I
Reykjavík
Vorstadtidylle – Viele Beben, ein Vulkan – Wie Vater gegen Eusébio spielte – Handball oder Fußball? – Theódór, Þorbjörn und die anderen – Der Fluch der Niederlage – Geschäftsideen – Siegermentalität
Wir hatten eine Idee, mein Bruder Lárus und ich. Wir wollten Geschäftsleute werden. Also überlegten wir nicht lange und gründeten eine Firma. Wir gaben ihr den Namen Sigur. Das ist das isländische Wort für Sieg und drückte ziemlich treffend unsere Ambitionen aus. Wir meldeten Sigur ordnungsgemäß beim Handelsregister an. Als Unternehmenszweck schrieben wir: Die Träume der Eigentümer verwirklichen. Ich erinnere mich nicht genau, aber Lárus meint, die Formulierung sei so genehmigt worden. Erst später ersetzten wir sie durch eine, die den Hauptzweck unseres Geschäfts mit »Investment« beschrieb.
Den Firmensitz von Sigur richteten wir in unserem Elternhaus ein. Das stand – und steht noch immer – in Laugardalur, einem für isländische Verhältnisse recht grünen Stadtteil im Nordosten von Reykjavík. Das Haus, ein klassisches Einfamilienhaus mit etwa hundertfünfzig Quadratmetern Wohnfläche, hatte einst unser Großvater, der väterlicherseits, gebaut. Nicht wie man das heute sagt, obwohl man in Wirklichkeit bauen lässt, sondern mit den eigenen Händen, Stein für Stein. Eines der Zimmer im Haus wurde damals als Abstellkammer genutzt. Das richteten wir kurzerhand als Büro her. Irgendwo trieben wir ein Regal auf, das stellten wir an eine freie Wand. In die Mitte des Raums schoben wir einen alten Holztisch und zwei Stühle. Auf der Tischplatte, ebenfalls in der Mitte, bekam unsere größte Errungenschaft ihren Ehrenplatz: ein nagelneues Faxgerät. Das Internet, wie man es heute kennt, steckte zu der Zeit noch in der Startphase. Bei uns hatte das niemand, zumindest keiner, den wir kannten. Das Faxgerät hatte ich beschafft. Es war mein Teil des Stammkapitals, das ich in unser kleines Unternehmen einbrachte. Lárus, der im Gegensatz zu mir bereits verdiente, steuerte Geld bei.
Wir schrieben das Jahr 1993. Ich war zwanzig, Lárus zwei Jahre älter. Er war gerade aus Akureyri zurückgekehrt, einer Stadt im Norden Islands, wo er für zwei Spielzeiten bei der ersten Mannschaft von Þór Akureyri im Tor gestanden hatte. Þór spielte damals in der höchsten isländischen Fußball-Liga. Ich hingegen hatte mich für Handball entschieden, obwohl ich zuvor – parallel zum Handball – auch Fußball gespielt und es mit sechzehn Jahren bis in die isländische Junioren-Nationalmannschaft geschafft hatte.
Mein Heimatverein – beim Fußball wie beim Handball – war Valur Reykjavík. Dort hatte ich gemeinsam mit Lárus angefangen, als ich ungefähr acht Jahre alt gewesen war. Das Vereinsgelände von Valur lag viereinhalb Kilometer von unserem Zuhause entfernt. Es gab andere Sportklubs, die schneller und zu Fuß erreichbar gewesen wären. Da aber unsere Eltern schon bei Valur gespielt hatten, war es für uns selbstverständlich, die Familientradition fortzusetzen.
Die Messlatte lag durch die beiden ziemlich hoch. Mutter war Handballerin gewesen, sie hatte als Linksaußen oder in der Mitte gespielt. Mit ihrer Mannschaft brachte sie das seltene Kunststück fertig, zehn Jahre hintereinander die isländische Meisterschaft zu gewinnen – jeweils in der Altersklasse, in der sie gerade war. Wer weiß, zu welchem Ruhm sie das Handballspielen noch geführt hätte, wäre sie nicht mit einundzwanzig schwanger geworden. Zwar kehrte sie nach Lárus’ Geburt und später auch nach meiner aufs Handballparkett zurück, aber ihr Fokus war in der neuen Rolle als Mutter natürlich ein anderer geworden. Bjarki, mein jüngerer Bruder, soll an dieser Stelle nicht verschwiegen werden. Er wurde allerdings erst sieben Jahre nach mir geboren, zu diesem Zeitpunkt hatte Mutter ihre Handballkarriere bereits beendet.
Meine Eltern, Lárus und ich (vorn). Schon als Zweijähriger war ich ganz begeistert von meinem Ball
© Privatarchiv Ragnheiður Lárusdóttir
Unser Vater hat es als Sportler sogar zu einiger Berühmtheit gebracht. In Island ist er eine Legende. Wobei er das selbst niemals von sich behaupten würde, das entspricht nicht seinem Naturell. Dabei muss er ein Multitalent gewesen sein. Er fing als Leichtathlet an, wechselte zum Handball, spielte recht erfolgreich, bis er für den Fußball entdeckt wurde – durch Zufall, während eines Schulfußballspiels, bei dem er als Torwart für die Lehrermannschaft einsprang. Da war er neunzehn oder zwanzig, also nicht gerade in einem Alter, in dem man eine Fußballerkarriere startet. Aber das Verblüffende kommt noch: Er kämpfte sich nicht nur bei Valur bis in die erste Mannschaft empor, er wurde einige Jahre später sogar ins Nationalteam von Island berufen.
Nun sind wir nicht unbedingt als die stärkste Fußballnation bekannt. Die diesjährige Europameisterschaft in Frankreich war das erste große Turnier, für das sich eine isländische Nationalmannschaft jemals qualifizieren konnte. Wobei das Team die Rolle des Underdogs immer besser zu spielen versteht und auf diese Weise für einige Sensationen sorgt. Man denke nur an die beiden Siege gegen die Niederlande in der Qualifikation. Und vor allem daran, was die Mannschaft dann bei der Europameisterschaft selbst zustande brachte: Die hoch favorisierten Portugiesen mit einem Unentschieden düpiert. Ich war bei dem Spiel im Stadion. Die Jungs fighteten wie früher die Wikinger. Und dann erst das Spiel gegen Österreich! Ich wäre vor dem Fernseher beinahe gestorben. In der allerletzten Sekunde der Nachspielzeit der Siegtreffer zum 2 : 1, der den Einzug ins Achtelfinale perfekt machte. Als Gruppenzweiter wohlgemerkt, vor Portugal. Es erschien einem fast wie ein Traum. Ganz zu schweigen von der Partie gegen England – kaum zu glauben, dass das wirklich passiert ist: Das kleine Island schickte die Mutternation des Fußballs nach Hause. Dass uns die Franzosen dann im Viertelfinale vorführten – geschenkt. Sicher war das keine Sternstunde, aber wie oft hat es das bei einem solchen Turnier gegeben, dass ein Neuling bis ins Viertelfinale vorstieß? Unsere Mannschaft sollte einen Orden bekommen. Über die Tage von Frankreich wird man in Island noch in hundert Jahren reden.
Solche Nadelstiche wie gegen Portugal, Österreich oder England, die vor allem durch einen unbändigen Willen gelingen, sind eine Spezialität der Isländer. Damit haben sie früher schon so manchen Favoriten gepiesackt, wenn auch nicht in dieser Dimension. Zu Zeiten meines Vaters zum Beispiel die Nationalmannschaft der DDR, die als Olympiadritter von 1972 weitaus stärker eingeschätzt wurde als Island, aber durch ein überraschendes Unentschieden in Magdeburg und eine noch überraschendere Niederlage in Reykjavík aus der Qualifikation für die Europameisterschaft 1976 geschossen wurde. Bei dem Spiel in Reykjavík gelang meinem Vater ein Abstoß, an den sich die älteren Fußballfans in Island bis heute erinnern: Die Ostdeutschen hatten einen Angriff abgeschlossen, der Ball war neben seinem Tor gelandet. Blitzschnell schnappte er sich das Leder, um es mit einem kraftvollen Schuss Richtung gegnerisches Tor zu befördern. Der Ball landete bei Ásgeir Sigurvinsson, der ihn Sekunden später im Netz des DDR-Keepers Jürgen Croy unterbrachte. Ásgeir, den sie in Island als Jahrhundert-Fußballer verehren, stand damals als einer der ersten isländischen Fußballer im Ausland, bei Standard Lüttich, unter Vertrag. Später ging er zu Bayern München und zum VfB Stuttgart, mit dem er 1984 sogar Deutscher Meister wurde.
Und noch zwei andere Begegnungen, an denen mein Vater beteiligt war, gingen in die Geschichtsbücher des isländischen Fußballs ein. Die erste hielt lange – ich glaube, für mehr als vier Jahrzehnte – den Rekord für die meisten Zuschauer bei einem Spiel in Island. Es fand am 18. September 1968 statt, im Laugardalsvöllur, damals wie heute unser Nationalstadion. Dieses Datum nimmt jeder, der bei Valur trainiert – ob Fußball, Handball oder Basketball –, früher oder später auf wie Muttermilch. Denn obwohl es kein Länderspiel war, wurde es ein Ereignis von nationaler Bedeutung. Das Interesse war gigantisch. Bereits Stunden bevor die Eintrittskarten verkauft wurden, standen Hunderte Fußballfans Schlange. Nach nur fünfundfünfzig Minuten waren alle Tickets weg. Was neben der Absicht, die einheimische Mannschaft tatkräftig unterstützen zu wollen, zu einem nicht geringen Teil wohl auch an dem prominenten Kontrahenten gelegen haben dürfte: Benfica Lissabon.
Valur war im Europacup der Landesmeister, der heutigen Champions League, gegen den portugiesischen Serienmeister gelost worden. Benfica allein besaß eine ungeheure Strahlkraft, die durch einen berühmten Spieler jedoch noch um ein Vielfaches verstärkt wurde: Eusébio da Silva Ferreira, der »Schwarze Panther«, einer der besten Fußballer aller Zeiten. In Portugal das Sportidol schlechthin, die Menschen dort verehren ihn bis heute, über seinen Tod hinaus, wie einen Gott. Jemanden seines Kalibers verschlug es nicht oft nach Island. Einmal im Leben Eusébio Fußball spielen – ach, was sage ich? – zaubern sehen. Ungefähr das müssen sich meine Landsleute damals gedacht haben.
Bis das Spiel an diesem Septemberabend um 18.15 Uhr angepfiffen wurde, waren 18 309 Zuschauer ins Stadion gepilgert, so...