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Flucht aus Lager 14

Die Geschichte des Shin Dong-hyuk, der im nordkoreanischen Gulag geboren wurde und entkam - Ein SPIEGEL-Buch

AutorBlaine Harden
VerlagDeutsche Verlags-Anstalt
Erscheinungsjahr2012
Seitenanzahl272 Seiten
ISBN9783641090777
FormatePUB
KopierschutzDRM
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis12,99 EUR
Ein schockierender Bericht aus der Hölle eines Gefangenenlagers in Nordkorea
In Nordkorea existieren Straflager von unbeschreiblicher Brutalität, und doch sind sie kaum bekannt. Unter den wenigen Zeugenberichten, die es überhaupt gibt, ragt die Geschichte von Shin Dong-hyuk heraus: Als Kind zweier Häftlinge wird er in Lager 14 geboren, einem der Lager, aus dem nie jemand entlassen wird. Nachdem er 23 Jahre in dieser Hölle überlebt hat, gelingt ihm wider aller Wahrscheinlichkeit die Flucht. Shins Bericht, ergänzt um zahlreiche bewegende Fotografien, ist das berührende Zeugnis eines ungewöhnlichen Schicksals und eines unmenschlichen Lagersystems zugleich. Nicht zuletzt ist das Buch ein Appell an die Welt, nicht länger wegzuschauen.

Blaine Harden, geboren 1952, ist Autor des »Economist« und der US-Dokumentarsendung »PBS Fronline«. Zuvor war er Korrespondent der »Washington Post« in Asien, Osteuropa und Afrika und arbeitete eine Zeitlang für die »New York Times«. Er veröffentlichte bereits zwei Bücher, darunter eines über Afrika, und lebt in Seattle.

Shin Dong-hyuk, geboren 1982 im Lager 14, lebt seit seiner Flucht aus Nordkorea in Washington und Seoul.

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Leseprobe

KAPITEL 1

Der Junge, der seiner Mutter das Essen wegaß

Shin und seine Mutter wohnten in den besten Gefangenenunterkünften, die das Lager 14 zu bieten hatte: in einem »Musterdorf« am Rand einer Obstplantage und unmittelbar gegenüber dem Platz, auf dem später seine Mutter gehängt wurde.

In jedem der insgesamt vierzig einstöckigen Gebäude in dem Dorf lebten vier Familien. Shin und seine Mutter hatten ihr eigenes Zimmer, in dem sie nebeneinander auf einem Betonboden schliefen. Die vier Familien teilten sich eine Gemeinschaftsküche, in der eine einzige nackte Glühbirne hing. Elektrischen Strom gab es nur zwei Stunden lang am Tag, von vier bis fünf Uhr morgens und von zehn bis elf Uhr am Abend. Die Fensterscheiben bestanden aus grauem Vinyl, zu trüb, um dahinter etwas sehen zu können. Die Zimmer wurden – nach koreanischer Art – mit einem Kohlenfeuer in der Küche und Rauchabzügen im Fußboden der Zimmer beheizt. Auf dem Gelände des Lagers befanden sich Kohlengruben, so dass Heizkohle stets verfügbar war.

Es gab keine Betten, Stühle oder Tische. Es gab kein fließendes Wasser. Weder ein Bad noch eine Dusche. Häftlinge, die baden wollten, schlichen sich manchmal im Sommer zum Fluss. Etwa dreißig Familien teilten sich einen Brunnen für Trinkwasser, außerdem den Abort, der in eine Hälfte für Frauen und eine für Männer unterteilt war. Nur dort durften die Häftlinge ihre Notdurft verrichten, da die Fäkalien als Dünger für die Lagerfarm verwertet wurden.

Wenn Shins Mutter ihre tägliche Arbeitsnorm erfüllt hatte, konnte sie Lebensmittel für den Abend und den nächsten Tag nach Hause bringen. Um vier Uhr in der Früh machte sie das Frühstück und das Mittagessen für sich und ihren Sohn. Jede Mahlzeit war dieselbe: Maisbrei, eingelegter Kohl und Kohlsuppe. Shin aß dieses Mahl 23 Jahre lang fast jeden Tag, ausgenommen an den Tagen, an denen er zur Strafe nichts zu essen bekam.

Als er noch zu jung war, um zur Schule zu gehen, ließ ihn seine Mutter vormittags öfter allein zu Haus und kam zum Mittagessen vom Feld zurück. Shin war immer hungrig, und sobald seine Mutter frühmorgens das Haus verlassen hatte, machte er sich bereits über das ihm zugedachte Mittagessen her.

Danach aß er auch ihre Portion.

Kam sie dann um die Mittagszeit zurück und fand kein Essen mehr vor, wurde sie wütend und schlug ihren Sohn mit einer Hacke oder einer Schaufel, mit allem, was gerade zur Hand war. Manchmal waren ihre Schläge so heftig wie jene, die er später von den Wärtern erhielt.

Dennoch nahm Shin so oft und so viel vom Essen seiner Mutter, wie er bekommen konnte. Er kam gar nicht auf die Idee, dass sie hungrig bleiben musste, wenn er ihre Portion aufaß. Jahre später, als sie schon länger tot war und er in den Vereinigten Staaten lebte, erzählte er mir, dass er seine Mutter liebe. Doch das war eine nachträgliche Empfindung. Er hatte sie erst, nachdem er gelernt hatte, dass ein zivilisiertes Kind seine Mutter lieben müsse. Als er noch im Lager lebte – und wegen seiner Nahrung völlig von ihr abhängig war, ihr Essen wegaß und ihre Schläge ertrug –, sah er in ihr nur eine Konkurrentin im Kampf ums Überleben.

Ihr Name war Jang Hye Gyung. In seiner Erinnerung war sie klein, etwas pummelig und hatte starke Arme. Ihr Haar trug sie kurz geschnitten wie alle Frauen im Lager, und sie musste den Kopf mit einem weißen, zu einem Dreieck gefalteten Tuch bedecken. Shin entdeckte ihr Geburtsdatum – 1. Oktober 1950 – auf einem Dokument, das er während seiner Vernehmung im unterirdischen Gefängnis sah.

Sie sprach mit ihm nie über ihre Vergangenheit, ihre Familie oder den Grund, warum sie im Lager war, und er fragte sie auch nie danach. Seine Existenz als ihr Sohn war von den Wärtern arrangiert worden. Diese hatten sie und den Mann, der Shins Vater wurde, als Prämien füreinander im Rahmen einer »Belohnungsehe« ausgewählt.

Unverheiratete Männer und Frauen schliefen voneinander getrennt in eigenen Schlafräumen. Die achte Vorschrift im Lager 14, die Shin auswendig lernen musste, lautete: »Sollte es ohne vorherige Erlaubnis zu sexuellen Kontakten kommen, werden die Täter auf der Stelle erschossen.«

In anderen nordkoreanischen Arbeitslagern galten dieselben Vorschriften. Sollte ein unerlaubter Sexualverkehr eine Schwangerschaft oder eine Geburt zur Folge haben, wurden die Frau und das Neugeborene in der Regel getötet. Das ergab sich aus meinen Interviews mit einem ehemaligen Lagerwärter und mehreren ehemaligen Häftlingen. Nach ihren Aussagen gingen die Frauen, die sich mit Wärtern einließen in der Hoffnung, Zusatzrationen zu erhalten oder leichtere Arbeit zugewiesen zu bekommen, ein hohes Risiko ein. Sobald sie schwanger wurden, verschwanden sie.

Eine »Belohnungsehe« war die einzige sichere Möglichkeit, das Verbot sexueller Kontakte zu umgehen. Eine Heirat wurde den Häftlingen als die höchste Prämie für harte Arbeit und verlässliche Denunziationen in Aussicht gestellt. Männer kamen hierfür ab 25, Frauen ab 23 Jahren in Frage. Die Wärter kündigten die Hochzeiten drei- bis viermal im Jahr an; gewöhnlich fielen sie auf besondere Tage, etwa Neujahr oder den Geburtstag von Kim Jong Il. Weder die Braut noch der Bräutigam hatten ein Mitspracherecht bei der Bildung der Paare. War einer oder eine der Ausgewählten mit dem für ihn oder sie bestimmten Partner aus welchen Gründen auch immer nicht zufrieden, konnte es vorkommen, dass die Wärter die Hochzeit absagten. In diesem Fall erhielten weder die Frau noch der Mann eine zweite Chance.

Shins Vater, Shin Gyung Sub, erzählte seinem Sohn, dass die Wärter ihm Jang als Frau zugedacht hatten, weil er ein besonderes Geschick bei der Bedienung der Drehbank in der Maschinenhalle des Lagers hatte. Shins Mutter erzählte ihm nie, weshalb sie für die Ehe auserwählt worden war.

Doch für sie wie für viele andere Bräute im Lager war die Heirat eine Art Beförderung. Mit ihr war eine etwas leichtere Arbeit verbunden und eine bessere Unterkunft – im »Musterdorf«, wo es eine Schule und ein Krankenhaus gab. Bald nach ihrer Hochzeit zog sie aus einem überfüllten Schlafsaal für Frauen in der Textilfabrik des Lagers dorthin um. Außerdem erhielt sie eine begehrte Arbeitsstelle in einem nahe gelegenen landwirtschaftlichen Betrieb, wo man Mais, Reis und frisches Gemüse »organisieren« konnte.

Nach seiner Hochzeit erhielt das Paar die Erlaubnis, fünf Nächte hintereinander zusammen zu verbringen. Von da an durfte Shins Vater, der weiterhin in einer Unterkunft neben seiner Arbeitsstelle wohnte, seine Frau mehrmals im Jahr besuchen. Im Verlauf ihrer Ehe brachte Jang zwei Söhne auf die Welt. Der Ältere, He Geun, wurde 1974 geboren; Shin kam acht Jahre später zur Welt.

Die Brüder kannten einander kaum. Als Shin geboren wurde, besuchte sein Bruder zehn Stunden täglich die Grundschule. Als Shin vier Jahre alt war, zog sein zwölfjähriger Bruder aus dem Haus aus und lebte, den Lagervorschriften entsprechend, von nun an in einer Sammelunterkunft.

Shin konnte sich daran erinnern, dass sein Vater gelegentlich am späten Abend zu seiner Frau kam und sie am frühen Morgen wieder verließ. Seinem jüngeren Sohn schenkte er nur wenig Beachtung, und Shin stand seinen seltenen Besuchen gleichgültig gegenüber.

In den Jahren nach seiner Flucht aus dem Lager lernte Shin, dass viele Menschen Wärme, Geborgenheit und Zuneigung mit den Worten »Mutter«, »Vater« und »Bruder« in Verbindung bringen. Er nicht. Die Wärter hatten ihm und den anderen Kindern im Lager immer wieder gesagt, sie seien wegen der »Sünden« ihrer Eltern im Lager. Man sagte ihnen auch, sie müssten sich zwar fortwährend schämen wegen ihrer treulosen Herkunft, sie könnten es jedoch schaffen, ihre angeborene Sündhaftigkeit »abzuwaschen«, indem sie hart arbeiteten, den Wärtern Gehorsam leisteten und ihnen über ihre Eltern Bericht erstatteten. Die zehnte Vorschrift des Lagers forderte, dass ein Häftling in jedem Wärter aufrichtig seinen Lehrer sehen müsse. Das leuchtete Shin ein. Während seiner Zeit als Kind und als Heranwachsender waren seine Eltern überarbeitet und abweisend und redeten wenig mit ihm.

Shin war ein abgemagertes, in sich gekehrtes und die meiste Zeit hindurch einsames Kind ohne Freunde, dessen einzige Quelle der Gewissheit die Ermahnungen der Wärter waren, sie könnten sich von ihrer Sünde dadurch befreien, dass sie ihre Eltern denunzierten. Seine Vorstellungen von Richtig und Falsch wurden allerdings immer wieder verwirrt, wenn er Zeuge von Begegnungen zwischen seiner Mutter und den Wärtern wurde.

Shin war gerade zehn Jahre alt, als er eines Abends das Haus verließ und seine Mutter suchte. Er hatte Hunger, und es war die übliche Zeit, zu der sie das Abendessen zubereitete. Er ging zu einem nahe gelegenen Reisfeld, auf dem seine Mutter arbeitete, und fragte eine Frau, ob sie sie gesehen habe.

»Sie putzt das Büro vom Bowijidowon«, erhielt er zur Antwort; es war das Arbeitszimmer des für das Reisfeld verantwortlichen Wärters.

Shin ging zu dessen Büro und fand die Eingangstür verschlossen. Durch ein Fenster in einer der Seitenwände spähte er in das Innere. Seine Mutter putzte kniend den Fußboden. Kurz darauf sah er den Bowijidowon, der sich seiner Mutter von hinten näherte und sie zu berühren begann. Sie schien nichts dagegen zu haben. Beide zogen sich aus, und Shin sah zu, wie sie Geschlechtsverkehr hatten.

Nie hat er seine Mutter danach gefragt, was das Gesehene bedeutete, und auch mit seinem Vater sprach er nicht darüber.

Im selben Jahr wurden die Schüler in Shins...

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