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E-Book

Flüchtlinge

Phoenix - Essays, Diskurse, Reportagen

VerlagCzernin Verlag
Erscheinungsjahr2016
Seitenanzahl96 Seiten
ISBN9783707605785
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis9,99 EUR
Das Flüchtlingsdrama prägt wie wenige Ereignisse zuvor die europäische politische Landschaft. Aus ihm ist eine Krise der Europäischen Union geworden. Innere Spannungen unter Überschriften wie 'Überfremdung' oder 'Islamisierung' stärken vor allem den rechtsgerichteten Populismus und zeitigen dementsprechende Wahlergebnisse. In der Uneinigkeit der sogenannten Aufnahmeländer wird zunehmend klar: Die Solidarität als einer der höchsten Werte der EU schwindet. Den verschiedensten Aspekten zum Thema widmet sich fundiert und umfassend der vorliegende Band. Berücksichtigt werden auch Blicke in die Vergangenheit, da viele gerne vergessen, was in der eigenen Geschichte geschehen ist. Es schreiben unter anderem Ilija Trojanow über Migration, Julya Rabinowich über Traumata, Josef Haslinger über die hausgemachte Krise und Hazel Rosenstrauch über ihre Remigration vor 70 Jahren. Denn berücksichtigt werden auch Blicke in die Vergangenheit, da die heute Lebenden (nicht nur die jüngeren) gerne vergessen, was in der eigenen Geschichte geschehen ist.

Gerfried Sperl, geboren 1941 in Oberzeiring, Steiermark. Studium der Anglistik, Germanistik und Philosophie, Dr. phil, Journalist und Kolumnist. Arbeitete u.a. für 'Kurier' und 'Kleine Zeitung' und war 15 Jahre lang geschäftsführender Chefredakteur des 'Standard'. Träger des Kurt-Vorhofer-Preises.

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Leseprobe

Warum gerade Deutschland?


Siebzig Jahre nach 1945 ist Deutschland auf einmal zu einem attraktiven Zufluchsort geworden. Ein einmaliger Fall von »reeducation« in der Weltgeschichte?

von BERT REBHANDL

Im Zuge ihrer bemerkenswerten Positionierung während der ersten Wochen der Flüchtlingskrise in Deutschland hat die deutsche Kanzlerin Angela Markel einen bemerkenswerten Satz gesagt: »Millionen Menschen lieben dieses Land.« Sie meinte damit nicht Bürgerinnen und Bürger der Bundesrepublik, die vielleicht gar nicht so viel Liebe zu ihrem Land aufbringen, weil sie dessen Vorteile nicht gut genug einschätzen können. Sie sprach von Menschen aus Syrien, Afghanistan oder Somalia, und nolens volens auch von Menschen aus dem Kosovo oder aus Afrika, also solchen, die als »Wirtschaftsflüchtlinge« nicht auf Bleiberecht in Deutschland hoffen dürfen. »Millionen Menschen lieben dieses Land.« Doch wofür?

Die Antwort auf diese Frage ist so komplex wie der Verlauf der Geschichte insgesamt, der sich nach zwei Jahrhunderten mit dem Fortschrittspathos der Aufklärung als retardierend und voller Tücken und Ironien herausgestellt hat. Dass ausgerechnet Deutschland nur siebzig Jahre nach 1945 zu einer konkreten Utopie mit weltweiter Strahlkraft geworden ist, könnte man als den vielleicht einzigen Fall von gelungener »reeducation« in der Weltgeschichte erachten. Tatsächlich gründet die Attraktivität auf etwas, was gemeinhin als eher antiutopisch empfunden wird: auf funktionierenden Institutionen, auf der Langeweile eines halbwegs routinierten Betriebs, auf der postheroischen Reduktion von Konflikten auf prozedurale Aspekte. In so einer Gesellschaft gibt es, jedenfalls dem Anspruch nach, nichts, was nicht mit einer Eingabe zu klären wäre. Das größte Privileg liegt darin, hier Rechtstatus zu bekommen, als Subjekt mit allen Rechten und Pflichten. Denn im internationalen Vergleich zeigt sich, dass die Pflichten bei weitem geringer wiegen als die Last das nackten Lebens, auf das sich viele Menschen verwiesen sehen, die in ihrem Land vor Bomben nicht sicher sind, oder die sich durch Gotteskrieger in ihrer persönlichen Freiheit bedroht sehen, oder die in »failing states« keine Lebensgrundlage mehr finden.

Das Asylrecht tut sich schwer mit der Definition von Situationen, aus denen eine Flucht unabweisbar als berechtigt erscheinen muss. Vor diesem Hintergrund lohnt sich ein historischer Rückblick auf den berühmtesten Exodus, auf den »Auszug« Israels aus Ägypten, aus Unterdrückung und Sklavenarbeit, aber auch weg von den »Fleischtöpfen«, die ein Leben in Unfreiheit und unter der Fron erträglich machen sollen. Der Exodus war motiviert durch die Vorstellung von einem »gelobten Land«, also einem konkreten Territorium, das von dem Gott Abrahams und Moses für ein konkretes Volk verheißen wurde. Ein Land, das in paradiesischen Begriffen beschrieben wurde, das aber erst kriegerisch erobert werden musste. Das Volk Israel konstituierte sich durch diesen Exodus erst so richtig als Zusammenhang, es fand in der Erzählung vom Auszug einen Gründungsmythos, aus dem dann erst eine Verfassung wie das davidische Königtum und ein Kult wie der im salomonischen Tempel hervorgehen konnten.

In Analogie zu diesem für das ganze Abendland, vor allem aber für Gruppen mit Erfahrungen von Sklaverei, zu einer Modellerzählung gewordenen Exodus könnte man seither zwei verschiedene Formen von Flucht oder Exodus vergleichen: Die eine ist völkerkonstituierend, die andere völkerzerstreuend. Die europäische Emigration nach Nordamerika hat sich letztlich als völkerzerstreuend erwiesen, nach der fast vollständigen Vernichtung der Ureinwohner erwies sich die Vorherrschaft »kaukasischer«, »weißer« Nachkommen von Europäern nicht als dauerhaft, inzwischen hat Nordamerika (staatlich gesprochen: USA und Kanada) weitere Migrationswellen und die damit einhergehenden demographischen Veränderungen erlebt, das daraus entstandene Staatsvolk ist zugleich einheitlich und multinational.

Auch die Konstituierung des Volkes Israels erwies sich als keineswegs dauerhaft, jedenfalls nicht in einer Verbindung mit einem zugewiesenen Territorium. Volk und Exil oder Diaspora wurden zu zwei Aspekten einer Erfahrung, und gerade das sogenannte babylonische Exil hat mit seiner prophetischen Reflexion auch maßgeblich dazu beigetragen, die Gottesbeziehung zu individualisieren. Auf diese Weise wurde der Verlust einer zentralen Kultinstitution bewältigbar, und damit auch der Universalismus vorbereitet, der das aus dem Judentum und aus dem Volk Israel hervorgegangene Christentum zu einer Religion werden lassen konnte, die von geläufigen Zuordnungen (Volk, Geschlecht, Klasse) absehen konnte, jedenfalls den frühen Ansprüchen nach. Das Christentum entwarf sich als Widerlegung der politischen Theologien der Antike und wurde damit auch zu einer Wanderreligion ohne Ort, jedenfalls so lange, bis sich in Rom und mit der translatio von der judenchristlichen Urgemeinde auf die Zentralgemeinde des untergehenden Imperiums eine neue Territorialisierung vollzog.

Nicht zufällig ging das Imperium in einer Situation unter, die heute volkstümlich als Völkerwanderung bezeichnet wird, und die man als umfassende Krise tribaler oder ethnischer Ortsgebundenheit verstehen kann, einfacher aber wohl als große Migration aus Subsistenzgründen. Es entstand daraus ein Regime, das fast tausend Jahre hielt (das einschlägige Stichwort lautet: Feudalismus), bis sich in Europa vor allem mit der Bewältigung der Folgen des Dreißigjährigen Krieges die Ursprünge moderner Staatlichkeit herausbildeten (nachzulesen besonders stringent bei dem Historiker Johannes Burkhardt). Hier liegt der Umschlagpunkt, der im Grunde alle Fluchtbewegungen und Migrationen in der Neuzeit bestimmt. Diese haben in ihre räumlichen Verläufe praktisch immer einen Modernitätsvektor eingeschrieben. Erst im 20. Jahrhundert hat sich das mit der Rückkehr der Politischen Theologie teilweise wieder umgekehrt, mit der ambivalenten Bewegung des Zionismus als der maßgeblichen Form.

Wenn heute Menschen aus Syrien nach Deutschland kommen, so weckt das Hoffnungen und Ängste. Die Hoffnungen beziehen sich darauf, das staatliche System in einem der reichsten Länder der Welt könnte noch mehr Menschen in sich aufnehmen, als ihm aktuell angehören. Diese Hoffnung geht mit einer demographischen Spekulation einher: Deutschland gilt als alternde Gesellschaft, die sich aus sich selbst nicht ausreichend reproduziert. Die Gründe dafür liegen ironischerweise zum Teil gerade in der konkreten Utopie, die das Land darstellt: Wohlstand, Freiheit der Lebensmodelle, soziale Sicherungssystem, sodass man nicht auf die Familie angewiesen ist, hochgradige Individualisierung. Das alles führt zu langsamerer Reproduktion, an deren Stelle eine Verjüngung der Bevölkerung durch Zuwanderung angestrebt wird, jedenfalls von Leuten, die nicht an gesellschaftlichen Homogenitätsidealen hängen oder deren ökonomisches Kalkül das leitkulturelle überwiegt.

Die Ängste resultieren nun gerade daraus, dass viele der Flüchtlinge auf die gesellschaftlichen Standards in Deutschland nicht vorbereitet sind. Sie könnten sich überfordert fühlen durch eine dezidiert freizügige Kultur, durch konsequente Gleichstellung von Mann und Frau, durch eine Vielfalt an sexuellen Optionen, durch Gleichgültigkeit gegenüber den Religionen. Sie könnten, so der Kern der Befürchtung, fundamentalistisch auf die Herausforderungen zur Modernität reagieren, mit der sie sich konfrontiert sehen. Deutschland, das Land, das Millionen lieben, steht dabei nur pars pro toto für die Demokratien westlicher Prägung, die zwar nicht das Ende der Geschichte markieren, aber in der Geschichte doch so etwas wie einen endgültigen Anspruch darstellen, auf den sich denkbare oder konkrete andere Systeme beziehen müssen.

In der aktuellen Lage des Jahres 2015 spielt die Geographie natürlich eine wesentliche Rolle. Europa ist von den meisten Krisengebieten aus auf dem Landweg oder über eine zwar riskante, aber an vielen Stellen machbar erscheinende Passage hinweg erreichbar. Trotzdem wäre es eine Frage wert, warum es keine nennenswerte Emigration nach China oder Russland gibt (während der NS-Verfolgung der europäischen Juden gab es immerhin beispielsweise eine bedeutende Exilsgemeinde in Shanghai). Dafür mag es viele Gründe geben, der einzig systematisch relevante ist allerdings der, dass sich beide Länder nicht als Utopien eignen. Das hat mit ihrer selektiven Anwendung der Universalitätsansprüche zu tun, auf denen wiederum die Verpflichtung auf ein vertretbares Asylrecht beruht, an die sich Deutschland jedenfalls namens der Kanzlerin Angela Merkel gebunden fühlt.

Mit der sich abzeichnenden Veränderung des Weltklimas dürfte die konkrete, geschichtsphilosophisch markierte Utopie der westlichen Wohlfahrtsdemokratien auf eine bisher noch schwer abzusehende Weise unter Druck geraten. Doch für den Moment lässt sich die Beziehung zwischen den zwei Polen von Migration gerade diagrammatisch so konturieren, dass die Fluchtbewegungen dem Vektor der europäischen Aufklärung folgen. Das bedeutet aber auch, in einer anspruchsvollen Anwendung der Voraussetzungen dieser historischen Errungenschaften, dass die Europäer die Zufälligkeit ihres Privilegs durchschauen. Niemand hier trägt einen EU-Pass aus Verdienst, allen ist dies zugefallen.

Wenn man diesen Umstand zur Grundlage eines ethischen Arguments machen würde, dann müssten die Ansprüche an das »aufnehmende« Staatsvolk eigentlich noch deutlich höher ausfallen, als das bisher geäußert wurde. Denn dann müsste eine Gesellschaft wie die deutsche tatsächlich die Wohlstandsfrage stellen, also über die Konfliktlage...

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