1. Probleme mit der Diagnose ADHS
Ein Weiser wacht über seine Aufmerksamkeit als sein kostbarstes Gut.
Dhammapada 26
Malcolm kommt mit seinem Vater zu mir in die Praxis; ich soll seinen Sohn auf ADHS testen. „Irgendetwas ist nicht in Ordnung mit meinem Kind“, sagt er. „Ich schaffe es, morgens allein aufzuwachen, mich anzuziehen, zu frühstücken, rechtzeitig an meinem Arbeitsplatz zu sein und einen ganzen Arbeitstag hineinzupacken, und er schafft es anscheinend nicht einmal, in der Früh seine Schuhe anzuziehen. Wie kann das sein?“ Währenddessen sitzt Malcolm still da, starrt aus dem Fenster und fragt sich, wann das alles vorüber ist, damit er rechtzeitig zu Hause sein Lego-Raumschiff fertigbauen kann.
Seit Jahrtausenden lernen Kinder auf natürliche Art und Weise. Die angeborenen Talente eines Kindes führten früher dazu, dass jemand es zu sich in die Ausbildung nahm. Dort sah es dem Meister bei der Arbeit zu und probierte sie danach selbst. Erst in den letzten hundert Jahren stecken wir Kinder in Klassenzimmer und erwarten von ihnen, dass sie alle durch Zuhören auf exakt die gleiche Art lernen. Notgedrungen setzen wir Standards, nach denen wir allen Kindern das Recht auf Bildung garantieren können. Das ist ein wunderbarer Weg, Kinder mit ganz verschiedenen Informationen in Kontakt zu bringen, zu denen sie sonst keinen Zugang hätten, doch dieses Vorgehen hat auch eine Kehrseite. Wie können wir erwarten, dass alle Kinder auf die gleiche Art aufpassen? Das gleicht ein wenig der Erwartung, alle Tomatenpflanzen würden identisch wachsen. Angesehene Wissenschaftler wie Howard Gardner haben Pionierarbeit geleistet mit der Beschreibung, auf welch vielfältige Weisen wir lernen. Dennoch stecken wir Kinder immer noch in ein und dieselbe Schublade. Und je kleiner die Schublade wird, desto mehr Kinder fallen heraus.
1.1 Die ADHS-Epidemie
Die Vereinigung der Psychiaterinnen und Psychiater in Amerika (American Psychiatric Association) definiert die Aufmerksamkeitsdefizit- / Hyperaktivitätsstörung als die Unfähigkeit, sich zu konzentrieren, was sich in einer Mischung aus Ablenkbarkeit, Impulsivität und bisweilen Hyperaktivität äußert (2000). Wir wissen zwar nicht, bei wie vielen Kindern exakt ADHS diagnostiziert wurde, doch die Zahl ist eindeutig in die Höhe geschnellt. Die Centers for Disease Control and Prevention[2] schätzten, dass in den USA im Jahr 2007 mindestens 9,5 Prozent aller Kinder im schulpflichtigen Alter zu diesem Zeitpunkt oder früher medikamentös behandelt wurden, weil sie sich nicht konzentrieren konnten. Zwischen 2003 und 2007 stieg die Anzahl der Kinder mit dieser Diagnose jährlich im Durchschnitt um 5,5 Prozent (2010). Nichts weist darauf hin, dass sich die Zuwachsrate auf diesem Niveau einpendelt. Aus diesen Zahlen lässt sich ableiten, dass die Anzahl der ADHS-Fälle für 2011 auf 15 Prozent geschätzt wird. Das macht ADHS zur häufigsten psychiatrischen Diagnose. Als dieses Buch geschrieben wurde, war bei mindestens 10 Millionen Kindern ADHS diagnostiziert worden – eine hohe Zahl. Damit konkurriert sie mit der Anzahl der US-Bürger, bei denen eine Herzkrankheit festgestellt wurde. ADHS ist also in gleicher Weise eine Epidemie wie Herzkrankheiten.
Wirklich? Die Diagnosezahl steigt zwar eindeutig, doch unklar bleibt, ob tatsächlich mehr Kinder Konzentrationsschwierigkeiten haben oder ob mehr „Etiketten“ verteilt werden. Lassen Sie uns kurz anschauen, wie die Diagnose zustande kommt.
1.2 Zirkelschluss: das Gerücht, es gäbe eine Diagnose
In meiner Praxis höre ich Geschichten wie die von Malcolm täglich. Eltern kommen und wollen ihre Kinder „auf ADHS testen“ lassen, weil die Lehrkraft ihnen sagt, das Kind tue sich schwer. Diesen Eltern antworte ich: Es gibt keinen ADHS-Test. Die Eltern sind schockiert, wenn sie das erfahren. Die Vorstellung, es gäbe irgendeinen eindeutigen, wissenschaftlichen Test für diese Störung, ist vielleicht eines der größten Ammenmärchen in der Medizin. Vielmehr ist es so: Wenn wir Kinder auf ADHS testen, leisten wir durch eine Art Zirkelschluss der Epidemie Vorschub. In Amerika geht das üblicherweise so:
- Eine Lehrkraft beobachtet, dass ein Kind im Unterricht nicht aufpasst.
- Sie informiert die Eltern, dass etwas mit dem Kind nicht stimmen könnte, woraufhin diese mit dem Kind zum Arzt gehen.
- Der Arzt drückt den Eltern einen Fragebogen in die Hand, den die Lehrkraft ausfüllen soll.
- Die Lehrkraft, die bereits entschieden hat, dass das Kind ein Problem hat, füllt daraufhin den Fragebogen aus. Sie kreuzt alle Kästchen an, die bestätigen, dass das Kind sich schwertut, aufzupassen, und schickt das Formular an den Arzt zurück.
- Der Arzt schaut auf die sogenannten Beweise und stellt die Diagnose ADHS.
- Sobald die Diagnose „steht“, geht es schlicht darum, die entsprechenden Medikamente zu verschreiben.
An dieser Vorgehensweise ist einiges problematisch: Erstens geht sie von einer Annahme aus. Diese Annahme besagt, jede Lehrerin, jeder Lehrer schätze die Aufmerksamkeit bei Kindern mit der gleichen Erfahrung ein. Nicht berücksichtigt wird dabei, wie lange die Lehrkraft bereits mit Kindern arbeitet oder mit wem sie ein Kind vergleicht. Ebenso wenig trägt der Fragebogen einer Voreingenommenheit der Lehrkraft Rechnung. Ja, er sagt mehr über die Erwartungen einer Lehrerin / eines Lehrers darüber aus, wie ein Kind aussehen sollte, wenn es sich konzentriert, als über das Kind selbst. Und selbst das ist absolut subjektiv. Was ein Lehrer als „zappelig“ einstuft, mag für eine andere Lehrerin etwas anderes bedeuten. Dazu kommt, dass man nicht feststellen kann, ob die Antworten der Lehrkraft darauf basieren, wie sie das Verhalten des Kindes über einen gewissen Zeitraum in Erinnerung hat oder auf Beobachtungen an einem bestimmten Tag.
Was aber noch entscheidender ist: Der Fragebogen versucht nicht den Kontext zu erfassen, in dem das Kind aufmerksam sein soll. Er sagt nichts darüber aus, wie die Arbeiten und Aufgaben präsentiert werden, wer neben dem Kind sitzt, wie lang es an diesem Tag geschlafen oder was es zum Frühstück gegessen hat. Ich könnte Sie in ein Zimmer stecken, Sie zwingen, ein altes Physikbuch von mir zu lesen, und Sie litten vielleicht allem Anschein nach unter ADHS – laut diesem Fragebogen. Noch beunruhigender ist: Diese Ergebnisse genügen als Anhaltspunkte, damit ein Arzt einem Kind Medikamente verschreiben kann.
Interessanterweise wird bei Jungen weitaus häufiger ADHS diagnostiziert als bei Mädchen. Das hat mich diesem ganzen Diagnoseverfahren gegenüber schon immer etwas misstrauisch gemacht. Warum sollen Buben häufiger Probleme mit der Aufmerksamkeit haben als Mädchen? Aufgrund dieses Ungleichgewichts vermuten zahlreiche Fachleute, ADHS sei im Grunde eine genetische Störung und Jungen seien in gewisser Weise genetisch auf Konzentrationsschwierigkeiten programmiert. Warum steigt dann aber die Anzahl der Kinder mit ADHS? Genetische Störungen treten nie in epidemischem Ausmaß auf. Wenn ADHS also nicht genetisch bedingt ist, muss das Umfeld in die steigenden Diagnosezahlen mit hineinspielen. Selbst wenn wir die Tatsache außer Acht lassen, dass die Statistiken auf verzerrten Beweisen basieren, sagt der Fragebogen immer noch nichts über das Umfeld aus.
Besorgniserregend ist auch der Trend des vergangenen Jahrzehnts, als bei Kindern im Vorschulalter erheblich häufiger ADHS diagnostiziert wurde (Zito et al. 2000). Die Verwendung eines Fragebogens, der ursprünglich für ältere Kinder vorgesehen war, hat dazu geführt, dass immer häufiger stimulierende Medikamente „off label“, also entgegen der vorschriftsmäßigen Anwendung, bei Kindern eingesetzt wurden, die viel jünger waren als die Testgruppen der Pharmafirmen. „Off-label“ bedeutet schlicht, dass das Medikament verabreicht wird ohne die Zulassung und Untersuchung der FDA[3]. Es gibt keine Langzeitstudien über die Sicherheit dieser Medikamente bei so kleinen Kindern.
Natürlich befindet sich eine Lehrkraft in einer schwierigen Situation, wenn ein Kind in der Klasse abgelenkt ist. Wir wissen auch, wenn Kinder mit ADHS nicht behandelt werden, steigt das Risiko, dass ihr Selbstwert chronisch niedrig bleibt. Das wiederum kann zu lebenslangen Problemen mit Depression, Ängsten, gescheiterten Beziehungen, Arbeitslosigkeit, Drogenmissbrauch, asozialem Verhalten und anderem gefährlichem Risikoverhalten führen (Mannuzza et al. 2004). Was also passiert hier wirklich?
ADHS ist wie Fieber
ADHS ist ein Hilferuf. In dieser Hinsicht gleicht es Fieber. Aber Fieber ist keine Krankheit. Diese Unterscheidung ist bedeutsam. Zahlreiche Menschen glauben, eine Diagnose sei das Gleiche wie eine Krankheit. Ist sie aber nicht. Das gilt besonders bei Entwicklungsdiagnosen wie ADHS. Wichtig ist, dass wir uns über Folgendes im Klaren sind: Wir geben einfach einer Gruppe von Symptomen einen Namen, ein „Etikett“. Die Behandlung von Symptomen unterscheidet sich grundsätzlich von der Behandlung einer Krankheit. Die Diagnose einer Krankheit, etwa eine Streptokokken-Infektion oder Diabetes, sagt uns etwas über ihre Ursache und besagt, dass es eine bestimmte Methode zur Lösung des Problems gibt. Ein Symptom hingegen bringt lediglich ein zugrunde liegendes Problem zum Ausdruck. In dieser Hinsicht entspricht ein Symptom einem Alarmsignal. Ein einziges Symptom kann viele Ursachen haben. Krankheiten zu behandeln ist wesentlich. Symptome zu unterdrücken ist jedoch ein wenig so, als würden wir den Körper auffordern, „die Klappe zu halten“. Dann laufen...