1. Einführung
„Es gehört viel dazu, ein Schicksal zu ändern. Dieses Schicksal muss unerträglich geworden sein. Und wenn es erträglich ist, dann ist es noch schlimmer.“
Jean Paul Sartre (1905–1980)
1.1 Was ist Psychotherapie?
„Psychotherapie steht als Oberbegriff für alle Formen psychologischer Verfahren, die ohne Einsatz medikamentöser Mittel auf die Behandlung psychischer und psychosomatischer Krankheiten, Leidenszustände oder Verhaltensstörungen zielen. Dabei finden psychologische, d. h. wissenschaftlich fundierte Methoden verbaler und nonverbaler Kommunikation systematische Anwendung.“
(Wikipedia, 7.3.2012)
Also noch mal langsam:
- Es werden psychische und psychosomatische (also: leib-seelische) Leiden behandelt;
- dabei werden keine Medikamente eingesetzt (unterstützend manchmal doch, bei Depressionen ist das z. B. oft der Fall; aber die Gabe der Medikamente fällt dann eben nicht in den Bereich der ‚Psychotherapie‘, sondern findet als ‚Pharmakotherapie‘ begleitend statt);
- die Behandlung findet statt, indem systematisch kommuniziert wird, und zwar mittels wissenschaftlich fundierter Methoden.
Diese „systematische Kommunikation“ kann, je nach psychotherapeutischer Schule, unterschiedlich aussehen. Bei der klassischen Psychoanalyse zum Beispiel redet vor allem der Klient, die systemische Psychotherapie bezieht oft Partner und Familienmitglieder mit ein und Methoden aus dem Bereich der Körperpsychotherapie arbeiten auch mit der körperlichen Erfahrung, um psychische Leiden zu behandeln (nicht zu verwechseln mit Methoden der Physio-Therapie, wie z. B. Massage).
Womöglich ist die wörtliche Übersetzung des Begriffs ja nicht nur kürzer, sondern auch verständlicher: Psycho-Therapie ist die Pflege der Seele.
1.2 Wann sollte ich mir überlegen, eine Psychotherapie aufzunehmen?
Besondere Umstände wie der Verlust des Arbeitsplatzes, eine schwere körperliche Krankheit oder der Tod eines geliebten Menschen können jeden von uns in eine Krise führen. Die Frage ist, ob und wie es gelingt, uns aus Krisen zu befreien, und wie wir mit ihnen umgehen.
Nur selten ist der Zeitpunkt, wann es ratsam ist, eine Therapie aufzunehmen, so ganz klar zu bestimmen. Meistens gibt es eine Grauzone und es verhält sich wie bei einer Unternehmensinsolvenz, der sogenannten „Bankrotterklärung“, auch: dass nämlich der Moment, in dem nichts mehr geht, eher zu spät als zu früh erkannt wird („Wieso? Es geht doch noch …“). Vielleicht sehen Sie klarer, ob dieser Punkt für Sie erreicht ist, wenn Sie sich die folgenden Sätze ansehen (nach PsyOnline.at, ÖBVP, 2009, und Piontek, 2009) und dabei darauf achten, ob und wie sehr Sie sich von der Aussage jeweils betroffen fühlen:
- So kenne ich mich nicht! Ich fühle mich schon seit einigen Wochen anders als sonst und kann es mir nicht erklären.
- Anderen ist diese Veränderung an mir auch schon aufgefallen.
- Ich kann meine täglichen Aufgaben nur noch mit Mühe erledigen.
- Ich fühle mich krank oder habe Schmerzen, obwohl mich der Arzt für organisch gesund erklärt hat oder medizinische Befunde keine ausreichende Erklärung dafür bieten.
- Seit längerer Zeit halte ich mich nur noch mit Aufputsch-, Beruhigungs- oder Schlafmitteln (Psychopharmaka) aufrecht.
- Ohne ersichtlichen Grund bekomme ich rasendes Herzklopfen und Angst, dass ich sterben muss.
- Ich mache mir ständig Sorgen oder habe Ängste, die mich belasten oder einschränken (z. B. vor dem Kontakt mit meinen Mitmenschen, vor Autoritäten, vor großen Plätzen, vor engen Räumen, vor Prüfungen).
- Es plagen mich oft Gedanken, über die ich mit niemandem zu sprechen wage (z. B. Scham- und Schuldgefühle, Hassgefühle, Unzulänglichkeitsgefühle, das Gefühl, verfolgt oder fremdbestimmt zu werden).
- Ich fühle mich antriebs- und lustlos, erschöpft oder ständig überfordert.
- Ich kann oft nicht einschlafen oder wache regelmäßig mitten in der Nacht auf bzw. ich schlafe zu viel.
- Ich bin oft niedergeschlagen und habe keine Freude am Leben.
- Ich bin traurig und vereinsamt.
- Ich befinde mich in einer belastenden Umbruchsituation, die für mich schwer zu bewältigen ist (z. B. Unfall, schwere Krankheit, Arbeitslosigkeit, Trennung, Todesfall im nahen Umfeld).
- Ich denke manchmal an Selbstmord.
- Ich fühle mich oft unverstanden und habe das Gefühl, die ganze Welt ist gegen mich.
- Ich lebe in einer Beziehung, die mich sehr belastet.
- Ich fühle mich durch meine Kinder dauerhaft überfordert.
- Ich bin oft gereizt, aggressiv oder wütend.
- Ich habe wiederkehrend große Probleme im Kontakt mit anderen Menschen; ich möchte meine Beziehungen verbessern und brauche dazu Rückmeldungen über meine Stärken und Schwächen.
- Ich bin süchtig (z. B. nach Alkohol, anderen Drogen, Essen, Hunger, Liebe, Spielen).
- Ich fühle mich innerlich gezwungen, ständig dasselbe zu denken oder zu tun, obwohl dies mein Leben sehr einengt (z. B. zwanghaftes Waschen, Absperren, Grübeln).
- Ich sollte meine Fähigkeiten besser ausschöpfen und weiß nicht wie.
- Ich vermeide es, bestimmte Dinge zu tun, die ich gerne tun würde.
- Ich komme mit meiner Sexualität nicht zurecht.
- Ich habe Angst vor Entscheidungen, und das quält mich.
- Mir ist das alles egal.
Oder, sofern es nicht um Sie selbst, sondern um Ihr Kind geht:
- Mein Kind zeigt Verhaltensauffälligkeiten oder hat psychosomatische Probleme.
- Mein Kind reagiert oft aggressiv oder ist oft traurig und zieht sich zurück.
- Mein Kind hat Angst vor der Schule bzw. Lern- und Konzentrationsschwierigkeiten.
Sie sehen, es gibt viele und ganz verschiedene Umstände, die dafür sprechen können, eine Psychotherapeutin oder einen Psychotherapeuten aufzusuchen. Und falls Sie sich in einer (oder mehreren) der oben genannten Aussagen wiedererkennen, sind Sie jedenfalls nicht allein.
Unter Therapeuten gilt die Faustregel: Etwa ein Drittel der Bevölkerung hat akute Probleme, die einer kurzfristigen oder längerfristigen psychotherapeutischen Unterstützung bedürfen (oft kommt es allerdings nicht dazu, weil „eine Therapie zu machen“ häufig immer noch mit Scham besetzt ist; oder, wenn die Bereitschaft dazu da ist, weil kein freier Therapieplatz zu bekommen war). Ein zweites Drittel fühlt sich den auftauchenden Problemen zwar grundsätzlich gewachsen, aber eine zumindest kurzfristige psychotherapeutische Begleitung könnte trotzdem helfen, einen auf lange Sicht konstruktiven Umgang damit zu finden. Und ein weiteres Drittel schließlich ist „beschwerdefrei“ und mit Hilfe des jeweiligen Umfelds (Familie, Freunde) im Allgemeinen in der Lage, auf Probleme angemessen zu reagieren. Ausschlaggebend sind jedoch der persönliche Leidensdruck und die Vermutung, dass der Zustand, unter dem Sie leiden, eine seelische Ursache hat.
Auch wenn der Übergang oftmals fließend ist: Ein ebenso triftiger Grund kann natürlich der elementare Wunsch sein, der persönlichen Entwicklung einen Schub zu verleihen. Vielleicht macht es Ihnen die Entscheidung ja auch leichter, wenn Sie eine Vorstellung davon bekommen, was Sie in einer Psychotherapie erwartet.
1.3 Was passiert in einer Psychotherapie?
In einer Psychotherapie versuchen Klient und Therapeut zusammen zu erreichen, dass der Klient sein Verhalten dahingehend verändert, dass es ihm besser geht. Und in vielen (aber nicht allen) Methoden gehört dazu auch, den tieferen Ursachen für das persönliche Leiden auf die Spur zu kommen.
Viele Unannehmlichkeiten und auch Schicksalsschläge gehören zum Leben. Sie sind in diesem Sinn keine individuellen Erlebnisse, denn sie „können jedem von uns passieren“. Mit Trennung, Krankheit und Tod werden wir alle in unserem Leben konfrontiert, früher oder später. Aber wie wir darauf reagieren, wie wir damit umgehen und wie sehr wir darunter leiden, das ist höchst individuell. So verschieden, wie die aktuellen Lebensumstände sind: die Partnerschaft, das freundschaftliche Beziehungsnetz, das Eingebundensein in private und berufliche Kontakte und Verpflichtungen. Und so verschieden, wie die jeweiligen Lebenswege bis dorthin gewesen sind.
Es spricht vieles dafür, dass wir diese ganz persönliche Art und Weise, wie wir mit dem Leben, mit anderen Menschen und auch wie wir mit uns selbst umgehen, hauptsächlich in der frühen Kindheit erlernt haben. Wir sind, zumindest zu einem großen Teil, eben nicht so geboren, sondern das Leben hat uns geprägt, von früh an. Für außerordentliche Ereignisse, wie körperlichen oder seelischen Missbrauch, Kriegserlebnisse, Vertreibung, gilt das natürlich umso mehr!
Eine große Anzahl psychotherapeutischer Methoden setzt nun genau da an: Welche „Lehren“ hat uns das Leben beigebracht? Welche Konsequenzen haben wir aus diesen frühen oder auch späteren Erfahrungen gezogen? Mit welcher Vorerfahrung und mit welchen Überzeugungen begegnen wir unserem Leben heute? Und welche Auswirkungen hat das auf die Beziehungen, die wir haben, wenn wir im Hier und Jetzt so reagieren, wie wir es damals gelernt haben? Letztlich sind die meisten Verhaltensweisen Strategien, um das zu bekommen, was wir am meisten brauchen: Beziehungen, in denen Nähe und Wärme ausgetauscht werden. Oder es sind Strategien, um damit zurechtzukommen,...