2. LÖSUNGEN
Treiber, Kräfte, Inklusion – und die Macht der Disruption
Kontaktloses Bezahlen an der Kasse, Zahlungsabwicklung in Echtzeit, Smartphones für den Handel mit Kryptowährungen und virtuellen Gütern – all diese Annehmlichkeiten genießen private und geschäftliche Endkunden dank der fortschreitenden Digitalisierung und ihrer Teilelemente, wie Mobilfunk, Internet, Vernetzung, Datenerfassung- und Auswertung und modernen Systemen und Endgeräten. Und dies, wie erwähnt, ohne räumliche und zeitliche Beschränkungen. »Die neuen Technologien vereinfachen den Zugriff auf Informationen als Basis für Entscheidungen, senken Kosten und erhöhen Reaktionsgeschwindigkeiten«, so die Bundesbank.200
Freilich gibt es diesen Fortschritt und Vorläufer der Digitalisierung seit Jahrzehnten, vor allem in den IT-Systemen der Banken und im Business-to-Business-Bereich. Dagegen hat die Verbindung von Kommunikationstechnik und mobilen Endgeräten mit Finanzdienstleistungen aller Art aus Verbrauchersicht lange auf sich warten lassen. Doch jetzt kommt dieser Trend – getrieben durch die Fintechs mit voller Wucht. Alle diese Neuerungen, Apps und die in diesem Abschnitt näher beleuchteten Triebkräfte und zentralen Bestandteile werden den Finanzsektor grundlegend verändern, Berufsgruppen und Dienstleistungen auslöschen und neue entstehen lassen. Ganz so wie es sich Joseph Alois Schumpeter mit seiner schöpferischen Zerstörung gedacht hatte.
Banken sind dabei nur eine Sparte – die Kräfte der Veränderung sind universal und gelten für alle Unternehmen. Die Probleme der Banken sind auch nicht nur finanzspezifisch. Vielmehr drängen sich Parallelen zu großen Pleiten und Abstürzen von Weltkonzernen oder ganzen Branchen, die eine technologische Umwälzungen verschlafen oder eben nicht erkannt haben, förmlich auf. »Wie im Falle von Kodak garantieren hier weder das Alter, die Größe, der Ruf oder die gegenwärtigen Verkaufszahlen, dass ein Unternehmen auch morgen noch auf dem Markt konkurrieren kann«, schreibt Salim Ismail in seinem großartigen Buch Exponentielle Organisationen. Und so sind auch die treibenden Faktoren im Kern nicht finanzspezifisch, sondern stehen stellvertretend für die Entwicklung in so vielen Branchen, von geschrumpften Mobilfunkunternehmen bis zu Herstellern von Kleinbildfilmen. Letzteres ist dabei tatsächlich ein Opfer der Digitalisierung, weil das Produkt in dieser Masse heute nicht mehr benötigt wird. Ersteres, Nokia, wiederum war selbst ein Treiber der Digitalisierung, hat dann jedoch falsche Weichenstellungen vorgenommen.
Außer von der Technologie werden Branchen und Unternehmen selbstverständlich von vielen anderen Aspekten beeinflusst, die ihr Wohl und Wehe und besonders ihre Managemententscheidungen ausmachen. Dazu gehört die Organisationsform. Dies hier soll kein betriebswirtschaftliches Managementbuch werden, trotzdem möchten wir kurz die Idee von Salim Ismail und seinen »Exponentiellen Organisationen« aufgreifen. Schließlich fallen marktreife Top-Produkte nicht vom Himmel und werden wissenschaftliche Erkenntnisse nicht von selbst in funktionierende Geräte und Systeme überführt. Vielmehr benötigt man dafür auch die entsprechende Form, für Salim Ismail am besten die »Exponentielle Organisation«. Sein Kritikpunkt ist zunächst: »Pharmazeutische Unternehmen, Luft- und Raumfahrtunternehmen, Automobilhersteller und Energieunternehmen tätigen immer wieder Investitionen, deren Ergebnis sie erst in vielen Jahren kennen werden. Dies ist zwar ein funktionsfähiges System, aber kein optimales. Zu viel Geld und wertvolle Talente werden in jahrzehntelange Projekte gesteckt, deren Erfolgsaussichten kaum gemessen werden, bis sie schließlich scheitern. … Das ist eine unerträgliche und inakzeptable Situation …«201 Aus seiner Sicht müssen wir schlichtweg bessere Wege der Organisation finden: »Wir haben gelernt, wie wir die Technologie skalieren können; nun ist es Zeit zu lernen, wie wir unsere Organisationen skalieren können. Dieses neue Zeitalter ruft nach einem anderen Ansatz beim Aufbau einer neuen Wirtschaft, verbesserten Erfolgskennzahlen und der Lösung der Herausforderungen, die vor uns liegen.«202 Diese Lösung sind für ihn Exponentielle Organisationen.
Hintergrund dabei ist die extrem schnelle Entwicklung von Technologien aller Art, gepaart mit umfassender Vernetzung, Datenverarbeitung und ausgeklügelten und oft selbstlernenden Algorithmen. Aus dieser Gemengelage, die alles nochmals beschleunigt, entstehen die Innovationen und vielzitierten disruptiven Veränderungen – und der Erfolg dabei entscheidet über die Existenz der Firma, und zwar in einem nie gekannten Tempo und in nahezu allen, selbst und gerade in traditionellen Branchen. Ismail stellt fest, dass »in der Geschichte immer dann disruptive Durchbrüche entstanden, wenn sich getrennte Felder überschnitten. … Heute verbinden wir im Grunde alle innovativen Bereiche.«203 Einer der unternehmerischen Fehler dabei, diese Dynamik nicht zu erkennen und mitzugestalten, ist, dass man weiterhin von linearen Veränderungen ausgeht, statt eben von exponentiellen. Ein weiteres Manko ist häufig, nicht die Macht und Bedeutung von Informationen und Daten zu begreifen. »Eine durch Informationen unterstützte Umgebung bietet fundamental disruptive Möglichkeiten«204, sagt Ismail, der die Wasserscheide sogleich auch zwischen linearem und exponentiellem Denken zieht. Veränderungen, selbst rasante, gab es schon immer. Vor allem seit der industriellen Revolution haben sich seit gut zwei Jahrhunderten unser Leben, Arbeitsplätze und ganze Branchen permanent und fundamental verändert. Das Wissen darum ist wichtig, aber auch eine Falle: »Automatisierung, Massenproduktion, Robotik und sogar Computervisualisierung haben die Steigung dieser Linie verändert, aber sie bleibt weiterhin linear.«205 Denn: »Wenn Sie linear denken, wenn Ihre operativen Abläufe, Ihre Messung von Leistung und Erfolg linear sind, dann wird das Ergebnis eine lineare Organisation sein, die die Welt durch eine lineare Perspektive betrachtet – wie es selbst der innovative Technologiekonzern Nokia tat.«206 Mit den bekannten Folgen. Schließlich können sich daraus auch nur altbackene Organisationsstrukturen, Denkweisen, Planungsvorgänge und Prozesse ergeben.207 Als wäre es eine Feldstudie zu Banken, sagt Management-Autor John Hagel: »Unsere Organisationen sind so strukturiert, dass sie Veränderungen von außen widerstehen.«208 Selbst, wenn diese Veränderungen nützlich sind, werden sie selten genutzt.
Genauso ist es in der etablierten Finanzindustrie. Gerade sie haben zwar die Mittel, die Größe und die Marktmacht, diese massiven Veränderungen voranzutreiben – aber nicht die Herangehensweise und nötige Philosophie. Sie wollen eher klassisch wachsen, etwa durch Fusionen oder Zukäufe, und so passiert es schließlich zurzeit auch an der Schnittstelle zu Fintechs. Damit sichern sie sich die Flexibilität und Geschwindigkeit, die sie selbst nicht haben. Die Verkrustungen und Starre eingefahrener Finanzinstitutionen haben wir in unserer Karriere selbst leidvoll erlebt und im Bankenteil beschrieben. Ismail bestätigt unseren Befund wissenschaftlich und generalisierend: »Schnelle oder disruptive Veränderung ist für große Unternehmen mit einer Matrixstruktur extrem schwierig. In der Tat haben diejenigen, die es versucht haben, herausgefunden, dass das ›Immunsystem‹ der Organisation wahrscheinlich auf die wahrgenommene Gefahr mit Angriff reagiert.«209 Wie wir es erlebt haben, soll mit solch einer vermeintlich effizienten Haltung geradezu erreicht werden, das Risiko zu verringern und Planungssicherheit zu erhalten. Dabei führt es mittel- und langfristig zum Aus für das Unternehmen – und da sich die Welt heute viel schneller dreht, womöglich sogar kurzfristig. Denn Unternehmertum bedeutet nun einmal, Risiken einzugehen. Ohne dieses Risiko – mit viel Ausprobieren, Herumexperimentieren, selbstverständlich auch Scheitern und stetigem Verbessern – gibt es bekanntlich keinen wirtschaftlichen Erfolg und entwickelt man keine bahnbrechenden Neuerungen. Disruptive Innovationen kommen selten aus dem Status quo heraus (Clayton Christensen) – und »Status quo« heißt nicht nur zufällig auch das obige Kapitel, das die Bankenlandschaft von heute umreißt.
Technologien sind der Treiber von Veränderung. Und zu exponentiell wachsenden Technologien zählt Ismail unter anderem »unbegrenzte Rechenleistung von Computern, Sensoren, Netzwerke, künstliche Intelligenz, Robotertechnik, digitale Produktion, synthetische Biologie, digitale Medizin, Nanotechnologie.«210 Er definiert das Objekt seiner Betrachtung wie folgt: »Eine Exponentielle Organisation ist eine Organisation, deren Wirkung (oder Ertrag) überproportional hoch – mindestens zehn Mal höher – ist, als bei vergleichbaren Organisationen. Der Grund dafür ist die Anwendung neuer Organisationsmethoden …«211 Der Begriff Exponentielle Organisationen schließt bewusst Nicht-Unternehmen mit ein, also die Regierung, Behörden oder gemeinnützigen Organisationen. Kern und Ausgangspunkt ist dabei das Beherrschen oder Generieren von exponentiellem Wachstum, in der Regel in Technologiebereichen, entsprechend dem Moorschen Gesetz der Verdoppelung der Rechenleistung von integrierten Schaltkreisen; ein Phänomen, das sich auch auf andere Informationstechnologien übertragen lässt.
Angetrieben wird diese Erscheinung durch Informationen: »Sobald ein Bereich, eine Disziplin, Technologie oder Industrie auf Informationen basiert und durch Informationsfluss gesteuert wird, sehen wir jährlich eine Verdoppelung der Leistung.«212 Ist dieser Prozess der Verdoppelung erst einmal in Gang...