leibniz bis Hegel, der Literatur von Lessing bis Heine gebildet haben.
Die wirtschaftliche und politische Rückständigkeit Deutschlands hat die Entwicklung der Literatur bestimmt. Bei der sozialen Rückständigkeit und nationalen Zerrissenheit konnten im Leben keine Handlungen entstehen, in welchen große nationale und soziale Probleme sich unmittelbar in Einzelschicksalen hätten verkörpern können. In der Literatur der westlichen Länder verwandelt sich mit der wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Erstarkung der kapitalistischen Gesellschaft die abstrakt-phantastische Allgemeinheit der Gesellschaftskritik (etwa bei Swift oder Voltaire) immer stärker in eine großzügige realistische Wiedergabe des alltäglichen Lebens der bürgerlichen Gesellschaft, und diese Entwicklung erreicht in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts bei Balzac und Dickens ihren Höhepunkt. Der Roman als typische Form des bürgerlichen Lebens wird notwendig immer städtischer, hauptstädtischer, da die Hauptstadt die tiefsten und typischsten Probleme der ganzen Nation in der Wirklichkeit zusammenfaßt. Eine entsprechende Entwicklung ist für Deutschland vor der Vereinigung unmöglich. Aber auch nachdem die politische Einheit der Nation erreicht und Berlin zur wirklichen Großstadt geworden ist, bleibt hier als schädliches Erbe, wie diese Einheit erreicht wurde. Wilhelm Raabe sagt treffend: ‹Das französische Gewissen sitzt in Paris, das englische in London, aber das deutsche noch lange nicht in Berlin.›
Es wäre aber einseitig und darum falsch, an der Rückständigkeit des vorrevolutionären Deutschland nur die negativen Seiten für Kultur und Literatur zu sehen. Der junge Marx hat mit Recht auf den hinter der Zeit zurückgebliebenen Charakter der deutschen Zustände vor 1848 hingewiesen und gezeigt, daß auch ihre vollständige Negation nur ein 1789 im Vergleich zur westeuropäischen Entwicklung bedeuten würde. Er hat aber in denselben Betrachtungen gezeigt, daß das geistige Leben im damaligen Deutschland, insbesondere die deutsche Philosophie, Zeitgenosse der großen europäischen Ereignisse dieser Periode gewesen ist.
Der Rückständigkeit der kapitalistischen Entwicklung in Deutschland entsprechend, gibt es hier nichts, was der Entwicklung der Volkswirtschaftslehre in England von Petty bis Ricardo, in Frankreich von Boisguillebert bis Sismondi angemessen wäre. Gleichzeitig aber entsteht in Deutschland die klassische Philosophie von Leibniz bis Hegel, die die allgemeinen Gesetze des Gegensatzes von Sein und Bewußtsein in tiefem, wenn auch oft verborgenem Zusammenhang mit der Entdeckung der Widersprüche der bürgerlichen Gesellschaft auf hohem wissenschaftlichem Niveau ausspricht. Sie ist der höchste gedankliche Ausdruck der bürgerlichen Denkweise überhaupt.
Diese Großzügigkeit, diese konkrete Allgemeinheit der höchsten Probleme des bürgerlichen Humanismus zeigt die Literatur der klassischen Periode Deutschlands dichterisch. Sie ist ihrem Gehalt nach eine vollkommen zeitgemäße Literatur. Daß Deutschland dennoch hinter der Zeit zurückgeblieben ist, drückt sich in der spezifischen Formgebung der Literatur aus, darin, daß ihr Realismus das Leben der bürgerlichen Gesellschaft in Deutschland nicht direkt im Sinne des französisch-englischen Realismus dieser Zeit gestalten kann; darin, daß besondere Formen des – monumentalen, phantastischen usw. – Realismus gefunden werden müssen, um diese konkrete Allgemeinheit der zeitgenössischen Probleme des Humanismus in eine dichterisch-sinnfällige Form zu gießen. Es entsteht also eine dichterisch-denkerische, gestaltende Vorwegnahme und Verallgemeinerung der deutschen Entwicklung, deren großartige Beispiele die Epik Goethes, die historische Monumentalität der Dramatik Goethes und Schillers und die Entstehung der modernen Novelle, insbesondere bei E.Th.A. Hoffmann, sind. Je mehr sich jedoch die deutschen Verhältnisse entwickeln, desto unhaltbarer wird dieser Stil, desto mehr entstehen auflösende Tendenzen in der Richtung auf einen Realismus im westeuropäischen Sinne. Je mehr die objektiven Bedingungen einer bürgerlich-demokratischen Revolution in Deutschland herangereift sind, desto stärker werden diese Bestrebungen. Die literarischen Kämpfe der dreißiger, vierziger Jahre lassen sich fast ausnahmslos auf diese Frage zurückführen. Wenn Heine vom ‹Ende der Kunstperiode› in Deutschland spricht, so meint er zweifellos eine solche neue Literaturentwicklung.
Freilich hat die noch immer vorhandene wirtschaftliche und soziale Rückständigkeit Deutschlands die Entstehung dieses Realismus stark gehemmt. Heines Werk und Immermanns Romane, die bedeutendsten Versuche in dieser Richtung, tragen doch mehr den Stempel einer Selbstauflösung der ‹Kunstperiode› an sich als den einer neuen realistischen Kunst. Insbesondere bei Immermann, der sehr bewußt und energisch in dieser Richtung gearbeitet hat und in der ‹Oberhof›-Episode seines ‹Münchhausen› bahnbrechend für die deutsche Literatur geworden ist, zeigt sich als Gegenstück Dürftigkeit und übertriebene Phantastik in der dichterischen Verallgemeinerung, ein Zeichen dafür, daß er die konkreten gesellschaftlichen Probleme noch immer nicht direkt realistisch bewältigen konnte.
Der Zusammenbruch der Revolution von 1848/49 bedeutet für Deutschland nicht nur den Zusammenbruch der klassischen Überlieferungen in Philosophie und Literatur, sondern zugleich das Absterben jener gesunden Keime einer neuen Blüte, die sich in der Vorbereitungszeit der Revolution, trotz ihrer damaligen Problematik, auf allen Gebieten gezeigt hat. So wird für Deutschland Feuerbach der Abschluß der klassischen Philosophie.
Die noch heute fühlbare, verhängnisvolle Zweiteilung der deutschen Literatur beginnt mit der Niederlage der achtundvierziger Revolution. Wir wissen, daß das Zeitalter der Reaktion zugleich das eines starken kapitalistischen Wachstums gewesen ist, daß die Ausbreitung und der Sieg des Kapitalismus in Deutschland nur einen Umbau und damit letzten Endes eine Festigung der veralteten politischen Struktur mit sich gebracht haben. Da diese Entwicklung den Verrat der deutschen Bourgeoisie an der bürgerlichen Revolution, ihre Einwilligung in die politisch-reaktionäre Lösung der nationalen Einheit voraussetzt, drücken dieser Kompromiß und diese Kapitulation ihren Stempel auf die ganze Literaturentwicklung.
Es entsteht einerseits eine Literatur des sich kapitalisierenden Deutschland, von Gutzkow über Freytag und Spielhagen bis zur Flachheit und Hohlheit der Berliner Romane Paul Lindaus. Indem diese Literatur den Klassenkompromiß der deutschen Bourgeoisie mitmacht, bejaht, kann sie die Entstehung des Kapitalismus...